Der ganze Körper ist betroffen |
Blutdruckmessung bei einem Covid-19-Patienten in New York. Auch das Herz-Kreislauf-System sowie die Blutgerinnung können von SARS-CoV-2 beeinträchtigt sein. / Foto: Imago/ZUMA Wire
In Erscheinung trat der damals noch unbekannte Erreger, der mittlerweile den Namen SARS-CoV-2 trägt, erstmals im Dezember 2019 in Wuhan, der Hauptstadt der Provinz Hubei in China. Schnell wurde klar, dass der Auslöser der ungewöhnlich vielen schweren Lungenentzündungen ein Coronavirus war, das mit dem Erreger des Severe Acute Respiratory Syndrome (SARS) eng verwandt ist. Die Krankheit, die es verursacht, erhielt später den Namen Covid-19: Corona Virus Disease 2019.
Mittlerweile hat sich SARS-CoV-2 auf der ganzen Welt verbreitet und Ärzte, die Patienten mit Covid-19 behandeln, stellen fest, dass es sich mitnichten »nur« um ein Lungenvirus handelt. Die Berichte über Covid-19-Manifestationen in anderen Organen als der Lunge häufen sich. Ein klares Bild zu zeichnen, ist schwierig, denn viele Publikationen erscheinen, ohne die sonst übliche Kontrollschleife des Peer-Review-Prozesses durchlaufen zu haben. Welche der zahllosen Beobachtungen aus Fallserien mit zum Teil nur einer Handvoll Patienten, die jetzt in aller Eile öffentlich gemacht werden, am Ende tatsächlich Bestand haben werden, ist nicht abzusehen.
Auf der Nachrichtenseite des Fachjournals »Science« wagt ein Autorenteam um die Wissenschaftsjournalistin Meredith Wadman dennoch einen Blick auf das große Ganze (DOI: 10.1126/science.abc3208). Das Virus verhalte sich wie kein Pathogen jemals zuvor, schreibt die Gruppe. Es kristallisiere sich immer mehr heraus, dass die Lunge zwar »Ground Zero« sei, dass aber außerdem auch viele andere Organe von der Infektion beeinträchtigt würden, darunter Herz, Blutgefäße, Niere, Darm und Gehirn. »Die Krankheit kann nahezu alles im Körper angreifen mit verheerenden Konsequenzen«, so der Kardiologe Professor Dr. Harlan Krumholz von der Yale University gegenüber »Science«.
Erste Eintrittspforte für das Virus sind Zellen des Nasen- und Rachenraums, die den Rezeptor für das Angiotensin-konvertierende Enzym 2 (ACE2) tragen. Dieses ist als Gegenspieler von ACE im Renin-Angiotensin-Aldosteron-System an der Blutdruckregulation beteiligt und schützt vor Herz-Kreislauf-Erkrankungen. Über den ACE2-Rezeptor dringt SARS-CoV-2 in menschliche Zellen ein und programmiert diese dann so um, dass sie zunächst Tausende Kopien des Virus produzieren und dann zugrunde gehen (siehe Kasten).
Foto: PZ/Stephan Spitzer
PZ / Außer SARS-CoV-2 sind sechs humanpathogene Coronaviren (HCoV) bekannt: HCoV-229E, -NL63, -VOC43 und -HKU1, SARS-CoV-1 sowie MERS-CoV. Sie alle besitzen eine kugelförmige Struktur von 120 bis 160 nm Durchmesser und tragen auf ihrer Oberfläche etwa 20 nm große keulen- oder blütenblattförmige Oberflächenprojektionen, sogenannte Peplomere oder auch Spikes (S). Das Genom der Coronaviren ist eine 28 bis 32 Kilobasen große, positiv orientierte einzelsträngige RNA. Damit enthalten Coronaviren unter den RNA-Viren die größten Genome.
