Töne mit Tiefenwirkung |
Annette Rößler |
16.04.2023 08:00 Uhr |
Musik kann entspannen, Erinnerungen wecken – und ganz einfach glücklich machen. Ihre besondere Wirkung auf den Menschen lässt sich auch therapeutisch einsetzen. / Foto: Imago/photothek
Als ich vor einigen Jahren mit einem kleinen Streichorchester ein Konzert in einem Altenheim gab, passierte etwas Bemerkenswertes: Eine Bewohnerin, die aufgrund ihrer Demenzerkrankung seit vielen Monaten kein Wort mehr gesprochen hatte, fing während des Konzerts an zu reden. Offensichtlich hatte die Musik bei ihr Emotionen geweckt, die sie ausdrücken wollte, und gleichzeitig die verlorene Fähigkeit zu sprechen wiederhergestellt. Das war bei dieser Frau mit anderen therapeutischen Mitteln zuvor schon lange nicht mehr gelungen.
Warum hat Musik diese besondere Wirkung? Das lässt sich für diesen speziellen Fall natürlich nicht beantworten. Generell ist aber mittlerweile viel dazu geforscht und publiziert worden, wie Musik im Gehirn verarbeitet wird und wie sie sich therapeutisch nutzen lässt. Dabei unterscheidet sich Musik laut einer 2022 im Fachjournal »Nature Reviews Neuroscience« erschienenen Übersichtsarbeit grundlegend von anderen Höreindrücken (DOI: 10.1038/s41583-022-00578-5). Denn anders als bei der Wahrnehmung von Geräuschen oder Klängen, die keine Musik ergeben, seien an der Verarbeitung von Musik neben dem auditorischen System auch zentrale Netzwerke beteiligt, die mit Aktion, Emotion und Lernen zu tun haben, so die Autoren um Professor Dr. Peter Vuust von der Universität Aarhus in Dänemark.
Die Gruppe führt diese Besonderheiten darauf zurück, dass sich das Gehirn bei der Verarbeitung von Musik der sogenannten prädiktiven Kodierung bedient. Dieses Konzept besagt, dass das Gehirn auf Umweltreize nicht bloß reagiert, sondern anhand der empfangenen Reize und auf der Grundlage von gemachten Erfahrungen auch aktiv Vorhersagen für die unmittelbare Zukunft trifft. Es entstehen somit fortlaufend Erwartungen dazu, was man als Nächstes sehen, hören, schmecken und riechen wird – die jedoch nicht immer erfüllt werden, da sich die Umwelt ständig verändert. In diesem Fall passt das Gehirn seine Vorhersage an die Wahrnehmung an, die Prädiktion wird also neu kodiert, sodass die Erwartung beim nächsten Mal besser erfüllt wird.
Melodie, Harmonie und Rhythmus: Die drei Grundkomponenten von Musik lernen Kinder schon früh kennen. / Foto: Getty Images/FatCamera
Musik, die unseren Hörgewohnheiten entspricht, zeichnet sich dadurch aus, dass sie uns in ihren drei Grundkomponenten Melodie, Harmonie und Rhythmus vertraut ist. Das Gehirn könne daher auch bei unbekannten Musikstücken ausgehend von bereits gemachten Hörerfahrungen mittels prädiktiver Kodierung eine Erwartung dazu formen, wie das Musikstück weitergeht, argumentieren Vuust und Kollegen. Entspreche das Gehörte nicht dem Antizipierten, werde unter Umständen eine Aktion getriggert. Das erkläre etwa das Bedürfnis vieler Menschen, den Takt durch Fußwippen oder Kopfnicken zu verstärken, wenn ein Rhythmus synkopiert ist, die betonte Taktzeit also ausgelassen wird und der Beat stattdessen leicht versetzt erfolgt. Den unbewusst empfundenen Fehler auf diese Weise zu korrigieren, könne ein Gefühl der Freude auslösen.