Pharmazeutische Zeitung online
Arzneimittelrückstände

Wie belastet ist unser Wasser?

05.12.2011  13:00 Uhr

Von Hannelore Gießen / Fische leiden an bislang unbekannten Nierenschäden; männliche Regenbogenforellen verweiblichen; Muscheln geben ihren Samen ab, bevor die Weibchen Eizellen produziert haben. Arzneimittelrückstände im Wasser sind zwar so gering, dass sie Menschen nicht gefährden, aber mitunter das empfindliche Ökosystem stören.

Bisher wurden knapp 100 unterschiedliche Arzneistoffe in Flüssen und Seen gefunden. »Für Menschen sind die Konzentrationen im Wasser wohl zu gering, um eine direkte gesundheitliche Gefahr darzustellen, da sie kaum aufgenommen werden. Sie haben jedoch Folgen für die Wasserbewohner«, erläutert Professor Dr. Werner Kloas vom Berliner Leibniz-Institut für Gewässer­ökologie und Binnenfischerei (IGB) im Gespräch mit der Pharmazeutischen Zeitung.

Tatsächlich lassen Estrogene aus oralen Kontrazeptiva, die mit dem Urin ausgeschieden werden, Forellen verweiblichen. Diclofenac geht Fischen an die Nieren, und die Reste von Oseltamivir bringen den Paarungstakt der Muschel durcheinander. Einzelne Tier- und Pflanzenarten reagieren mitunter besonders empfindlich auf einen bestimmten Wirkstoff: Diclofenac hat in Pakistan und Indien zum fast vollständigen Aussterben von drei Geierarten geführt. Die Greifvögel hatten sich von verendeten Rindern ernährt, die mit dem Antirheumatikum behandelt worden waren (1).

 

Wie Arzneimittel auf Menschen wirken, ist gut untersucht. Denn ein neuer Arzneistoff wird während der Entwicklung auch auf toxische Eigenschaften geprüft, jedoch in erster Linie an Säugetieren wie Mäusen, Ratten oder Hunden. Um eine Gefährdung für die Umwelt abzuschätzen, bringen diese Daten wenig, denn Arzneimittel beeinflussen in Fischen, Wasserflöhen, Algen, Mückenlarven und Mikroorganismen meist andere Mechanismen als im Säuger (2).

 

Arzneimittel im häuslichen Abwasser

 

Bereits in den 1970er-Jahren wurden vereinzelt Fibrate, Antibiotika, Antiepileptika oder Estrogene in verschiedenen Seen und Flüssen gefunden. Manche Arzneistoffe wie Carbamazepin widerstehen dem Klärprozess und tauchen im Abwasser der Kläranlagen auf. Die Verordnungsmengen werden zu fast 100 Prozent in die Umwelt abgegeben, teils unverändert, teils als aktive Metabolite (3).

 

Dass Medikamente ins Abwasser gelangen, ist ein ungewollter Nebeneffekt ihrer therapeutischen Anwendung. Arzneistoffe werden auf Stabilität optimiert, damit genügend intakte Wirkstoffmoleküle in vivo am Krankheitsort ankommen, bevor sie metabolisiert werden. Diese Stabilität der Moleküle erschwert ihren biologischen Abbau in den Kläranlagen. Zudem binden sie kaum an Partikel, sodass die erste Stufe des Klärprozesses, die mechanische Reinigung, wenig effektiv ist.

 

Die Hauptquelle für das Vorkommen von Arzneistoffen in der Umwelt bildet das häusliche Abwasser. Herstellungsbetriebe für Arzneimittel, Krankenhäuser oder andere medizinische Einrichtungen spielen in westlichen Ländern dagegen eher eine geringe Rolle. Dazu erklärt Dr. Wolf von Tümpling vom Helmholtz-Zentrum für Umweltforschung in Leipzig gegenüber der PZ: »Die Arzneimitteltherapie hat sich zunehmend in den ambulanten Sektor verlagert. Damit wird der Eintrag von Medikamenten in die Gewässer dezen­tralisiert. Die Abwässer von Krankenhäusern können separat einer Spezialbehandlung unterzogen werden. Verteilen sich Arzneimittel über kommunale Abwässer, ist das so nicht möglich.«

 

