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PhiP im HV

Selbstmedikation im Alter

Was ist bei der pharmazeutischen Beratung von Senioren wichtig? Der zwölfte Teil der Campusserie »PhiP im HV« informiert über verschiedene altersrelevante Aspekte.
Juliane Brüggen
19.11.2021  16:30 Uhr

Mit steigendem Alter verändert sich der Körper physiologisch: Der Anteil des Körperwassers und die Muskelmasse nehmen ab, während der Körperfettanteil steigt. Die Organfunktionen lassen nach, zum Beispiel Leber- und Nierenfunktion. In der Geriatrie spricht man von den vier »I« – klassischen, altersbedingten Symptomkomplexen, die meist mehrere Ursachen haben:

  • Instabilität,
  • Immobilität,
  • Inkontinenz und
  • intellektueller Abbau.

Außerdem werden Immundefekte, Impotenz, Isolation, Delir, Malnutrition und Frailty (Gebrechlichkeit) als geriatrische Syndrome beschrieben. Typische Erkrankungen des Alters betreffen das Herz-Kreislauf-System, Gelenke und Knochen sowie das Nervensystem und die Psyche. Das Risiko für eine Krebserkrankung steigt mit dem Alter, ebenso das Infektionsrisiko. Multimorbidität – also das Vorliegen mehrerer chronischer Erkrankungen– tritt mit steigendem Lebensalter häufiger auf.

Problem Polymedikation

Je älter Menschen werden, desto mehr Medikamente nehmen sie tendenziell ein. So gingen im Jahr 2018 in Deutschland fast die Hälfte aller Arzneimittelverordnungen an Menschen, die 65 Jahre oder älter waren. Von Poly- oder Multimedikation spricht man in der Regel, wenn eine Person fünf oder mehr Arzneimittel gleichzeitig erhält. Auch nicht verschreibungspflichtige Präparate gehören dazu. Polymedikation erhöht das Risiko für unerwünschte Arzneimittelwirkungen und Verschreibungskaskaden. Liegt ein Medikationsplan vor, empfiehlt es sich, die in der Selbstmedikation eingesetzten Präparate zu ergänzen.

Potenziell inadäquate Medikation

In der PRISCUS-Liste (www.priscus2-0.de) sind Arzneistoffe aufgeführt, die potenziell für ältere Menschen ungeeignet sind. Dazu gehören zum Beispiel solche, die das Sturzrisiko erhöhen. Die Liste enthält außerdem Informationen zu Therapiealternativen oder empfohlenen Maßnahmen, wenn ein Arzneistoff trotzdem verwendet werden soll. Die PRISCUS-Liste wurde im Jahr 2010 erstellt.

Die FORTA-Liste ist eine Positiv-Negativ-Liste. Es gibt vier Kategorien: A = unverzichtbar, B = vorteilhaft, C = fragwürdig und D = vermeiden. Die Liste wurde 2018 aktualisiert und steht mittlerweile auch als App zur Verfügung.

Beratungsgrundsätze bei Senioren

Bei der Abgabe eines Präparats in der Selbstmedikation sollte pharmazeutisches Personal einige Aspekte bedenken. So zum Beispiel:

  • Gibt es eine Indikation für das Medikament? Je nach Art der Beschwerden sollte zunächst geprüft werden, ob eine Selbstmedikation infrage kommt oder ein Arztbesuch erforderlich ist.
  • Welche Medikamente nimmt der Patient ein? Hier gilt es, mögliche Interaktionen zu beachten.
  • Liegen Grunderkrankungen vor? Hier gilt es, mögliche Kontraindikationen zu beachten. 
  • Ist die Medikation altersgerecht? Potenziell inadäquate Medikation (PIM) ist möglichst zu meiden.
  • Ist die Dauer der Einnahme geklärt? Die Selbstmedikation ist meist zeitlich begrenzt.
  • Stimmt die Dosierung? Vorsicht bei eingeschränkter Nieren- und Leberfunktion.
  • Ist die Anwendung für den Patienten praktikabel? Möglicherweise sind Umstände wie Schluckbeschwerden oder eine eingeschränkte Beweglichkeit der Finger zu berücksichtigen.

