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Palliativversorgung

Den Tagen mehr Leben geben!

Jeder Mensch mit einer schweren chronischen Krankheit, mit begrenzter Lebenserwartung oder starker Gebrechlichkeit hat einen Anspruch auf Palliativversorgung. Diese zielt darauf ab, die Lebensqualität von Patienten und ihren Zugehörigen durch frühzeitige Interventionen aktiv zu verbessern.
Kirsten Dahse
Ulla Mariam Hoffmann
02.10.2022  08:00 Uhr

Viele Patienten und Zugehörige assoziieren »Palliativ« mit dem nahenden Tod – und schieben alles, was damit verbunden ist, weit weg. Die niedergelassene Apotheke, die die Patienten häufig schon viele Jahre begleitet, kann den Blick für einen Perspektivwechsel freimachen. Die frühzeitige Kontrolle individuell belastender Symptome kann im Idealfall erfüllte und lebenswerte Tage schenken, frei nach dem Motto von Cicely Saunders (1918 bis 2005, Begründerin der Hospiz- und Palliativbewegung): »Nicht dem Leben mehr Tage, sondern den Tagen mehr Leben geben.«

Die »Charta zur Betreuung schwerstkranker und sterbender Menschen in Deutschland« setzt sich für Menschen ein, die aufgrund einer fortschreitenden, lebensbegrenzenden Erkrankung mit dem Sterben und dem Tod konfrontiert sind. In fünf Leitsätzen werden Aufgaben, Ziele und Handlungsbedarfe formuliert; dazu gehört auch der Anspruch auf eine palliativmedizinische Versorgung (www.charta-zur-betreuung-sterbender.de).

Häufig wird Palliativmedizin mit der Therapie von unerträglichen Schmerzen gleichgesetzt. Dies ist historisch insofern korrekt, da Cicely Saunders sich primär mit der Tumorschmerztherapie befasst hat und die vier Dimensionen ihres »Total-Pain-Konzepts« (physisch, psychisch, sozial und spirituell) auch die vier Dimensionen von Palliative Care gemäß der WHO-Definition kennzeichnen. Diese vier Dimensionen können jedoch nicht nur auf Schmerzen, sondern für jedes Symptom angewendet werden. Die deutsche Umgangssprache kennt eine Reihe körperlicher Symptome (wenn etwas »zum Kotzen ist« oder man vor etwas »Schiss hat«), die auf einen solchen Dimensionswechsel aus dem psychischen Bereich verweisen und nicht durch somatische Therapien zu behandeln sind.

Im englischen Begriff Palliative Care (Care: Fürsorge) ist das Wissen verankert, dass dies keine rein medizinische, sondern vielmehr eine multiprofessionelle Aufgabe ist. Diese kann nur im Team gemeinsam von Pflegenden, Seelsorgern, Psychologen, Physiotherapeuten, Apothekern, Ärzten und anderen geleistet werden. Im Sinn des Total-Pain-Konzepts bedeutet dies, neben der Schmerz- und Symptom-Anamnese auch eine psychische, soziale und spirituelle Anamnese zu erheben, um verstärkende und interagierende Faktoren zu identifizieren und multiprofessionell anzugehen. Denn wie sollten beispielsweise die körperlichen Schmerzen einer Mutter kontrolliert werden, wenn die Versorgung ihrer minderjährigen Kinder nicht geklärt ist?

So hat die Palliativmedizin einen ganzheitlichen Ansatz zur Verbesserung der Lebensqualität von Patienten und deren Zugehörigen sowie zur Kontrolle von belastenden Symptomen, die mit einer lebensbedrohlichen Erkrankung einhergehen. Dies erfolgt durch Verbesserung von Leiden, frühzeitiges Erkennen von Problemen und die sorgfältige Einschätzung und Behandlung von Schmerzen sowie von anderen belastenden Beschwerden körperlicher, psychosozialer und spiritueller Art – ohne den Tod zu beschleunigen oder hinauszuzögern. Sie bietet Unterstützung an: nicht nur den Patienten, sondern auch den Zugehörigen über den Tod hinaus.

Am Anfang jeder Palliativversorgung steht die Erhebung der belastenden Symptome, die zum Beispiel im Symptomenscore MIDOS (Minimales Dokumentationssystem zu belastenden Symptomen) abgefragt werden. Bei Patienten mit kognitiven Einschränkungen kann der BISAD (Beobachtungsinstrument für das Schmerzassessment bei alten Menschen mit Demenz) oder der BeSD (Beurteilung von Schmerz bei Demenz) verwendet werden. Diese Symptome wie Schmerzen, Atemnot, Angst oder Übelkeit/Erbrechen spiegeln sich in der verpflichtenden Notfallbevorratung und der empfohlenen Bevorratung für Palliativpatienten im Apothekennotdienst wider (Tabelle 1).

Arzneistoff Darreichungsform Dosierung Indikation
Verpflichtend*
Morphin Injektionslösung 10 mg/ml Schmerzen, Luftnot
Morphin 2 Prozent Tropfen 20 mg/ml, d.h. 20 mg/16 gtt Schmerzen, Luftnot
Morphin Retardtabletten 30 mg Schmerzen, Luftnot
Fentanyl Pflaster 25 µg/h Schmerzen, Luftnot
Fentanyl Nasenspray 100 µg/Hub Durchbruchschmerzen
Weitere empfohlene Bevorratung**
Lorazepam Schmelztabletten 1 mg Angst
Diazepam Rektallösung 5 mg Epilepsie, Angst
Dimenhydrinat Suppositorien 150 mg Erbrechen
Dimenhydrinat Tabletten 50 mg Übelkeit
Haloperidol 2 Prozent Tropfen 2 mg/ml Übelkeit, Delir
Butylscopolamin Injektionslösung 20 mg/ml Koliken, Rasselatmung, Übelkeit, Erbrechen
Dexamethason Injektionslösung 4 mg/ml Schmerzen, Übelkeit, Erbrechen
Tabelle 1: Notfallbevorratung von Apotheken zur Versorgung von Palliativpatienten im Nachtdienst
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