Die Viren infizieren menschliche Zellen über ihr S-Protein, das an Rezeptoren auf Wirtszellen bindet. Die verschiedenen HCoV nutzen dabei unterschiedliche Rezeptoren; SARS-CoV-1 und SARS-CoV-2 verwenden den ACE2-Rezeptor, einen Transmembranrezeptor, der auf Lungen-, Herz-, Nieren- und Magen-Darm-Gewebe exprimiert wird.
Nach der Rezeptorbindung gelangt das Virus, unterstützt durch eine säureabhängige proteolytische Spaltung des S-Proteins durch TMPRRS2, Cathepsin oder eine andere Protease, durch Fusion der viralen und zellulären Membranen ins Zytoplasma. Die Spaltung des S-Proteins erfolgt an zwei Stellen. Die erste ist wichtig für die Trennung der Rezeptorbindungsdomäne und der Fusionsdomäne des S-Proteins, die zweite für die Freilegung des Fusionspeptids. Die Membranfusion findet im Allgemeinen im sauren Millieu der Endosomen statt.
Darauf folgt die Translation des viralen Replikase-Gens (RNA-Polymerase), das aus zwei offenen Leserahmen besteht, die für zwei Polyproteine kodieren. Diese Polyproteine enthalten alle Nichtstrukturproteine (NSP) des Virus, also die Enzyme, die für die intrazelluläre Replikation wesentlich sind. Die Polyproteine werden durch Proteasen zu einzelnen NSP gespalten. Viele dieser NSP setzen sich dann zum Replikase-/Transkriptase-Komplex zusammen, der die virale RNA repliziert. Nach der Replikation werden die viralen Strukturproteine (SP) translatiert und in das endoplasmatische Retikulum eingefügt. Von dort wandern sie in den Golgi-Apparat, wo sie zu reifen Virionen zusammengebaut werden. /
Die Nase spielt bei der Infektion mit SARS-CoV-2 offenbar eine Schlüsselrolle. Wie ein Team um Dr. Waradon Sungnak vom Wellcome Sanger Institute in Hinxton herausfand und in »Nature Medicine« publizierte, kommen der ACE2-Rezeptor sowie die Protease TMPRSS2, die das Virus bevorzugt als Kofaktor für den Eintritt in menschliche Zellen nutzt, dort gehäuft vor (DOI: 10.1038/s41591-020-0868-6). »Wir haben gezeigt, dass von allen Zellen die schleimproduzierenden Becherzellen und Flimmerzellen in der Nase die höchsten Konzentrationen dieser beiden Proteine aufweisen«, sagte Sungnak der Nachrichtenagentur dpa.
Während das Virus im Nasen- und Rachenraum repliziert, spürt der Infizierte unter Umständen gar nichts. Auch ohne jegliche Symptome kann er andere Menschen mit SARS-CoV-2 infizieren, vor allem während der ersten paar Tage der Infektion. In einer weiteren Studie aus »Nature Medicine« begann die Infektiosität von Infizierten 2,3 Tage vor Auftreten der Symptome und erreichte 0,7 Tage vor den ersten Anzeichen der Krankheit ihren Höhepunkt (DOI: 10.1038/s41591-020-0869-5). Möglich sind in der Anfangsphase aber auch Fieber, trockener Husten, Halsschmerzen, Geruchs- oder Geschmacksverlust sowie Kopf- und Gliederschmerzen.
Bekommt das Immunsystem das Virus nicht in den Griff, wandert es hinunter in die Lunge. In den Lungenbläschen (Alveolen) kommen der ACE2-Rezeptor sowie TMPRSS2 ebenfalls vor. Einer Preprint-Studie im Fachjournal »Cell« zufolge exprimiert zwar nur ein kleiner Teil der die Lungenbläschen auskleidenden Endothelzellen beide Proteine (DOI: 10.1016/j.cell.2020.04.035). Deren Infektion reicht aber offenbar aus, um eine schwere Lungenentzündung auszulösen.
