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Kommentar zur E-Rezept-Einführung

Die Gematik setzt die falschen Prioritäten

Etwa 99 Prozent aller Arzneimittel-Rezepte werden in Vor-Ort-Apotheken eingelöst. Bei der regionalen (!) Erprobung des E-Rezepts bindet die Gematik aus Gründen der »Wettbewerbsneutralität« trotzdem auch große, niederländische Versandhändler ein. Erstens verkennt sie damit die Versorgungsrealität. Zweitens gäbe es dringlichere Dinge, um die sich die Gematik kümmern sollte, meint PZ-Chefredakteur Benjamin Rohrer.
Benjamin Rohrer
12.05.2021  16:30 Uhr

Wenn am 1. Januar 2022 das neue, digitale Verordnungssystem bundesweit startet, werden die Vor-Ort-Apotheken weiterhin den absoluten Großteil aller Rx-Rezepte beliefern. Derzeit liegt der Marktanteil der Versender zwischen 1 und 2 Prozent. Selbst wenn die beiden großen niederländischen Versandkonzerne ihr 10-Prozent-Marktanteil-Ziel in ein paar Jahren erreichen sollten, werden die Vor-Ort-Apotheken auch unter Verwendung des E-Rezepts die Ansprechpartner Nummer eins sein, wenn es um die Arzneimittelversorgung geht.

Dieser Realität sollte die Gematik auch bei der Erprobung und Einführung des E-Rezepts gerecht werden. Derzeit erweckt sie aber einen anderen Eindruck. Erst duldet die Gesellschaft die Mit-Beteiligung einer Zur Rose-Tochter bei der Konzeption des E-Rezept-Fachdiensts. Im März dieses Jahres gibt die Gesellschaft dann eine Mitteilung heraus, in der sie stolz verkündet, dass nun auch die ausländischen Versandhändler an die Telematik-Infrastruktur (TI) angebunden werden können – indem die Gematik einfach selbst die dafür benötigten Karten herausgibt. Und im regionalen E-Rezept-Modellprojekt werden nun explizit alle in- und ausländischen Versender neben den teilnehmenden Berliner Apotheken die Möglichkeit bekommen, die ersten E-Rezepte Deutschlands zu beliefern. Vor dem Hintergrund noch zu lösender technischer Probleme erscheint es derzeit unwahrscheinlich, dass kleinere Apotheken mit Versandhandelserlaubnis in der Lage sein werden teilzunehmen. Die beiden niederländischen Konzerne Shop Apotheke und Doc Morris werden allerdings schon am 1. Juli 2021 in der ersten Reihe stehen, um die Berliner Patienten zu beliefern – davon »geht die Gematik aus«, wie eine Sprecherin mitteilte.

Konzerne wollen dem E-Rezept ihr Markensiegel aufdrücken

Sicherlich sind anfangs keine großen Marktverschiebungen zu erwarten, wenn die Versender neben den etwa 120 Berliner Vor-Ort-Apotheken in das Projekt einsteigen. Schließlich werden nur bis zu 50 Praxen mit ihren Patientinnen und Patienten teilnehmen. Aber es ist doch klar, was die Konzerne vorhaben: Sie werden sich damit brüsten, dass sie gleich in der ersten Erprobungsphase des E-Rezepts mit dabei sind – und das dahinterliegende System sogar mitgebaut haben. Die Unternehmen werden versuchen, der neuen Versorgungskomponente E-Rezept ihr Markensiegel aufzudrücken – alles mithilfe der Gematik.

Dabei hätte die Gematik eigentlich viel größere Probleme zu lösen. Denn der oben genannte Löwenanteil der Versorgung, die wohnortnahen Arztpraxen und Apotheken, müsste vielmehr besser vorbereitet werden auf das neue Verordnungssystem. Insbesondere die niedergelassenen Ärzte bereiten Sorgen: Viele von ihnen haben noch keinen elektronischen Heilberufsausweis (HBA), in vielen Fällen sind die Praxissoftware-Systeme auch noch gar nicht in der Lage, E-Rezepte abzubilden. Gerade die Signatur der digitalen Verordnungen ist noch nicht geklärt. Die Kassenärztliche Bundesvereinigung (KBV) und Bundesärztekammer (BÄK) fordern eine Verschiebung des E-Rezepts, sollte es bis zum 1. Januar 2022 nicht möglich sein, dass Ärzte ihre E-Rezepte auch stapelweise mit sogenannten »Komfortsignaturen« unterschreiben.

Insofern wäre es schön, wenn sich die vom Bundesgesundheitsministerium (BMG) kontrollierte Gematik zunächst um die wirklich wichtigen Aufgaben kümmert, bevor sie auf Biegen und Brechen eine Randgruppe wie die EU-Versender befähigt. Übrigens: Das von der Gematik angeführte Argument der »Wettbewerbsneutralität« für die Einbindung in- und ausländischer Versender ist ebenfalls eine Fehleinschätzung. Denn was sagen die etwa 18.800 Vor-Ort-Apotheken im restlichen Bundesgebiet, die nicht an dem Modellprojekt teilnehmen können? Kurzum: Wer ein regionales Modellprojekt ankündigt, sollte dies auch regional umsetzen.

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