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Amazonas

»Helfende Flügel« am Fluss

06.11.2012  12:27 Uhr

Von Hannelore Gießen, Brasilien / An den verschlungenen Flussläufen des Amazonas liegen mehr als 30 000 kleine Dorfgemeinschaften, die nächste Stadt ist weit entfernt. Erkrankt einer der Bewohner am Fluss, kommt Hilfe per Flugzeug oder Boot.

»Wir versuchen, möglichst viele Siedlungen regelmäßig zu besuchen, um schnell für medizinische Hilfe zu sorgen«, sagt Lucy Janes Ferreira Bessa Johnson, die bei der Hilfsorganisation Asas de Socorro als Krankenschwester tätig ist. Sie begleitet uns, eine Gruppe deutscher Wissenschaftsjournalisten, auf unserer Fahrt auf dem Amazonas. Asas de Socorro bedeutet »Helfende Flügel«, denn neben einem Boot verfügt die brasilianische christliche Hilfsorganisation auch über mehrere kleine Flugzeuge für Rettungseinsätze. Sie bringen Ärzte, Zahnärzte und Krankenschwestern in entlegene Dörfer mitten im unzugänglichen Amazonas-Gebiet.Johnson verwaltet auch die Arzneimittel in der Station in Manaus. »Wir bekommen die Medikamente von der Regierung oder über verschiedene Hilfsorganisationen wie Terre des Hommes«, berichtet die Krankenschwester, die gemeinsam mit ihrem Mann, einem US-Piloten, für Asas de Socorro tätig ist.

 

Schmerzmittel und Antibiotika

 

Spontan fallen mir große Behälter mit Wirkstoffen wie Paracetamol, Cefixim und Amoxicillin ins Auge. Wenn wir mit dem Schiff oder Flugzeug die Menschen hier am Amazonas besuchen, brauche ich vor allem Schmerzmittel, aber auch Entwurmungsmittel, so Johnson. »Viele schlecht versorgte Menschen benötigen auch Vitamine. Mitunter erkranken die Bewohner der Flussdörfer an schwereren Infektionen des Magen-Darm-Traktes, der Haut oder der Atemwege. Dann kommen wir möglichst bald mit einem Arzt vorbei, der die genaue Diagnose stellt und Medikamente verordnet. Seit zwei Jahren sind Antibiotika auch in Brasilien verschreibungspflichtig.«.

 

Inzwischen gibt es eine Datenbank mit mehr als 1500 Personen aus ganz Brasilien, die in ihrer Freizeit an einem Asas-Einsatz teilnehmen. »Überwiegend sind es Ärzte und Krankenschwestern, doch es melden sich auch immer wieder Apotheker, die uns mit ihrem pharmazeutischen Wissen unterstützen«, informiert Johnson.

Wir sind mit dem Klinikboot unterwegs zu einer Siedlung mit dem klangvollen Namen São Francisco, in der etwa 50 Familien leben. Mit an Bord sind der Leiter der Asas-Station in Manaus, Zahnarzt Marco Manzano sowie eine junge Zahnärztin. Das Boot wird schon ungeduldig erwartet. Die 73-jährige Denilda Ferreira da Conceição begrüßt uns. Vor vielen Jahren hat sie das Dorf gegründet. Früher war sie als Lehrerin und später in der Verwaltung von Manaus tätig, gut zwei Stunden mit dem Boot entfernt. Jetzt, im Ruhestand, sorgt da Conceição mit ihrer Rente für die Bewohner, die kein regelmäßiges Einkommen haben. »Wir helfen hier alle zusammen. Zurzeit ist das besonders wichtig, denn bei der letzten Überschwemmung hat der Amazonas alle Felder überflutet und wir mussten Reis, Maniok, aber auch alles Gemüse in Manaus kaufen«, berichtet da Conceição. In ihrer Stimme schwingen Trauer, aber auch Ergebenheit in die Gewalt der Natur mit, der sie als Bewohner am Fluss unterworfen sind.

 

Karius und Baktus in Brasilien

 

Neugierig kommen jetzt immer mehr Bewohner aus ihren Hütten in den Versammlungsraum, um den Besuch aus Deutschland zu sehen. Journalisten waren noch nie hier. Wir müssen viele Fragen beantworten, Johnson übersetzt.

Heute stehen die Kinder des Dorfes im Mittelpunkt: Zahnarzt Manzano und seine Kollegin inszenieren hinter einem Bettlaken ein Puppentheater. Mit verstellten Stimmen spielen die beiden Zahnmediziner die brasilianische Geschichte von Karius und Baktus. Die Kinder üben unter großem Gelächter: »Zuerst die unteren Zähne putzen, dann die oberen, schließlich die Backenzähne und zum Schluss die Zunge. Schaum ausspucken, und die Zähne sind sauber.«

 

Kräuter oder westliche Medizin

 

In ganz Amazonien lebt eine Million Menschen an den Ufern von 120 Flüssen, verstreut in kleinen Siedlungen, schätzt Johnson. Der Regenwald Amazoniens ist reich an Pflanzen, auch Heilpflanzen, sodass die Ureinwohner ihre eigene traditionelle Medizin entwickelt haben. Bis jetzt ist erst ein kleiner Teil der facettenreichen Vegetation des Regenwaldes bestimmt, und nur wenige Pflanzen wurden auf pharmakologisch interessante Inhaltsstoffe untersucht. Im Dickicht der tropischen Wälder liegen unermessliche botanische Schätze. Wie viele davon angesichts der fortschreitenden Zerstörung gehoben werden können, ist offen.

 

Die Bewohner am Amazonas, die Ribeirinhos, sähen ihre tradierten Heilmittel ambivalent, meint Johnson. »Die älteren Menschen kennen sich noch mit den Kräutern des Regenwaldes aus, doch die jüngeren wollen schnelle Hilfe und setzen auf westliche Medizin. Sie legen sich ein kleines Lager an, vor allem mit Schmerzmitteln, und versuchen so, über die Runden zu kommen, bis wir wieder mit dem Klinikboot an-legen«. / 

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