Hierbei spielen zwei Aspekte eine Rolle. Zum einen gehen die mit dem Coronavirus infizierten Zellen zugrunde, wenn sie neue Viruskopien produziert und freigesetzt haben. Zum anderen löst dies eine starke Immunantwort aus: Leukozyten setzen Chemokine frei und locken damit weitere Immunzellen an, die virusinfizierte Zellen abtöten. Das Resultat ist ein eitriges Sekret, das aus Flüssigkeit und toten Zellen besteht und das den Gasaustausch zwischen dem Blut und der Atemluft durch die Wände der Alveolen behindert.
Viele Covid-19-Patienten erholen sich auch davon wieder, nachdem sie lediglich zusätzlichen Sauerstoff erhalten haben. Etwa 5 Prozent müssen aber intensivmedizinisch versorgt werden, weil sie ein akutes Atemnotsyndrom (Acute Respiratory Distress Syndrome, ARDS) entwickeln. Die Sauerstoffsättigung des Bluts nimmt dabei oft sehr schnell dramatisch ab und die Patienten müssen schließlich beatmet werden.
IL-6-Antagonisten wie Tocilizumab und Sarilumab werden derzeit bei Covid-19 getestet. Sie sollen die überschießende Immunreaktion auf den Erreger dämpfen. / Foto: Superbild
Es gibt Hinweise darauf, dass es die Immunreaktion auf die Infektion ist, die dazu führt, dass sich der Zustand mancher Patienten rasch massiv verschlechtert. Teilweise kommt es zu einem sogenannten Zytokinsturm, bei dem in kürzester Zeit große Mengen der Entzündungsbotenstoffe freigesetzt werden. Deshalb laufen mehrere klinische Studien mit Immunmodulatoren wie den IL-6-Antagonisten Tocilizumab und Sarilumab oder dem Januskinase-Hemmer Ruxolitinib bei Covid-19-Patienten. Erste positive Ergebnisse mit Tocilizumab deuten darauf hin, dass dieser Ansatz funktioniert (»PNAS«, DOI: 10.1073/pnas.2005615117).
Allerdings sind nicht alle Experten der Ansicht, dass es eine gute Idee ist, das Immunsystem dieser kritisch kranken Patienten zusätzlich mit Medikamenten zu schwächen. »Anscheinend war man allgemein kurz entschlossen, Covid-19 mit diesen hyperinflammatorischen Zuständen zu assoziieren. Ich habe aber noch keine überzeugenden Daten gesehen, dass das tatsächlich der Fall ist«, sagte Professor Dr. Joseph Levitt von der Stanford University gegenüber »Science«. Es bestehe die Gefahr, dass man durch die Dämpfung des Immunsystems eine weitere Replikation des Virus ermögliche.
Eine besonders problematische Eigenschaft von SARS-CoV-2 ist, dass es den Respirationstrakt verlassen und auch andere Organsysteme befallen kann. Auf welche Weise das geschieht, ist momentan noch nicht geklärt. »Wie SARS-CoV-2 in verschiedene Organe außerhalb des Respirationstrakts kommt, kann aktuell nur spekuliert werden«, sagte Professor Dr. Holger Rabenau vom Institut für Medizinische Virologie des Universitätsklinikums Frankfurt am Main der PZ. Ungeklärt sei auch die Frage, welche Patienten von einer solchen Virusdissemination betroffen seien: nur schwer erkrankte (was zu vermuten sei) oder auch solche mit milden Symptomen beziehungsweise asymptomatische Patienten?
»Die Virusausbreitung auf Organe außerhalb des Respirationstrakts könnte entweder über eine kurze virämische Phase erfolgen, die sicherlich längst nicht bei allen Patienten auftritt, oder gegebenenfalls über den Gastrointestinaltrakt«, vermutet Rabenau. Dorthin kann der Erreger etwa über geschlucktes Sekret aus dem Nasen-Rachenraum gelangen. Da das Virus im Stuhl nachweisbar sei und gastrointestinale Störungen als klinisches Symptom beschrieben seien, sei eine Ausbreitung über das Darmlumen in andere Organbereiche denkbar, so Rabenau.