Vom Oberflächen- ins Grundwasser

 

Auch in Flüssen, Seen und Teichen treffen Forscher auf Spuren von Arzneimitteln, sei es im Victoriasee oder der Wolga, im Mississippi oder Main, in der Rhône oder im Rhein. Diclofenac und Ibuprofen, Carbamazepin, Roxithromycin und Sulfamethoxazol sowie Meto­prolol und Sotalol wurden in nahezu allen Flüssen und Seen gefunden, allerdings in Konzentrationen im Nano- bis Mikrogrammbereich. Besonders belastet sind kleine Flüsse und Kanäle in dicht besiedelten Gebieten mit einem hohen Abwasseranteil (1, 3, 4, 5).

 

Von den Flüssen und Seen, aber auch über durch Tierarzneimittel belastete Böden können Arzneistoffe ins Grundwasser und von dort ins Trinkwasser gelangen. Anfang der 1990er-Jahre wurde in Berliner Trinkwasserquellen Clofibrinsäure entdeckt, vor vier Jahren Carbamazepin im Trinkwasser des Berliner Reichstags. Inzwischen wurden fünfzehn verschiedene Arzneistoffe in deutschen Trinkwasserproben nachgewiesen. Die gemessenen Konzentrationen sind mit wenigen Nanogramm pro Liter deutlich niedriger als im Oberflächen- und Grundwasser.

Meldungen über Arzneimittelspuren in den verschiedenen Gewässern überraschen den Berliner Ökotoxikologen Werner Kloas nicht. »Die Umweltforschung hat Tausende von Messungen in den vergangenen zehn Jahren durchgeführt. Vermutlich könnte man wohl nahezu alle Arzneistoffe entdecken, wenn man extrem feine Analysemethoden nutzen würde«, sagt Kloas. »Zwanzig bis dreißig Substanzen treffen wir jedoch fast überall an – in Konzentrationen von 10 bis 10000 ng pro Liter.«

 

Chemisch gut, ökologisch mangelhaft

 

Schätzungsweise vier Fünftel der rund 10 000 Oberflächengewässer in Deutschland sind in gutem chemischen Zustand, berichtete das Helmholtz-Zentrum für Umweltforschung (UFZ) im Juni 2011 (6). Doch nur 10 Prozent erfüllen auch die Kriterien der Europäischen Rahmenrichtlinie (WRRL) für einen guten ökologischen Stand (7). Der chemische Status von Gewässern wird anhand von 41 Stoffen überwacht, die einen festgelegten Grenzwert nicht überschreiten dürfen. Darunter sind bislang keine Arzneistoffe, sondern industriell eingesetzte Chemikalien und Pflanzenschutzmittel. Zurzeit wird allerdings erwogen, in die Prüfliste auch einige Arzneistoffe aufzunehmen. »Wenn auch Arzneistoffe in ein intensives Monitoring eingeschlossen werden, erfahren wir mehr über langfristige Auswirkungen auf die aquatische Umwelt«, erläutert Helmholtz-Wissenschaftler von Tümpling.

 

Ökotoxikologische Studien liegen erst für wenige Substanzen vor. Ob und wie Arzneimittelspuren die aquatische Umwelt langfristig gefährden, ist auch aufgrund von »Cocktaileffekten« schwierig einzuschätzen. Fauna und Flora sind meistens mehreren Arzneistoffen sowie anderen Chemikalien gleichzeitig ausgesetzt. Wie dies in der Risikobewertung berücksichtigt werden könnte, ist noch unklar.

 

Abbauprodukte von Arzneistoffen, die im menschlichen Körper oder in der Kläranlage entstehen, erschweren die Einschätzung zusätzlich. Zudem sind der Arzneistoff selbst und seine Metabolite in der Umwelt zahlreichen Einflüssen ausgesetzt: Bakterien und Pilze verändern ihn ebenso wie Luftsauerstoff, Licht und Wasser. »Die so entstehenden Transformationsprodukte sind neue Substanzen mit neuen Eigenschaften, die wir weiter untersuchen und in ihren Langzeitauswirkungen beobachten müssen«, berichtet von Tümpling.

