Wie sicher ist der russische Covid-19-Impfstoff? |
Theo Dingermann |
12.04.2021 11:10 Uhr |
Sputnik V besteht im Prinzip aus zwei verschiedenen Vektorimpfstoffen, die für die Grundimmunisierung kombiniert werden. / Foto: Imago Images/ZUMA Wire
Der Name »Sputnik V« wurde nicht zufällig gewählt. Das Ergebnis dieses russischen Prestige-Projekts erinnert bewusst an den Wettlauf der Russen mit den Amerikanern in der Weltraumtechnologie in den 1950er-Jahren. Damals wie heute war man in Russland schneller als die amerikanische Konkurrenz. Allerdings spielte man dieses Mal nicht ganz fair. Denn als Russland bereits Mitte August 2020 den Sputnik-V-Impfstoff als weltweit ersten Corona-Impfstoff für eine breite Anwendung in der Bevölkerung freigab, hatte man mit der so wichtigen Phase-III-Studie zur Überprüfung der Wirksamkeit und Verträglichkeit nicht einmal begonnen.
Ob das ein kluger Schachzug war, bleibt abzuwarten. Zumindest für den Moment überwiegt die wissenschaftliche Kritik an diesem Impfstoff. Nur zögerlich versucht der Hersteller, diese Kritik zu entkräften. Aber nach wie vor fehlen etliche schlüssige Daten, sodass eine Bewertung nach wissenschaftlichen Kriterien kaum möglich ist. Unabhängig davon stellt sich die Frage, ob sich Impfstoffe im Kampf gegen die Pandemie tatsächlich für einen Wettlauf der Systeme eignen. Und ob der vermeintliche Sieger dieses Wettlaufs auch der tatsächliche Gewinner ist, muss sich erst noch zeigen.
Man hatte in Russland nicht darauf gewartet, dass die Weltgesundheitsorganisation Anfang März 2020 das durch SARS-CoV-2 verursachte Infektionsgeschehen zur Pandemie erklärte. Stattdessen arbeitete man im Nationalen Zentrum für Epidemiologie und Mikrobiologie Gamaleya in Moskau bereits kurz nach Entdeckung des neuen Coronavirus’ an einem Prototyp des Impfstoffs. Finanziert wurde das Projekt durch den »Russian Direct Investment Fund (RDIF)«, den russischen Staatsfonds.
Von Beginn an habe man auf eine zweistufige Impfung mit zwei unterschiedlichen viralen Vektoren gesetzt, berichtete der stellvertretende Direktor des Zentrums für wissenschaftliche Arbeit des Gamaleya-Zentrums, Denis Logunov, bereits Ende Juli in einem Interview gegenüber dem Internetportal »Meduza«, worüber auch die PZ berichtete. Der Grund hierfür seien Erfahrungen mit Vektorimpfstoffen gegen das MERS-Coronavirus und das Ebolavirus, die gezeigt hätten, dass eine einmalige Impfung in manchen Bevölkerungsgruppen für einen Immunschutz nicht ausreiche.
Der Impfstoff basiert auf der Vektortechnologie, ähnlich wie die Impfstoffe von Astra-Zeneca und Johnson & Johnson (Janssen). Und dennoch gibt es zu den beiden in Großbritannien und USA entwickelten Impfstoffen signifikante Unterschiede: Als Vektoren, die nur die Aufgabe haben, die Information für das als Antigen genutzte Spike-Protein in Körperzellen einzuschleusen, verwendeten die Universität Oxford und Astra-Zeneca für ihren Impfstoff Vaxzevria® ein Schimpansen-Adenovirus (ChAdOx1). Sowohl Janssen mit seiner Vakzine Ad26.COV.S als auch die Gamaleya-Forscher benutzten dagegen humanspezifische, inaktivierte Adenoviren, harmlose Erkältungsviren, für die ein breiter Erfahrungsschatz vorliegt.
Das Besondere am Sputnik-V-Impfstoff besteht darin, dass zwei verschiedene humane Adenoviren verwendet werden: ein Adenovirus für die Erstimpfung (rAd26: menschliches Adenovirus Typ 26, welches auch Janssen verwendet), aber ein anderes für die Zweitimpfung (rAd5: menschliches Adenovirus Typ 5). Damit umgeht der Sputnik-V-Impfstoff ein Problem, über das nicht gerne gesprochen wird und das daher kaum bekannt ist.
Es ist nämlich gut belegt, dass durch eine bereits bestehende Immunität gegen das Vektorvirus eine erneute Immunisierung im Rahmen einer Boost-Impfung neutralisiert werden kann. Das liegt daran, dass nicht nur eine Immunantwort gegen das Antigen induziert wird, dessen genetische Information der Vektor in die Zelle einschleust. Es werden darüber hinaus auch Antikörper und T-Zellen gegen die adenoviralen Proteine, also gegen Strukturen des Vektors produziert. So besteht die Gefahr, dass es bei einer weiteren Anwendung zu einem vorzeitigen Abbau des Impfstoffs oder zu einer überschießenden Immunreaktion dagegen kommen kann. Damit könnte die zweite Dosis nicht den gewünschten Booster-Effekt auslösen.