Durchfall nach einer Ägyptenreise: Wer denkt da schon an Corona? / Foto: Adobe Stock/x4wiz
Gastrointestinale Störungen können in der Tat vorkommen – und Ärzte und Patienten gleichermaßen verwirren. Im »American Journal of Gastroenterology« berichten Ärzte von einer 71-jährigen Frau aus Michigan, die von einer Nilkreuzfahrt in Ägypten mit Durchfall, Erbrechen und Bauchschmerzen zurückkehrte (DOI: 10.14309/ajg.0000000000000667). Die Ärzte vermuteten zunächst einen klassischen Fall von Reisediarrhö, doch eine intravenöse Therapie mit mehreren Antibiotika zeigte keinen Erfolg und auch die Tests auf diverse Durchfallerreger waren negativ. Erst als die Patientin zusätzlich Husten entwickelte und erfuhr, dass einer ihrer Mitreisenden sich mit SARS-CoV-2 infiziert hatte, wurde sie auf das Coronavirus getestet – positiv. Der Husten hatte bei der Frau erst neun Tage nach Beginn der gastrointestinalen Symptome eingesetzt.
Dass SARS-CoV-2 bei einer nennenswerten Anzahl von Patienten Übelkeit, Erbrechen und Durchfall verursacht, unterscheidet den Erreger von den eng verwandten Coronaviren SARS- und MERS-CoV (»Journal of Autoimmunity«, DOI: 10.1016/j.jaut.2020.102433). Über die Häufigkeit gastrointestinaler Symptome gibt es unterschiedliche Angaben. Das Robert-Koch-Institut (RKI) listet sie in seinem Erregersteckbrief ohne Häufigkeitsangabe unter »weitere Symptome«. In Studien reichte die Spanne von 11 bis 61 Prozent betroffener Patienten, wobei mehr als ein Viertel (28 Prozent) keine respiratorischen Symptome hatte (»Gut«, DOI: 10.1136/gutjnl-2020-321195). Bei diesen Patienten ist die Gefahr besonders groß, dass sie zunächst nicht auf SARS-CoV-2 getestet werden, weil kein Verdacht auf Covid-19 besteht – wie bei der Reiserückkehrerin aus dem Fallbeispiel.
Zellen des Dünn- und Dickdarms können mit SARS-CoV-2 infiziert sein, denn sie exprimieren ACE2-Rezeptoren und TMPRSS2. Mittlerweile ist nachgewiesen, dass das Coronavirus Darmzellen befällt und dort auch repliziert (»Science«, DOI: 10.1126/science.abc1669). Das bedeutet allerdings nicht zwangsläufig, dass Covid-19-Patienten infektiöses SARS-CoV-2 mit dem Stuhl ausscheiden.
In Stuhlproben kann zwar häufig Virus-RNA nachgewiesen werden, doch kein infektiöses Virus. Das betonte der Virologe Professor Dr. Christian Drosten von der Berliner Charité am 10. März im Podcast auf »NDR Info«. Er bezog sich dabei auf eine Untersuchung von neun der ersten deutschen Covid-19-Patienten in München, an der er selbst beteiligt war (»MedRxiv«, DOI: 10.1101/2020.03.05.20030502). Aus den Stuhlproben der Patienten habe man, anders als aus Sputum oder Nasen-Rachen-Abstrichen, in Zellkultur kein lebendes, infektiöses Virus isolieren können. Er gehe davon aus, dass die Verdauungssäfte das Virus abtöten, so Drosten.
In Blutproben war SARS-CoV-2 dagegen in der Studie nicht nachweisbar. Laut Dr. Victor Corman, einer von Drostens Mitarbeitern im Konsiliarlaboratorium für Coronaviren an der Charité, repliziert das Virus im Blut nicht. Bei Patienten mit sehr hoher Viruslast sei es vereinzelt über eine Leckage in der Lunge zu einem Übertritt ins Blut gekommen, sagte Corman Anfang März bei einer Ärztefortbildung in Berlin. In diesen Fällen sei im Blut aber nur sehr wenig Virus-RNA nachweisbar gewesen.