Das Landesamt für Natur, Umwelt und Verbraucherschutz Nordrhein-Westfalen (LANUV) bewertete 2007 in einer umfangreichen Literaturstudie den aktuellen Wissensstand zum Verhalten von Arzneimitteln in der Umwelt. Sieben Arzneistoffe stuften die Wissenschaftler hinsichtlich ihrer ökotoxikologischen Wirkungen als umweltrelevant ein: die Antibiotika Ciprofloxacin, Clarithromycin, Erythromycin und Sulfa­meth­oxazol, Diclofenac, Carbamazepin und 17α-Ethinylestradiol (8).

 

Ökosystem im Blick

 

Die Lücke zwischen humantoxikolo­gi­scher und ökologischer Bewertung wollen auch die Wissenschaftler des Berliner Leibniz-Instituts für Gewässer­ökologie und Binnenfischerei (IGB) schließen helfen. »Pharmaka im aquatischen Ökosystem« (PAKT) heißt das Projekt, das seit 2008 aus Mitteln des Leibniz-Wettbewerbsverfahrens im Pakt für Forschung und Innovation finanziert wird. In verschiedenen Teilprojekten wird die biologische Wirkung von pharmazeutisch aktiven Wirkstoffen (PhAC) bei Blau- und Grünalgen, Makrophyten sowie wirbellosen Tieren untersucht. Die Synthese der Erkenntnisse aller Teilprojekte soll die Grundlagen für eine vergleichende Risikobewertung für anthropogen beeinflusste Gewässer schaffen.

Wie entsteht unser Trinkwasser?

Grundwasser ist die wichtigste Quelle für Trinkwasser: Zu gut zwei Dritteln wird Trinkwasser in Deutschland aus Grundwasser gewonnen. Der Rest stammt aus Flüssen, Seen oder Stauseen, aus Uferfiltrat sowie angereichertem Grundwasser. Uferfiltrat setzt sich aus Fluss- und Grundwasser zusammen und wird aus Brunnen in der Nähe von Flussufern gewonnen. Fehlt es an natürlichem Grundwasser, wird angereichertes Grundwasser künstlich erzeugt, indem man Oberflächenwasser über Brunnen oder Teiche versickern lässt. Durch die Bodenpassage werden Schadstoffe zumindest teilweise abgebaut.

Die Berliner Wissenschaftler beobachten auch, wie sich Wirkstoffe im Gewässer verteilen; dies ist ein für die Risikobewertung wesentlicher Aspekt. Wenn die Substanzen in der Mitte der Gewässer auf den Boden absinken, wäre das vergleichsweise unproblematisch. Reichern sie sich aber an den Ufern an, könnte es schon kritischer werden, da dann ein Übergang ins Grundwasser wahrscheinlicher ist. Doch dazu liegen noch keine abschließenden Daten vor.

 

Endokrinologisch aktive Substanzen

 

Besondere Aufmerksamkeit richten die Ökologen auf natürliche oder synthetische Hormone, die als Arzneistoffe eingesetzt werden. Schon seit längerem stehen diese im Verdacht, bei männlichen Fischen Veränderungen hervorzurufen, die zur Bildung weiblicher Geschlechtsorgane führen. Dies wurde bislang vor allem bei Flussfischen, neuerdings aber auch bei Meeresfischen beobachtet.

 

Im Rahmen von PAKT untersuchten Wissenschaftler des IGB die Auswirkungen des in oralen Kontrazeptiva enthaltenen Gestagens Levonorgestrel. Die Wissenschaftler überprüften steigende Konzentrationen von Levonorgestrel an der Wandermuschel (Dreissena polymorpha) und beobachteten, wie sich Biomarker für Biotransforma­tion, Ausscheidung, antioxidative Aktivität und Proteinaufbau verändern. Je mehr Hormon die Forscher einsetzten, desto mehr Enzyme wie Glutathion-S-Transferase bildete die Muschel, offenbar um Ausscheidungsprozesse anzustoßen. Auch Schäden der Proteinsynthese fielen den Wissenschaftlern auf: Die Wandermuschel stellte deutlich mehr Hitzeschockproteine her, deren Aufgabe es ist, an der Formgebung und Faltung von Proteinen mitzuwirken und so die zellulären Funktionen aufrechtzuerhalten (9, 10). »Besonders überrascht hat uns, dass Levonorgestrel auch die Entwicklung der Schilddrüse von Fröschen beeinträchtigt«, berichtet Kloas.