Durch Verwendung zweier verschiedener Vektoren für die Erst- und für die Zeitimpfung umgeht man dieses Problem. Tatsächlich gilt das Wirkprinzip für eine Kombination zweier verschiedener Impfstoffe im Rahmen einer Grundimmunisierung als relativ sicher und plausibel, aber zugelassene Vektorimpfstoffe gibt es bisher noch wenige.
Gegen Ebola sind es inzwischen zwei: Im April erhielt ein von Janssen entwickeltes Impfregime, bestehend aus den zwei Einzeldosen Zabdeno® (rAd26) und Mvabea®(MVA), die EU-Zulassung. Zabdeno basiert auf demselben Vektor wie jetzt Janssens Covid-19-Impfstoff, MVA steht für ein modifiziertes Vaccinia-Ankara-Virus, ein abgeschwächtes Kuhpockenvirus. Seit Ende 2019 ist zudem Ervebo® von MSD zugelassen. Dieser Ebola-Impfstoff basiert auf dem vesikulären Stomatitis-Virus (VSV), das normalerweise Geschwüre an Maul und Euter von Huftieren auslöst. Hier wurde das Glykoprotein G von VSV gegen das Ebola-Glykoprotein ausgetauscht.
Der Ansatz, den die Gamaleya-Forscher wählten, ist also klug und gut begründet. Das kann sich am Ende bei der Wirksamkeit des Impfstoffs auszahlen. Die Schutzwerte der Vektorimpfstoffe von Janssen und Astra-Zeneca liegen teils deutlich hinter den Werten den beiden mRNA-Impfstoffe von Biotech/Pfizer (Comirnaty®) und Moderna (mRNA-1273) zurück, die mit knapp 95 Prozent angegeben werden.
Die neuesten Daten für Astra-Zenecas Vaxzevria® werden mit 76 Prozent angegeben. Aus der Phase-III-Studie zum Janssen-Impfstoff (Ad26. COV2) lässt sich ein 66-prozentiger Schutz vor mittleren oder schweren Covid-19-Krankheitsverläufen ableiten. Das bietet Luft nach oben.
Im September 2020 wurden Ablauf und Ergebnisse der Phase-I/II-Studien für den Sputnik-V-Impfstoff im britischen Fachmagazin »The Lancet« veröffentlicht. In die zwei Studien (NCT04436471 und NCT04437875) zur Sicherheit, Verträglichkeit und Immunogenität waren jeweils 38 Probanden eingeschlossen. Aus beiden Studien leiteten die Wissenschaftler ab, dass das Impfregime eine starke Immunantwort induziert. Kein Teilnehmer zeigte schwere Nebenwirkungen.
Am 24. November 2020 meldeten russische Wissenschaftler dann in einer Pressemitteilung positive Ergebnisse aus einer Zwischenanalyse der laufenden Phase-III-Studie. Bis zu diesem Zeitpunkt waren mehr als 18.000 Probanden mit jeweils zwei Dosen des Impfstoffs im Abstand von drei Wochen geimpft worden. Demnach zeige das Impfregime eine 91,4-prozentige Wirksamkeit vier Wochen nach der ersten Dosis.
Diese Daten wurden am 2. Februar 2021 ebenfalls in »The Lancet« veröffentlicht. In dieser Veröffentlichung wurde die Wirksamkeit des Impfregimes leicht korrigiert auf 91,6 Prozent Wirksamkeit.
Von 19.866 für die Auswertung eingeschlossenen Probanden war in der Placebogruppe bei 62 von 4902 Probanden (1,3 Prozent) eine SARS-CoV-2-Infektion ab Tag 21 nach der ersten Impfstoffdosis (der primäre Endpunkt) diagnostiziert worden. In der Verumgruppe infizierten sich dagegen 16 von 14.964 Probanden in (0,1 Prozent).
Drei Todesfälle waren in der Impfstoffgruppe bei Personen mit umfangreichen Komorbiditäten aufgetreten. Allerdings wurde für diese Fälle kein Zusammenhang mit der Impfung gesehen. Es wurden auch keine schwerwiegenden unerwünschten Ereignisse im Zusammenhang mit der Impfung registriert. Hingegen berichten die Wissenschaftler von schwerwiegenden unerwünschten Ereignissen, die nicht auf die Impfung zurückgeführt werden konnten. Bei 45 Probanden aus der Impfstoffgruppe und 23 Probanden aus der Placebogruppe waren solche Ereignisse aufgetreten.
Diese Ergebnisse wurden mit Argwohn betrachtet. Einigen Wissenschaftlern waren Merkwürdigkeiten in der Publikation aufgefallen. Hinsichtlich der Phase-I/II-Studie machten Professor Dr. Enrico Bucci, Systembiologe und Bioethiker an der Temple University, und andere Unterzeichner eines offenen Briefes in »The Lancet« bereits im September 2020 auf mögliche Datenmanipulationen aufmerksam.