Wie auch immer es dort hingelangt: Auch eine Schädigung des Herzens durch SARS-CoV-2 ist möglich und sogar relativ häufig. Bereits unter den ersten 41 Covid-19-Patienten in Wuhan waren fünf mit einem durch das Virus verursachten akuten Herzschaden, der in vier Fällen sogar so schwer war, dass die Betroffenen auf der Intensivstation behandelt werden mussten, heißt es in einer Publikation in »Nature Reviews Cardiology« (DOI: 10.1038/s41569-020-0360-5). Einer Beschreibung von 416 ebenfalls aus Wuhan stammenden Covid-19-Patienten in »JAMA Cardiology« zufolge wiesen knapp 20 Prozent der hospitalisierten Patienten eine akute Schädigung des Myokards auf – in dieser Fallserie ein unabhängiger Risikofaktor für den Tod des Patienten (DOI: 10.1001/jamacardio.2020.0950).
Ob es sich dabei um einen direkten oder einen indirekten Effekt handelt, ist unklar. Herzmuskelzellen tragen den ACE2-Rezeptor und sind damit prinzipiell für das Virus empfänglich. Doch auch auf den Endothelzellen, die die Innenseite der Blutgefäße nicht nur im Herzen auskleiden, kommt der Rezeptor vor. Erst kürzlich wies eine multidisziplinäre Forschergruppe der Uni Zürich das Coronavirus in Endothelzellen nach.
Der Befall dieser Zellen durch SARS-CoV-2 könne zu einer generalisierten Entzündung des Endothels, einer Endotheliitis, führen. Die Folgen seien schwere Mikrozirkulationsstörungen, die das Herz und andere Organe schädigen könnten, lautete ihre Folgerung in »The Lancet« (DOI: 10.1016/S0140-6736(20)30937-5). Dazu passen Berichte aus jüngster Zeit über ein möglicherweise gehäuftes Auftreten des Kawasaki-Syndroms, einer systemischen Gefäßentzündung bei Kindern, in Ländern, die stark von der Coronavirus-Pandemie betroffen sind.
Lungenspezialist Levitt pflichtet dem bei. »Eine Theorie ist, dass das Virus die Gefäßbiologie beeinträchtigt und dass wir deshalb diese sehr niedrigen Blutsauerstoff-Spiegel [bei Covid-19-Patienten] sehen«, sagte er gegenüber »Science«. Der Gasaustausch in der Lunge würde demnach nicht nur durch verstopfte Alveolen, sondern auch durch kontrahierte Mikrogefäße behindert. Dies könnte auch eine Erklärung für eine Besonderheit von Covid-19 liefern: Einige Patienten haben trotz einer extrem niedrigen Sauerstoffsättigung des Bluts keine Atemnot. Die Fachwelt hat für sie einen speziellen Namen: happy hypoxics.
Auffällig ist, dass Covid-19 vor allem bei Menschen mit vaskulären Vorerkrankungen einen schweren Verlauf nimmt – und nicht bei Patienten mit vorbestehenden Lungenleiden, wie es von einem respiratorischen Erreger zu erwarten wäre. In der Statistik der an Covid-19 Gestorbenen des US-Bundesstaats New York, die am 28. April 17.303 Todesfälle umfasste, war Bluthochdruck mit Abstand die häufigste Komorbidität (57 Prozent). In absteigender Häufigkeit folgten Diabetes, Hyperlipidämie, koronare Herzkrankheit, Demenz und Nierenschwäche, bevor erst an siebter Position die chronisch-obstruktive Lungenerkrankung (COPD) auftauchte. Hiervon waren lediglich 8 Prozent der Verstorbenen betroffen gewesen. Asthma gehörte nicht zu den Top 10 der häufigsten Komorbiditäten.
Neben der Beeinträchtigung der Gefäßfunktion ist offenbar auch ein Einfluss auf die Blutgerinnung vorhanden. Wie in »Thrombosis Research« zu lesen ist, entwickelten von 184 Covid-19-Patienten, die auf den Intensivstationen von zwei niederländischen Kliniken behandelt wurden, 38 Prozent während des Krankenhausaufenthalts eine Koagulopathie. Bei 31 Prozent der Patienten kam es zu einer thrombotischen Komplikation, am häufigsten zu einer Lungenembolie, und das, obwohl alle zumindest eine Standard-Thromboseprophylaxe erhalten hatten (DOI: 10.1016/j.thromres.2020.04.013).