 

Antibiotika in der Kläranlage

 

Neben den endokrinologisch wirksamen Substanzen stehen vor allem Antibiotika im Fokus der Ökologen. Auf der ganzen Welt wurden in gereinigtem Abwasser Antibiotika nachgewiesen, was erhebliche Probleme nach sich ziehen könnte. Zum einen beeinträchtigen Antibiotika im Abwasser möglicherweise die biologische Abwasserreinigung und greifen Mikroorganismen im Wasser und in den Böden an. Zum anderen kann die Verbreitung von Antibiotika in der Umwelt zur Entwicklung resistenter Bakterien führen und das Entstehen von Mehrfachresistenzen fördern.

Antibiotika gelangen auf unterschiedlichen Wegen in die Gewässer. In der Humanmedizin werden Antibiotika vom Patienten zum Teil unverändert, zum Teil in Form ihrer Metaboliten ausgeschieden. Werden sie in der Abwasserreinigung nicht vollständig entfernt, können sie in Fließgewässer oder auch ins Grundwasser gelangen. Veterinär­antibiotika versickern oder werden in Flüsse und Seen geschwemmt, wenn Antibiotika-haltiger Mist oder Gülle auf landwirtschaftliche Nutzflächen ausgebracht werden (5, 11).

 

»Während Penicilline in Kläranlagen rasch gespalten werden, scheint der Abbau von Cephalosporinen problematischer zu sein«, berichtet Professor Dr. Klaus Kümmerer von der Leuphana-Universität in Lüneburg. »Kritisch zu werten sind vor allem Sulfonamide, Chinolone, Tetracycline und Makrolide. Wir wissen noch wenig darüber, wie sich diese Substanzen, aber auch eventuell toxische Abbauprodukte auf das Ökosystem auswirken. Gefahren für gesunde Menschen sehe ich derzeit nicht, aber für immunsupprimierte Patienten sind sie wohl nicht auszuschließen.«

 

Inerte und hochtoxische Wirkstoffe

 

Ein Spezialfall unter Arzneimitteln stellen iodierte Röntgenkontrastmittel wie Iopromid oder Amidotrizoesäure dar, die der Mensch mit dem Urin unmetabolisiert ausscheidet. Auch in Kläranlagen werden sie kaum eliminiert. Die in Gewässern gemessenen Konzentrationen liegen im Mittel im Bereich von wenigen Milliardstel bis zu einigen Millionstel Gramm pro Liter. Die höchsten Konzentrationen wurden in den ufernahen Grundwässern gefunden. Ihre extrem gute Grundwassergängigkeit ist vermutlich Folge ihrer hohen Polarität sowie der biochemischen Stabilität.

 

Die LANUV-Studie zeigte keine Wirkungen von Röntgenkontrastmitteln auf aquatische Organismen. Das ist auch plausibel, da sie aufgrund ihrer chemischen Inertheit für die Röntgendiagnostik eingesetzt werden. Allerdings können sich die Substanzen gerade wegen ihrer Persistenz in der Umwelt anreichern. Was das langfristig bedeutet, ist noch wenig erforscht (12).

 

Ganz anders ist die Situation bei den Zytostatika, die schon in geringen Konzentrationen auf verschiedene Organismen sehr spezifisch wirken. So beeinträchtigte Fluorouracil bereits im Bereich von wenigen Mikrogramm pro Liter das Wachstum von Algen (13, 14). Hier sind weitere Forschungen dringend nötig.

 

Risikobewertung vor der Zulassung

 

Auch die Politik hat die Auswirkungen von Pharmaka auf die Umwelt im Blick. Die EU-Richtlinie 2004/27/EG (15, 16) schreibt sowohl für Veterinär- als auch für Humanarzneimittel vor, bei Neuzulassungen das Umweltrisiko zu bewerten. Die fachliche Bewertung der Umweltverträglichkeitsprüfung (UVP) obliegt in Deutschland dem Umweltbundesamt (UBA), das den Arzneistoff in Abstimmung mit dem für die Arzneimittelzulassung zuständigen Bundesinstitut für Arzneimittel und Medizinprodukte (BfArM) bewertet.