Ihnen waren beispielsweise »Datenmuster« aufgefallen, die in der Publikation wiederholt auftraten. Um diese Koinzidenzen überzeugend bewerten zu können, müssten auch Daten jenseits von 28 Tagen für jeden einzelnen Probanden zugänglich sein, so die Kritiker. Ferner wurde bemängelt, dass die Charakteristika der rekonvaleszenten Patienten, die als Kontrolle für die Auswertung der humoralen Antwort verwendet wurden, nicht ausreichend spezifiziert seien.
Auch die am 2. Februar 2021 in »The Lancet« veröffentlichte Phase-III-Studie wurde kritisiert. Eine abschließende Bewertung, so die Kritiker könne auch hier erst vorgenommen werden, wenn ein Abgleich mit den Primärdaten möglich sei.
Ganz aktuell machten Meldungen Schlagzeilen, dass man den Daten – besonders auch Daten zur Qualität – zum Sputnik-V-Impfstoff nicht trauen könne. So vermeldete die slowakische Arzneimittelagentur SUKL am 1. April 2021, dass eine Lieferung an Impfdosen nicht dem Inhalt entspreche, der von der EMA und der Medizin-Zeitschrift »The Lancet« analysiert worden sei. Das EU-Land hatte 200.000 Dosen bestellt und erhalten, aber noch nicht eingesetzt.
Trotz aller Unklarheiten gibt es auch einige deutsche Politiker beziehungsweise Bundesländer wie Bayerns Ministerpräsident Markus Söder (CSU), die nun den russischen Impfstoff im Alleingang bestellen wollen – und auch Bundesgesundheitsminister Jens Spahn (CDU) hatte vergangene Woche angekündigt, mit Russland bilateral verhandeln zu wollen.
Das sind schwere Vorwürfe, die vor voreiligen Überlegungen zum Einsatz des Impfstoffs warnen sollten. Genau um derartige Unklarheiten muss sich nun die Europäische Arzneimittelagentur (EMA) in Amsterdam kümmern. Am 4. März hatte sie mit der Prüfung für eine EU-weite Zulassung im sogenannten Rolling-Review-Verfahren begonnen. Sie braucht für eine Zulassungsempfehlung einen vollständigen transparenten Datensatz.
Wie zu hören ist, hat die EMA derzeit noch erhebliche Bedenken, ob die bisher bekannten und aus Russland bereitgestellten Informationen über den Impfstoff und seine Wirksamkeit seriös sind. Dem Wunsch der EMA, sich in Russland selbst Informationen zu beschaffen, begegnet Moskau nur zögerlich.
Immerhin werden im April Experten der EMA in Russland zur Begutachtung der Produktion und Lagerung des Impfstoffs erwartet. Erst wenn die EMA erste Ergebnisse wissenschaftlicher und klinischer Tests ausgewertet hat, kann das eigentliche Zulassungsverfahren beginnen. Ungeachtet dessen hat Russland der EU bereits die Lieferung von 50 Millionen Impfdosen ab Juni in Aussicht gestellt. Nach russischen Angaben ist Sputnik V weltweit derzeit in 59 Ländern zugelassen.
Zwar steht eine endgültige Bewertung noch aus. Aber von einer generellen Ablehnung kann keine Rede sein.
So äußerte sich Professor Dr. Christine Falk, Präsidentin der deutschen Gesellschaft für Immunologie, gegenüber der Tageszeitung »Die Welt«: Das Konzept hinter dem Sputnik V-Impfstoff sei zwar eine »eigentlich geniale Idee«. Aber sie habe noch »viele Fragen« bei Sputnik V. »Die Studiendaten sind nicht optimal präsentiert.«
Auch Professor Dr. Fred Zepp, ehemaliger Direktor des Zentrums für Kinder- und Jugendmedizin an der Universität Mainz und Mitglied der Ständigen Impfkommission (STIKO) betont: »Grundsätzlich sehe ich den russischen Impfstoff derzeit noch kritisch. Bislang kennen wir nur Zwischenergebnisse und noch keinen Bericht über die abgeschlossene Studie.«
Schließlich bewertet auch der STIKO-Vorsitzende Professor Dr. Thomas Mertens den russischen Impfstoff als prinzipiell vielversprechend. Zugleich mahnte er mit Blick auf den Einsatz Geduld an. Sehr viele Detaildaten müssten durch die Zulassungsbehörde noch geprüft werden.
Das Virus SARS-CoV-2 hat unsere Welt verändert. Seit Ende 2019 verbreitet sich der Erreger von Covid-19 und stellt die Wissenschaft vor enorme Herausforderungen. Sie hat sie angenommen und rasch Tests und Impfungen, auch für Kinder, entwickelt. Eine Übersicht über unsere Berichterstattung finden Sie auf der Themenseite Coronavirus.