Mit Fibrin (grau) verklumpte Erythrozyten (rot) bilden einen Thrombus. Löst der Körper Fibrin auf, entstehen D-Dimere. Sie sind bei Covid-19-Patienten erhöht. / Foto: Getty Images/Science Photo Library/Steve Gschmeissner
Ein erhöhter Spiegel von D-Dimeren im Blut von schwer erkrankten Covid-19-Patienten weist ebenfalls auf eine vermehrte Thrombenbildung hin. D-Dimere sind Abbauprodukte von vernetztem Fibrin, die entstehen, wenn der Körper Blutgerinnsel auflöst. Zusammen mit IL-6 war der D-Dimer-Spiegel in einer chinesischen Arbeit der beste Parameter, um einen schweren Verlauf einer Covid-19-Erkrankung vorherzusagen (»Journal of Medical Virology«, DOI: 10.1002/jmv.25770).
Medikamentös gegenzusteuern, kann möglicherweise zumindest schwer erkrankten Patienten helfen. In einer retrospektiven Beobachtungsstudie in mehreren Krankenhäusern in New York lag die Mortalität bei beatmeten Covid-19-Patienten mit Antikoagulation deutlich unter der von Patienten ohne Blutverdünner (29,1 versus 62,7 Prozent). Bei nicht beatmeten Patienten gab es in der Preprint-Studie im »Journal of the American College of Cardiology« allerdings keinen Unterschied hinsichtlich der Sterblichkeit (DOI: 10.1016/j.jacc.2020.05.001).
Gerinnungsstörungen, Mikroembolien und schwere Entzündungen des Endothels sind laut Professor Dr. Kai Zacharowski die Haupttodesursachen bei Covid-19-Patienten. »Es sind keine klassischen Lungenembolien«, sagte der Leiter der Intensivmedizin am Uniklinikum Frankfurt am Main kürzlich im Webcast von Pharma4u und PZ. Zacharowski brachte auch noch ein weiteres Organ ins Gespräch, das oft schwer von einer SARS-CoV-2-Infektion betroffen ist: die Niere.
»Relativ viele Patienten erleiden ein Nierenversagen und 20 bis 25 Prozent brauchen eine Dialyse«, sagte Zacharowski. Auch im Endothel der Niere sind ACE2-Rezeptoren vorhanden, sodass SARS-CoV-2 die Zellen infizieren kann. Einer Studie im Fachjournal »Kidney International« zufolge zeigte von 701 Covid-19-Patienten in Wuhan fast die Hälfte bereits bei der Aufnahme ins Krankenhaus Anzeichen eines Nierenschadens: 44 Prozent hatten eine Proteinurie und 27 Prozent eine Hämaturie (DOI: 10.1016/j.kint.2020.03.005). Diese Patienten und jene, deren Nierenfunktion sich in der Klinik noch massiv verschlechterte, starben signifikant häufiger als Patienten mit intakter Niere.
Auch hier stellt sich wieder die Frage, ob die Schädigung des Organs direkt oder indirekt erfolgt. Denn auch eine künstliche Beatmung kann ein akutes Nierenversagen verursachen oder verschlimmern. Zudem können einige Medikamente, mit denen die Patienten behandelt werden, die Niere schädigen. So hat etwa das noch nicht zugelassene Virostatikum Remdesivir, das derzeit in klinischen Studien bei Covid-19-Patienten getestet wird, nephrotoxisches Potenzial. Und auch ein Zytokinsturm, der ja zumindest bei einigen Patienten einzusetzen scheint, verschlechtert die Nierendurchblutung drastisch, meist sogar tödlich.