Schwindel im Alter

Schwindel kann bei älteren Menschen auf degenerative Prozesse wie die nachlassende Leistung der Gleichgewichtsorgane und eine langsamere Reizverarbeitung zurückgehen. Hinzu kommen schlechteres Sehen, nachlassende Muskelkraft oder Mikrozirkulationsstörungen. Auch Dehydrierung oder Medikamente wie Sedativa oder Antihypertonika können verantwortlich sein.

Ist es nicht möglich, die Ursachen des Schwindels zu beheben, können ein spezielles Gleichgewichtstraining und die symptomatische Therapie helfen. Im Bereich der Selbstmedikation stehen beispielsweise Ginkgo-Extrakt (bei Schwindel aufgrund von Durchblutungsstörungen) und Dimenhydrinat zur Verfügung. Letzteres ist in den PIM-Listen aber nicht empfohlen und somit mit Vorsicht einzusetzen. Handelt es sich um eine Kreislaufschwäche, können Antihypotonika wie die Kombination aus Campher und Weißdorn probiert werden.

Schlafstörungen im Alter

Mit dem Alter verändert sich der Schlaf. Dabei ist nicht unbedingt die Schlafdauer verkürzt, vielmehr wird der Schlaf häufiger durch Wachphasen unterbrochen und wird leichter, da sich Tiefschlafphasen verkürzen. Einige Veränderungen sind also alterstypisch und nicht krankhaft, was im Beratungsgespräch erklärt werden kann.

Relevant ist außerdem die »Schlafhygiene«. Nickerchen sollten beispielsweise gestrichen oder auf maximal 15 Minuten begrenzt werden. Selbstmedikation ist nur empfehlenswert, wenn die Schlafdauer mindestens sechs Stunden beträgt und die Beschwerden nicht dauerhaft bestehen. Die sedierenden H1-Antihistaminika Diphenhydramin und Doxylamin bergen bei älteren Menschen ein Risiko für dosisabhängige Nebenwirkungen. Die Arzneistoffe sind ZNS-gängig und haben anticholinerge Effekte. Dadurch ist ein erhöhtes Risiko für Gleichgewichtsstörungen, Stürze, Verwirrtheitszustände oder kognitive Störungen möglich. Falls sie bei Patienten ab 65 Jahren eingesetzt werden, ist auf eine niedrige Dosis und eine kurze Anwendungsdauer unter zwei Wochen zu achten. In den PIM-Listen wird ihr Einsatz kritisch beurteilt. Pflanzliche Alternativen sind Baldrian, Hopfen, Lavendel oder Passionsblume. Hier ist auf den allmählichen Wirkeintritt zu verweisen.

Gedächtnisstörungen im Alter

Demenz ist eine typische Alterskrankheit. Präventiv empfehlen Fachgesellschaften rege geistige Aktivität, regelmäßige körperliche Bewegung, ausgewogene Ernährung, ein aktives soziales Leben und die Senkung der vaskulären Risikofaktoren Hypertonie, Diabetes mellitus, Hyperlipidämie, Adipositas und Nikotinabusus. Die regelmäßige Einnahme von Ginkgo-Extrakt kann sich bei leichten kognitiven Beeinträchtigungen positiv auswirken und die Lebensqualität bei leichter Demenz verbessern. Ein präventiver Effekt von Ginkgo ist nicht belegt.

Arthrose

Arthrose ist eine degenerative Gelenkerkrankung. Häufig sind Knie oder Hüfte betroffen. Zur Basistherapie gehört schonende Bewegung wie Spazierengehen oder Wassergymnastik. Bandagen und Einlagen können das erkrankte Gelenk entlasten. Um die Schmerzen zu behandeln, kommen (ärztlich verordnet) oft nicht steroidale Antirheumatika (NSAR) oder selektive COX-2-Hemmer zum Einsatz. Bei leichten Schmerzen ist die lokale Anwendung von NSAR zu bevorzugen. Als pflanzliche Optionen stehen topische Zubereitungen mit Beinwell oder Teufelskrallenwurzel-Extrakt zur oralen Einnahme zur Verfügung. Die Studienlage zu SYSADOA (symptomatic slow acting drugs in osteoarthritis) wie Glucosamin und Chondroitinsulfat ist widersprüchlich. Mögliche Effekte wie eine bessere Belastbarkeit sind erst nach mehreren Wochen der Einnahme zu erwarten.

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