Pharmazeutische Zeitung online
Häufige Arzneistoffe

Steckbrief Tilidin

Tilidin ist nicht nur das am häufigsten in Deutschland verordnete Opioid. Es macht zunehmend Schlagzeilen, weil es in den vergangenen Jahren immer wieder von Deutschrappern heroisiert wurde.
Daniela Hüttemann
23.11.2020  13:30 Uhr

Was ist das Einsatzgebiet von Tilidin?

Tilidin (Valoron® und Generika) gehört neben Codein, Dihydrocodein und Tramadol zu den schwach wirksamen Opioiden. Die Wirkstärke entspricht etwa einem Fünftel der von Morphin. Die Wirkdauer hält etwa 3,5 Stunden an. Tilidin gilt als gut wirksam bei ausgeprägten Schmerzzuständen, sollte aber erst gegeben werden, wenn nicht opioide Analgetika nicht ausreichend wirksam waren. Es ist angezeigt bei Schmerzen nach Operationen einschließlich Zahn- und Kieferchirurgie, wird aber auch bei Verletzungen, Verätzungen und Verbrennungen eingesetzt, bei Schmerzen in der Brust wie beim einem Herzinfarkt oder Angina pectoris, bei akuten und chronischen Schmerzen bei Knochen- und Gelenkerkrankungen, Tumorschmerzen, krampfartigen Schmerzen im Bauch und Unterleib wie Gallenkoliken, bei Neuralgien sowie schmerzhaften Entzündungen.

Wie wirkt die Wirkstoffkombination Tilidin/Naloxon?

Tilidins wirksamer Metabolit (+)-Nortilidin bindet wohl vor allem an Opioid-Rezeptoren im zentralen Nervensystem, die eine Rolle bei der Regulierung der Schmerzfortleitung und der Freisetzung bestimmter Hypophysenhormone spielen. Es wirkt dort als Agonist. Um Missbrauch vorzubeugen, wird Tilidin nur gemeinsam mit Naloxon verarbeitet. Naloxon ist ein Opioid-Rezeptorantagonist, der zentral und peripher wirkt. Nach oraler Gabe wird Naloxon durch den First-Pass-Effekt in der Leber schnell inaktiviert, während Tilidin als Prodrug in seine Wirkform Nortilidin umgewandelt wird und die gewünschte analgetische Wirksamkeit entfaltet. Werden Naloxon-haltige Präparate jedoch parenteral verabreicht, setzt die antagonisierende Wirkung des Naloxons ein.

Betäubungsmittelpflichtig oder nicht?

Die fixe Kombination aus Tilidin und Naloxon ist als Lösung oder Retardtabletten erhältlich. Während flüssige und damit schnell verstoffwechselte Tilidin-Präparate bereits 2013 als Betäubungsmittel (BtM) eingestuft wurden, fallen die Retardtabletten bislang nicht unter das BtM-Gesetz. Pro Tablette dürfen maximal 300 mg Tilidin, berechnet als Base, enthalten sein. Für die BtM-Präparate gelten unterschiedliche Verschreibungshöchstmengen: Human- und Tierärzte dürfen maximal 18,0 Gramm innerhalb von 30 Tagen verordnen; Zahnärzte nur 4,5 Gramm innerhalb von 30 Tagen.

Wie wird Tilidin/Naloxon dosiert?

Das Mischungsverhältnis zwischen Tilidin und Naloxon beträgt 50:4, damit Naloxon die analgetische Wirkung von Tilidin nicht beeinträchtigt. Erwachsene und Kinder erhalten je nach Arzneiform bis zu sechsmal täglich 50 bis 100 mg Tilidinhydrochlorid, die Tageshöchstdosis beträgt 600 mg. Für das Alter 3 bis 14 zählt die Dosis bis zu viermal täglich 2,5 mg pro Lebensjahr. Grundsätzlich sollte die kleinste analgetisch wirksame Dosis gewählt werden. Bei chronischen Schmerzen sollte ein fester Einnahmezeitplan vorliegen.

Welche Nebenwirkungen kann Tilidin haben?

Wie andere Opioide auch wird Tilidin wegen seines analgetischen Effekts eingesetzt, wirkt aber auch atemdepressiv, kann Übelkeit hervorrufen und zu Verstopfung führen. Als unerwünschte Wirkungen treten mitunter auch Benommenheit und Schwindel auf. Nach wiederholter Gabe besteht die Gefahr der Entwicklung einer Abhängigkeit, auch unter therapeutischen Dosen.

Tilidin soll aber auch angstfrei machen, die Risikobereitschaft steigern, euphorisieren und enthemmen, daher kann es die Gewaltbereitschaft steigern. Andererseits wirkt es betäubend und packt den Nutzer gewissermaßen in Watte – er fühlt sich geborgen und alles andere ist egal. Außerdem sind Halluzinationen möglich. Diese Effekte erklären das Missbrauchspotenzial.

Welche Wechselwirkungen mit Tilidin/Naloxon sind möglich?

Das Prodrug Tilidin wird in der Leber durch CYP3A4 und CYP2C19 in seinen aktiven Metaboliten umgewandelt. Interaktionen mit anderen Arzneistoffen, die über diese beiden CYP-Enzyme metabolisiert werden, sind möglich. Gefahr besteht vor allem in Kombination mit sedierenden Mitteln wie Benzodiazepinen, Alkohol sowie anderen Opioiden und MAO-Hemmern. Es kann zu Atemdepression bis hin zu Koma und Tod kommen. Laut Gebrauchsinformation ist eine gleichzeitige Verordnung eines Sedativums nur angebracht, wenn keine alternative Behandlungsmöglichkeit zur Verfügung steht. Dann sollte die niedrigst mögliche Dosis zum Einsatz kommen und der Patient engmaschig auf Anzeichen einer Atemdepression und Sedierung überwacht werden. Cave heißt es auch in Kombination mit serotonergen Wirkstoffen, da ein Serotonin-Syndrom auftreten kann, auch bei Gabe der empfohlenen Dosen der einzelnen Arzneistoffe.

Seit wann gibt es Tilidin?

Das synthetische Opioid Tilidin wurde das erstmals 1967 vom deutschen Pharmaunternehmen Gödecke (mittlerweile in Pfizer aufgegangen) hergestellt. Es kam 1970 unter dem Namen Valoron als Monosubstanz erstmals in Westdeutschland auf den Markt. Damals wurde das Abhängigkeits- und Missbrauchspotenzial als sehr gering beworben, was sich als falsch herausstellte. 1978 wurde es unter das BtM-Gesetz gestellt.

Was gibt es noch zu Tildin zu wissen?

Im Sommer 2019 meldete das Reportage-Magazin »STRG_F« des NDR, die Tilidin-Verordnungen bei den 15- bis 20-Jährigen seien innerhalb von zwei Jahren um den Faktor 30 gestiegen – von rund 100.000 definierten Tagesdosen auf drei Millionen. Diese Zahlen wurden von anderen Quellen bislang nicht bestätigt. Suchtmediziner und Drogenberatungen bestätigen aber einen grundsätzlichen Trend. Vor allem in der Deutschrap-Szene wurde Tilidin in den vergangenen Jahren mehrfach besungen, zum Beispiel von Rapper Capital Bra, der sich offen zu seiner Sucht bekennt und mittlerweile vor dem Opioid warnt.

Mehr von Avoxa