Der Weg von SARS-CoV-2 durch den menschlichen Körper ist jedoch keine Einbahnstraße. Das Coronavirus kann aus der Nase auch auf- statt absteigen. In der oberen Nasenhöhle gelangt es in die Riechschleimhaut und kann dort ein weiteres Symptom verursachen, das viele Covid-19-Patienten zeigen: Geruchs- beziehungsweise Geschmacksstörungen. Eine Beeinträchtigung des Geruchsvermögens bis zum kompletten Verlust desselben, aber auch Riech-Halluzinationen sind möglich.
Laut RKI sind Geruchs- beziehungsweise Geschmacksstörungen in Europa mit fast 70 Prozent betroffenen Patienten sogar mit Abstand das häufigste Symptom von Covid-19. Die Daten stammen allerdings aus Studien, in denen die Spannweite der Häufigkeiten groß war (34 bis 86 Prozent).
Foto: PZ/Stephan Spitzer
Bei einer Infektion mit dem neuen Coronavirus gelangt SARS-CoV-2 zuerst in die Nase und von dort in schweren Fällen in die Lunge. Weitere Organe können betroffen sein, darunter:
Die Sinneszellen auf dem Epithel der Riechschleimhaut haben über einen langen dünnen Nervenfortsatz direkten Zugang zum Riechkolben (Bulbus olfactorius), der innerhalb des zentralen Nervensystems (ZNS) liegt. Laut dem Deutschen Berufsverband der Hals-Nasen-Ohrenärzte können die Zellen des Riechepithels und des Bulbus olfactorius direkt von SARS-CoV-2 befallen und geschädigt werden. Diese Schädigung sei für die Riechstörung hauptverantwortlich, heißt es in einer aktuellen Pressemeldung.
Offenbar macht das Coronavirus aber nicht in jedem Fall im Riechkolben Halt, sondern kann von dort aus weiter in zentrale Teile des Gehirns vordringen. So erklärt man sich das Vorkommen neurologischer Symptome, die das ZNS betreffen und die laut einer Publikation in »JAMA Neurology« meist schon auftreten, bevor die Patienten respiratorische Beschwerden entwickeln (DOI: 10.1001/jamaneurol.2020.1127). In der Studie mit 214 Covid-19-Patienten aus Wuhan hatte jeder Vierte zentralnervöse Symptome, am häufigsten Schwindel, Kopfschmerzen und Bewusstseinstrübung.
Auch Krampfanfälle, eine Hirnhautentzündung oder ein zentral verursachter Atemstillstand sind laut der Deutschen Gesellschaft für Neurologie (DGN) mögliche Folgen einer ZNS-Beteiligung von Covid-19. Zudem könne SARS-CoV-2 ein Guillain-Barré-Syndrom (GBS) auslösen, eine Autoimmunreaktion, die infolge von Infekten auftreten kann und bei der die Myelinschicht der peripheren Nerven angegriffen wird. Bei Covid-19 komme es bereits nach fünf bis zehn Tagen zu dieser schweren neurologischen Komplikation, während es sonst meist zwei bis vier Wochen dauere, bis ein Infekt-assoziiertes GBS auftrete, teilt die DGN aktuell mit.
Auch Augen und Ohren haben über die Tränenwege sowie die Ohrtrompete direkte Verbindungen zur Nase. Ohrenschmerzen sind allerdings laut Privatdozent Dr. Jan Löhler vom Deutschen Berufsverband der HNO-Ärzte eher untypisch für Covid-19. Dagegen können die Augen durchaus beteiligt sein: Von 38 chinesischen Covid-19-Patienten einer Fallserie in »JAMA Ophthalmology« hatte ein Drittel eine virusbedingte Bindehautentzündung (DOI: 10.1001/jamaophthalmol.2020.1291). Betroffen waren vor allem schwer Erkrankte. Typisch für eine durch SARS-CoV-2 verursachte Konjunktivitis ist mehreren Medienberichten zufolge eine erhöhte Temperatur des Auges, die auf über 40 °C ansteigen kann. Bei Patienten mit milder Covid-19-Symptomatik findet sich SARS-CoV-2 laut der Stiftung Auge der Deutschen Ophthalmologischen Gesellschaft offenbar nicht in der Tränenflüssigkeit. Eine Übertragung des Coronavirus auf diesem Weg sei daher, wenn überhaupt, wahrscheinlich nur bei Patienten mit Bindehautentzündung möglich.
