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Neue Arzneistoffe

Das Jahr der Orphan Drugs

Im Jahr 2019 sind 28 neue Arzneistoffe auf den Markt gekommen. Vor allem unter den Sprunginnovationen finden sich mehrere Orphan Drugs. PZ-Chefredakteur Sven Siebenand stellte bei pharmacon@home die Highlights vor.
Brigitte M. Gensthaler
Kerstin A. Gräfe
09.06.2020  18:08 Uhr

Acht Sprung- und zehn Schrittinnovationen sowie zehn Analogpräparate: Das ist die Bilanz des Jahres 2019 in puncto neuer Arzneistoffe in Deutschland. Zum Auftakt präsentierte Siebenand ein kleines Molekül: Larotrectinib (Vitrakvi®). »Dieser Kinase-Hemmer ist das erste Krebsmedikament mit einer gewebeunabhängigen Zulassung. Nur die molekulargenetischen Eigenschaften des Tumors entscheiden über den Einsatz.« 

Larotrectinib ist ein oral bioverfügbarer, selektiver Hemmer von neurotrophen Tropomyosin-Rezeptorkinasen (NTRK). Die TRK-Proteine haben viele physiologische Aufgaben, allerdings können durch NTRK-Genfusionen überall im Körper Onkogene entstehen. »Man kennt mehr als 30 vor allem seltene Tumorarten mit solchen Genfusionen«, informierte der Apotheker. Der TRK-Inhibitor stoppt die Signalwege und damit die Zellproliferation. In der zulassungsrelevanten Studie sprachen fast 80 Prozent der therapierefraktären Patienten darauf an; die mediane Ansprechdauer lag bei 35 Monaten. Das Medikament ist auch für Kinder zugelassen. Vitrakvi werde vermutlich bald Konkurrenz bekommen, berichtete Siebenand. Entrectinib (Rozlytrek®) soll zur Behandlung von Patienten mit soliden Tumoren mit NTRK-Fusionen eingesetzt werden. 

Antidot gegen NOAK

Andexanet alfa (Ondexxya®) ist das zweite spezifische Antidot gegen neue orale Antikoagulanzien (NOAK). Es ist ein leicht modifiziertes Faktor-Xa-Molekül, das keine enzymatische Aktivität hat, aber Faktor-Xa-Hemmer wie Rivaroxaban und Apixaban ködert. Damit kommt die Gerinnungskaskade wieder in Gang und lebensbedrohliche unkontrollierbare Blutungen sistieren. Der Arzneistoff darf – mangels Daten – nicht bei Blutungen unter Edoxaban eingesetzt werden, obwohl er vermutlich wirksam wäre. Das erste spezifische Antidot gegen ein NOAK war übrigens 2016 Idarucizumab (Praxbind®), das Dabigatran abfangen kann. 

Zu den Orphan Drugs zählt Volanesorsen (Waylivra®), das für Patienten mit familiärem Chylomikronämie-Syndrom zugelassen ist. Die seltene Erkrankung beruht auf einer genetisch bedingten Funktionsstörung der Lipoproteinlipase (LPL), wodurch Chylomikronen nicht mehr abgebaut werden. Daraus resultiert ein lipämisches Blutserum und Triglyceridwerte, die 10- bis 100-fach über dem Normalwert liegen können. Das Antisense-Oligonukleotid stoppt die Bildung von Apolipoprotein-C-III und eröffnet damit einen LPL-unabhängigen Weg des Chylomikronen-Abbaus. »Das ist keine Gentherapie«, betonte Siebenand. Das Medikament müsse dauerhaft injiziert werden, wobei die Intervalle allmählich verlängert werden können. Trotz Medikation muss sich der Patient strikt fettarm ernähren. 

Mesenchymale Stromazellen

Siebenand schloss die Sprunginnovationen mit mesenchymalen Stromazellen (Obnitix®) ab. Diese werden bei steroidrefraktärer, akuter Graft-versus-Host-Erkrankung (GvHD) nach Stammzelltransplantation eingesetzt.  »Obnitix hat keine richtige Zulassung, sondern kam per Ausnahmeregelung des Paul-Ehrlich-Instituts auf den Markt.« In die Fallserie wurden etwa 70 Patienten mit hohem Sterberisiko eingeschlossen, von denen etwa 70 Prozent ein Jahr oder mehr überlebten – ein Spitzenwert bei so schwerer Erkrankung.

2019 gab es weitere mesenchymale Stromazellen: Darvadstrocel (Alofisel®) ist zugelassen zur Behandlung von perianalen Fisteln bei Patienten mit Morbus Crohn. Die resuspendierten Zellen werden unter Vollnarkose in das Fistelgewebe injiziert, um diese zum Verschließen zu bringen.

Antikörper zur Migräneprophylaxe

Auch von den Analogpräparaten gibt es Spannendes zu berichten: Siebenand stellte die Antikörper Fremanezumab (Ajovy®) und Galcanezumab (Emgality®) vor. Beide sind zur Migräneprophylaxe zugelassen und adressieren das CGRP (Calcitonin Gene-related Peptide)-Protein. »CGRP ist maßgeblich an der Entstehung und Pathogenese der Migräne beteiligt«, erklärte der Referent.

Fremanezumab und Galcanezumab binden selektiv an CGRP und verhindern dessen Bindung an seinen Rezeptor. »Hingegen bindet der erste Vertreter dieser Wirkstoffklasse, Erenumab, an den Rezeptor selbst«, informierte der Apotheker. Welches Wirkprinzip überlegen ist, könne noch nicht abgeschätzt werden, da es bislang keine Vergleichsstudien gebe.

Ajovy und Emgality senken signifikant die Anzahl der Migräne-Attacken. »Sie sind im indirekten Vergleich aber nicht wirksamer als andere Migräne-Prophylaktika wie Metoprolol und Propranolol«, konstatierte Siebenand. Die Stärke der neuen Antikörper liege vielmehr in einer deutlich besseren Verträglichkeit und demzufolge Adhärenz.

Galcanezumab sei in den USA auch zur Senkung der Häufigkeit von episodischen Clusterkopfschmerzen zugelassen. Auch bei der Europäischen Arzneimittelbehörde EMA sei eine entsprechende Indikationserweiterung beantragt. Diese sei aber vorerst abgelehnt worden, da die EMA in der vom Hersteller eingereichten Studie keinen eindeutigen Wirksamkeitsbeleg sah. »Das bedeutet aber nicht, dass der Wirkstoff hierzulande in dieser Indikation nicht auf den Markt kommt«, sagte Siebenand. Es sei lediglich mit einer Verzögerung zu rechnen.

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