Töne mit Tiefenwirkung |
Annette Rößler |
16.04.2023 08:00 Uhr |
In seinem Buch »Vom Neandertal in die Philharmonie. Warum der Mensch ohne Musik nicht leben kann« beschreibt Eckart Altenmüller, dass sich viele Effekte von Musik mit deren Wirkung auf die Neuroplastizität erklären lassen. Musik zu hören und mehr noch Musik zu machen, hinterlassen also Spuren im Gehirn, weil die beteiligten neuronalen Netzwerke trainiert werden. Das trifft besonders auf den Vorgang des Übens zu, bei dem komplexe Bewegungsabläufe so oft wiederholt werden, bis sie schließlich unbewusst ablaufen.
Mit exzessivem Üben im Zusammenhang steht allerdings auch eine neurologische Erkrankung, die ausschließlich professionelle Musiker betrifft: die fokale Dystonie, auch Musikerdystonie oder Musikerkrampf genannt. Laut dem Berliner Centrum für Musikermedizin (BCMM), einer Spezialambulanz an der Charité für Musiker, handelt es sich um eine »Bewegungsstörung mit Verlust der feinmotorischen Kontrolle von jahrelang geübten Bewegungsabläufen am Instrument«. Altenmüller beschreibt die möglichen Symptome so: Einziehen von Fingern an der Tastatur oder am Griffbrett, »Klebenbleiben« bei der Ausführung von Trillern, unwillkürliche Daumenbewegungen am Streicherbogen oder Abstrecken von Fingern bei schnellen Passagen.
Robert Schumann (1810 bis 1856) wollte eigentlich Pianist werden, gab diesen Plan aber infolge einer Musikerdystonie auf. / Foto: Imago/Heritage Images
Die Musikerdystonie sei in der Regel schmerzlos und trete bei 1 bis 2 Prozent aller Berufsmusiker zwischen dem 30. und 40. Lebensjahr auf, heißt es beim BCMM. Häufig seien Geiger, Bläser, Pianisten und Gitarristen betroffen. Die Ursachen seien nicht abschließend geklärt, vermutet werde ein Inhibitionsdefizit motorischer Zentren im Gehirn.
Mit Medikamenten wie Botulinumtoxin und Trihexyphenidyl oder anderen Maßnahmen wie ergonomischen Veränderungen am Instrument ließen sich häufig keine zufriedenstellenden Therapieerfolge erreichen, sodass fast 30 Prozent der betroffenen Musiker den Beruf wechseln müssten. So erging es auch Robert Schumann (1810 bis 1856), dem ersten Musiker, bei dem eine fokale Dystonie belegt ist: Er musste infolge der Erkrankung seinen Berufswunsch Konzertpianist aufgeben (siehe Kasten).
Der heute vor allem als Komponist bekannte Robert Schumann strebte als junger Mann eigentlich eine Karriere als Pianist an und übte entsprechend viel Klavier, wie er in seinem Tagebuch notierte. Dabei machten ihm jedoch zunehmend der Zeige- und Mittelfinger der rechten Hand zu schaffen, die er mit der Zeit nicht mehr so schnell bewegen konnte wie die anderen Finger. Um die betroffenen Finger beim Üben von den Tasten fernzuhalten, baute er sich eine Vorrichtung, die er selbst als »Cigarrenmechanik« bezeichnete und die die beiden Finger stark in Richtung Handrücken nach oben zog. Deren Anwendung hatte jedoch nicht den erhofften Effekt; 1832 musste er feststellen: »Der Dritte [Finger] ist vollkommen steif.«
Heute geht man davon aus, dass Schumann wohl zunächst eine Musikerdystonie entwickelt hatte, die Versteifung des rechten Mittelfingers und eine beschriebene Lähmung beziehungsweise Kraftlosigkeit des Zeige- und Mittelfingers aber wohl eher infolge der Gelenk- und Sehnenveränderungen auftraten, die er sich unter anderem durch die Anwendung der Cigarrenmechanik zuzog.
Weitere Krankheiten, die mit dem professionellen Musizieren im Zusammenhang stehen, sind Auftrittsangst und muskuloskelettale Erkrankungen. Bei ausgeprägter Auftrittsangst können laut BCMM neben Psychotherapie, Bewegungs- und Entspannungstechniken vorübergehend auch Betablocker eingesetzt werden.
Muskuloskelettale Erkrankungen wie das chronische myofasziale Schmerzsyndrom entstehen bei Musikern infolge der oft einseitigen Belastung beim Spielen des Instruments. Hier helfen eine Spielpause und Physiotherapie mit Wärme- und Kälteanwendungen. Zusätzlich können dem BCMM zufolge nicht steroidale Antirheumatika (NSAR), Muskelrelaxanzien und bei chronischen Schmerzen Koanalgetika wie Amitriptylin zum Einsatz kommen. Nach Abklingen der Beschwerden sollte erst nach und nach wieder mit dem Musizieren begonnen werden. Langfristig könnten unter anderem Ausgleichssport sowie besondere Übetechniken wie fraktioniertes oder mentales Üben hilfreich sein.
Annette Rößler studierte Pharmazie an der Rheinischen Friedrich-Wilhelms-Universität Bonn und erhielt 2002 die Approbation als Apothekerin. Sie arbeitete mehrere Jahre in Krankenhaus- und verschiedenen öffentlichen Apotheken in Schweden und Deutschland. Nach Volontariat bei der Springer-Medizin-Verlagsgruppe und Tätigkeit als Redakteurin im Newsroom der Ärzte Zeitung wechselte sie 2011 in das Berliner Büro der Pharmazeutischen Zeitung. Sie macht seit ihrer Kindheit Musik und spielt regelmäßig in Konzerten des Sinfonie Orchesters Schöneberg und anderer Laienorchester Kontrabass.