 

Die Einschätzung des Umweltrisikos erfolgt in zwei Stufen. In der ersten Phase wird die Umweltkonzentration überschlägig bestimmt (Predicted Environmental Concentration, PEC). Dabei werden die jährliche Produktionsmenge des Arzneistoffs sowie ein aus der Verbreitung errechneter Faktor einbezogen, außerdem die Abwassermenge pro Einwohner und die zu erwartende Verdünnung. Ergibt diese Berechnung eine PEC unter 0,01 μg/l und liegen keine anderen Anhaltspunkte für eine Umweltgefährdung vor, wird die Sub­stanz nicht weiter untersucht.

Ergibt sich eine PEC über 0,01 μg/l oder liegen Hinweise auf eine Umweltrelevanz auch in niedrigeren Konzen­trationen vor, wird der Wirkstoff weiter geprüft. Dazu stellt der Hersteller die chemischen Parameter der Substanz zusammen, überprüft die Bioabbaubarkeit des Arzneistoffs und untersucht die Ökotoxizität meist an je einer Art von Algen, Wasserflöhen und Fischen.

 

Eine Umweltverträglichkeitsprüfung müssen nur neu zugelassene Medikamente durchlaufen. Arzneimittel, die ihre Zulassung vor dem Inkrafttreten der EG-Vorschriften zu Umweltprüfungen erhalten haben, brauchen die Prüfung nicht nachzuholen. »Allerdings sind es gerade die älteren Arzneistoffe wie Carbamazepin oder Diclofenac, die wir in den verschiedenen Gewässern in oft erheblichen Mengen vorfinden«, macht von Tümpling deutlich.

 

Zulassung auch bei Umweltrisiko

 

Wird bei der Bewertung der Zulassungsunterlagen ein hohes Umweltrisiko festgestellt, führt dies nicht zur Ablehnung des neuen Medikaments. Die Zulassung kann jedoch Auflagen enthalten. In der Praxis beschränken sich die Auflagen auf Hinweise zu den festgestellten Umweltrisiken auf der Packungsbeilage sowie in der Fachinformation. Bei Veterinärpharmaka ist die Gesetzeslage anders: Liegt ein erhebliches Umweltrisiko vor, kann die Zulassung verweigert beziehungsweise auf bestimmte Anwendungsbereiche beschränkt werden.

 

Ein Beispiel für eine Umweltauflage bei Humanarzneimitteln ist das als Kontrazeptivum zugelassene Pflaster mit den Wirkstoffen 17α-Ethinyl­estradiol und Norgestrel. Da transdermale Systeme deutlich mehr Wirkstoff enthalten, als während der Anwendung abgegeben wird, muss das gebrauchte Pflaster speziell entsorgt werden. Dem Fertigarzneimittel liegt ein Entsorgungsbeutel bei mit dem Hinweis, das benutzte Pflaster in die geöffnete Folie zu kleben und den Beutel zu verschließen. Fachinformation und Beipackzettel schreiben weiter vor, dass alle benutzten oder unbenutzten Pflaster gemäß den nationalen Anforderungen entsorgt oder in einer Apotheke abgegeben werden müssen. Benutzte Pflaster dürfen nicht in die Toilette oder in Entsorgungssysteme für Flüssigkeiten geworfen werden (8).

 

Das Umweltbundesamt befürwortet eine klare Risikokommunikation bei umweltgefährdenden Medikamenten in Form einer Klassifizierung, wie sie in Schweden praktiziert wird (17). Anhand des Verhältnisses der Umweltkonzen­tration (PEC) zu der Konzentration eines Stoffes, bis zu der sich keine Auswirkungen auf die Umwelt zeigen (PNEC), werden Medikamente drei Kategorien zugeordnet: Die Verwendung des Arzneimittels ist entweder mit unbedeutendem, geringem oder moderatem Umweltrisiko verbunden. Arzt und Apotheker sowie Patient und Verbraucher können so die Umweltrisiken verschiedener Wirkstoffe miteinander vergleichen.