Eine Bindehautentzündung kommt bei Covid-19 vor allem bei schwer erkrankten Patienten vor. / Foto: Getty Images/Srisakorn Wonglakorn/EyeEm
Zeigt sich SARS-CoV-2 also eher in einem späten Krankheitsstadium in den Augen, so kann eine weitere mögliche periphere Manifestation auch ein Frühbote einer Infektion sein: Hautsymptome. Dem RKI zufolge wurde in verschiedenen Studien und Fallberichten eine relativ große Bandbreite an dermatologischen Manifestationen beschrieben: unter anderem juckende masernähnliche Ausschläge, Papeln, Rötungen und ein Nesselsucht-ähnliches Erscheinungsbild sowie Hautbläschen. In seltenen Fällen seien schwere Durchblutungsstörungen der Extremitäten bis hin zum Gangrän vorgekommen. Die Hautmanifestationen seien teilweise noch vor anderen bekannten Symptomen zu Beginn einer Covid-19-Erkrankung, aber auch im späteren Verlauf und sowohl bei Kindern als auch bei Erwachsenen beobachtet worden.
Derzeit wird noch diskutiert, ob die Hautsymptome direkt von SARS-CoV-2 ausgelöst oder eine Folge von Thrombosen in den kleinsten Gefäßen der Haut sind. Die Deutsche Dermatologische Gesellschaft (DDG) bringt auf ihrer Website als weiteren möglichen Auslöser Medikamenten-Nebenwirkungen ins Spiel. Über die Häufigkeit der Erscheinungen gehen die Angaben auseinander. Die DDG verweist auf Berichte aus den schwerbetroffenen Ländern China, Italien und Spanien, wonach bis zu 20 Prozent der wegen Covid-19 stationär behandelten Patienten Hautsymptome hatten. Das RKI spricht dagegen von einem nach aktueller Studienlage eher seltenen Vorkommen.
Offenbar nicht direkt von einer SARS-CoV-2-Infektion betroffen ist die Leber. Zwar steigen bei nahezu der Hälfte der Covid-19-Patienten die Leberwerte im Verlauf der Erkrankung an, wie aus einem Kommentar in »The Lancet Gastroenterology & Hepatology« hervorgeht (DOI: 10.1016/S2468-1253(20)30057-1). Doch dies deuten Hepatologen eher als Folge der intensiven Pharmakotherapie, die die Patienten erhalten, denn als Zeichen eines Virusbefalls der Leber (DOI: 10.1016/S2468-1253(20)30084-4). Auch ein Angriff von fehlgeleiteten Immunzellen auf das Entgiftungsorgan wird diskutiert.
Der Blick auf einzelne Organe oder Symptome gleicht immer nur einem kleinen Puzzleteil, das erst zusammen mit allen anderen das große Bild namens Covid-19 ergibt. Dieses zeigt eine Krankheit mit vielen Gesichtern, die sich als Lungen-, Immun-, Gefäß-, Darm-, Nieren-, Haut- oder ZNS-Erkrankung präsentieren kann – oder als alles zusammen. Im selben Takt, wie die Bedeutung der einzelnen Bildausschnitte nach und nach immer klarer wird, werden sich hoffentlich auch Möglichkeiten ihrer gezielten Beeinflussung eröffnen.
Annette Mende studierte Pharmazie in Bonn und erhielt 2002 die Approbation als Apothekerin. Sie arbeitete mehrere Jahre in Krankenhaus- und verschiedenen öffentlichen Apotheken in Schweden und Deutschland. Nach Volontariat bei der Springer-Medizin-Verlagsgruppe und Tätigkeit als Redakteurin im Newsroom der Ärzte Zeitung wechselte sie 2011 in das Berliner Büro der Pharmazeutischen Zeitung.