 

Besser entwickeln, entsorgen und aufbereiten

 

»Langfristig kann der Eintrag von Arzneimitteln in die Umwelt am besten verringert werden, wenn der Aspekt der Umweltverträglichkeit schon bei der Entwicklung einer neuen Substanz berücksichtigt wird«, erläutert Professor Kümmerer. Beim Design eines neuen Wirkstoffs können die ökologischen Eigenschaften einer Substanz gleich mit eingeplant werden. Wenn bekannt ist, welche chemischen Teilstrukturen eines Moleküls günstig für die erwünschte Stabilität, aber auch günstig für einen schnellen Abbau in der Umwelt sind, kann die Molekülstruktur gezielt in beide Richtungen optimiert werden (1).

Dass dieses Konzept umsetzbar ist, zeigt das Beispiel der Zytostatika Ifosfamid und dessen Weiterentwicklung Glufosfamid: Die neue Substanz ist nicht nur besser biologisch abbaubar als der ältere Arzneistoff, sondern wird auch im Darm leichter aufgenommen. Bei Glufosfamid wurden Zuckermoleküle an die Grundstruktur von Ifos­famid angefügt.

 

Auch durch eine sichere Arzneimittelentsorgung kann der Eintrag von Arzneistoffen in die Umwelt vermindert werden. Zwar sind nach geltendem Gesetz Arzneimittel bis auf wenige Ausnahmen wie Zytostatika kein Sondermüll und können daher grundsätzlich mit dem Hausmüll entsorgt werden. Doch das setzt voraus, dass Arzneimittelreste tatsächlich nur im Müll und später in der Müllverbrennungsanlage landen.

 

Eine Umfrage des Umweltbundesamts aus dem Jahr 2004 zeigte jedoch, dass jeder siebte Bürger Arzneimittel zumindest gelegentlich über den Ausguss oder die Toilette entsorgt, bei flüssigen Arzneimitteln sogar jeder zweite. Um das verhindern, ist nach Auffassung des Umweltbundesamts die Einrichtung eines verbindlichen Entsorgungsstandards notwendig. Eine einheitliche Regelung zur Rückgabe von Arzneimitteln über die Apotheken könne verhindern, dass sie falsch entsorgt werden und vielleicht in die Hände von Kindern gelangen (4). Schon mit einer besseren Compliance, therapiegerechten Packungsgrößen sowie einer Verankerung von umweltbewusstem Umgang mit Arzneimitteln in Aus-, Fort- und Weiterbildung von Ärzten und Apothekern könne in Zukunft viel erreicht werden, ergänzt Dr. Ralph Göbel von der ABDA.

 

Schließlich kann die Wasserwirtschaft den Eintrag von Arzneistoffen in die verschiedenen Gewässer über bessere Technologien senken. So tragen eine dem Klärprozess nachgeschaltete Aktivkohlebehandlung sowie eine Ozonbehandlung dazu bei, Durchbrüche von Arzneistoffen in Grund- und Trinkwasser zu vermeiden. In besonderen Fällen kann eine Nanofiltration problematische Arzneistoffe aus dem Abwasser fischen; dieses Verfahren ist effektiv, jedoch technisch aufwändig und teuer (17, 18, 19).

 

Werte auf dem Prüfstand

 

Wie sich Arzneimittelrückstände auf die Flora und Fauna von Flüssen und Seen auswirken, wird erst seit wenigen Jahren systematisch untersucht. Doch die Frage nach den ökologischen Auswirkungen des Arzneimittelkonsums wird sich in den nächsten Jahren drängender stellen, denn in Zukunft werden noch mehr Arzneimittel benötigt werden. Die Menschen werden älter, und in rasch wachsenden Wirtschaftsnationen wie China steigen der Lebensstandard und damit der Verbrauch an Medikamenten.

 

Dramatische Schäden an der Natur wie das Geiersterben in Asien lassen sich trotz aller Bemühungen auch in Zukunft nicht völlig ausschließen. Es ist unmöglich, im Vorfeld abzuschätzen, ob einzelne Tier- und Pflanzenarten schon in geringen Konzentrationen besonders empfindlich auf einen bestimmten Wirkstoff reagieren werden. »Gleichwohl sollten wir alle Anstrengungen unternehmen, um das Trinkwasser zu schützen«, mahnt von Tümpling. »Welchen Wert wir der Natur und damit auch sauberen Gewässern einräumen und welchen Einsatz, auch monetärer Art, wir dafür zu leisten bereit sind, ist eine gesellschaftliche Frage.« /

Literatur

<typolist type="1">

Stellungnahme per E-Mail von Riccardo Amato, Umweltbundesamt am 24. 08. 2011.

Bund/Länderausschuss für Chemikaliensicherheit (BLAC), Arzneimittel in der Umwelt. Auswertung der Untersuchungsergebnisse. Bericht an die 61. Umweltministerkonferenz (UMK), Hamburg 2003.

Keil, F., Strategien zum Umgang mit Arzneimitteln im Trinkwasser. Institut für sozial-ökologische Forschung (ISOE) GmbH, Forschungsprojekt start. www.start-project.de; August 2008.

Kümmerer, K., The presence of pharmaceuticals in the environment due to human use – present knowledge and future challenges. J. Environmental Management 90 (2009) 2354-2366.

Brack, W., Giftige Chemikalien in unseren Gewässern – ein Problem von gestern? UFZ-spezial 6 (2011) 9.

Europäische Wasserrahmenrichtlinie und ihre Umsetzung in Deutschland. www.bmu.de/binnengewaesser/gewaesserschutzpolitik/europa/doc/3063.php

Evra® Fachinformation, Stand Dez. 2009.

Contardo-Jara, V., et al., Molecular effects and bioaccumulation of levonorgestrel in the non-target organism Dreissena polymorpha. Environmental Pollution (2010) 1-7.

Lorenz, C., et al., The synthetic gestagen levonorgestrel impairs metamorphosis in Xenopus laevis by disruption of the thyroid system. Toxicol. Sciences 123, Nr. 1 (2011) 94-102.

Kümmerer, K., Antibiotics in the aquatic environment – A review. Part I and II. Chemo­sphere 75 (2009) 417-434; 435-441.

Steger-Hartmann, T., et al., Investigations into the environmental fate and effects of iopromide (ultravist), a widely used iodinated X-ray contrast medium. Wat. Res. 36 (2002) 266-274.

Junker, T., Seck, C., 5-Fluorouracil: A study on the toxicity to blue-green algae (Anabaena flos-aquae). In: Straub, J. O., Combined Environmental Risk Assessment for 5-Fluorouracil and Capecitabine in Europe. Integr. Environ. Assess. Manag. 6 (2009) 540-566.

Kümmerer, K., et al., Umweltrisikobewertung von Zytostatika; Texte Umweltbundesamt (06/09)

European Agency for the Evaluation of Medicinal Products (EMEA), Note for guidance on environmental risk assessment of medicinal products for human use. Rapport No. CPMP/SWP/4447/00 draft. London, UK 2003.

Richtlinie 2004/27/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 31. März 2004 zur Änderung der Richtlinie 2001/83/EG zur Schaffung eines Gemeinschaftskodexes für Humanarzneimittel.

Environmentally Classified Pharmaceuticals, The National Corporation of Swedish Pharmacies, Stockholm County Council and Stockholm University. Jan. 2011, www.janusinfo.se/environment; www.fass.se/LIF/RootMedia/Pdf/2007%20Environmental%20classification%20guidance%20document.pdf

Reddersen, K., Das Verhalten von Arzneimittelrückständen im Wasserkreislauf Berlins. Fakultät III – Prozesswissenschaften der Techn. Univ. Berlin, Diss. 2004.

Ternes, Th., et al., Assessment of Technologies for the Removal of Pharmaceuticals and Personal Care Products in Sewage and Drinking Water Facilities to Improve the Indirect Potable Water Reuse. Contract No. EVK1-CT-2000-00047; www.eu-poseidon.com

 

Die Autorin

Hannelore Gießen studierte Pharmazie an der Universität Karlsruhe. Nach mehrjähriger Tätigkeit in öffentlichen Apotheken und einer journalistischen Ausbildung ist sie seit 1990 freiberuflich als Fachjournalistin tätig und bearbeitet medizinische, pharmazeutische und biotechnologische Themen für verschiedene Fachzeitschriften. Gießen hat sich zur Apothekerin für Allgemeinpharmazie weitergebildet und ist Mitarbeiterin in einer öffentlichen Apotheke.

 

Hannelore Gießen, Gotenstraße 9, 85551 Kirchheim, E-Mail: hannelore.giessen(at)t-online.de

Mehr von Avoxa