Wie sinnvoll sind Supplemente? |
10.09.2012 16:42 Uhr |
Von Annette Immel-Sehr / Der Wunsch, optimal für das ungeborene Kind zu sorgen, motiviert viele Schwangere, Nahrungsergänzungsmittel einzunehmen. Gleichzeitig sind sie oft verunsichert. Sind die Produkte hilfreich oder doch überflüssig oder gar schädlich? Ein wichtiges Beratungsfeld in der Apotheke.
Viele Schwangere wollen gesünder leben, um dem Ungeborenen optimale Bedingungen für ein gesundes Wachstum zu geben. Sie verzichten auf Alkohol und Rauchen und verzehren bewusst mehr Obst, Gemüse und Milchprodukte. Manchen Frauen gelingt die Umstellung nicht; sie haben deswegen oft ein schlechtes Gewissen. Andere sind unsicher, ob ihre Bemühungen ausreichen, oder glauben gar, ohne die Einnahme bestimmter Stoffe kein gesundes Kind austragen zu können. All diese Frauen gehören zur stark umworbenen Zielgruppe für Nahrungsergänzungsmittel. Mittlerweile gibt es ein breites Angebot, das sich speziell an Frauen mit Kinderwunsch, Schwangere und Stillende richtet. Was ist aus fachlicher Sicht notwendig?
Meist gut versorgt
In der Schwangerschaft steigt der Bedarf an einigen Nährstoffen, Vitaminen und Mineralstoffen physiologischerweise an. Diesen Mehrbedarf deckt eine abwechslungsreiche Ernährung bei den meisten Stoffen ohne Weiteres. Zudem sorgt der mütterliche Organismus selbst vor: So steigt in der Schwangerschaft beispielsweise die Resorptionsquote von Eisen im Darm.
Mit einer abwechslungsreichen Ernährung kann die Schwangere fast alle Nährstoffe in der erforderlichen Menge aufnehmen. Für Folsäure, Iod und Eisen ist das jedoch fast unmöglich.
Foto: Fotolia/Daniel Rajszczak
Manchmal reicht die übliche Ernährung allerdings nicht oder nicht sicher für eine optimale Versorgung von Mutter und Kind aus. Dies gilt im Wesentlichen für drei Stoffe: Folsäure, Iod und Eisen. Hier kann ein Nahrungssupplement sinnvoll oder sogar notwendig sein, um das Risiko von Fehlbildungen und Schwangerschaftskomplikationen zu senken. Für Vitamin D und Omega-3-Fettsäuren gibt es deutliche Hinweise, dass sich eine Supplementation vor allem im dritten Trimenon positiv auf die Entwicklung des Kindes auswirkt.
Die üblichen Empfehlungen für Supplemente beziehen sich in der Regel auf »normale« Schwangerschaften. Möglicherweise reichen diese aber nicht immer aus – etwa bei Mehrlingsschwangerschaften oder bei zwei und mehr Schwangerschaften in kurzer Folge. Besondere Aufmerksamkeit erfordern auch Frauen, die untergewichtig, chronisch krank oder alkoholabhängig sind. Auch Raucherinnen haben ein erhöhtes Risiko für einen Mangel an bestimmten Nährstoffen. Bei diesen Frauen sollte der Gynäkologe die zu supplementierenden Nährstoffe und deren Dosierung individuell festlegen.
An Iod fehlt es fast immer
In der Schwangerschaft steigt der Iodbedarf, da infolge der Hormonumstellung mehr Schilddrüsenhormone synthetisiert werden und auch die fetale Schilddrüse etwa ab der zwölften Schwangerschaftswoche selbst Hormone bildet. Zwar steigt der Bedarf nur um 15 Prozent, doch da die meisten Frauen schon vorher nicht optimal versorgt sind, besteht nun ein relevantes Defizit, das allein durch Seefisch und Iodsalz nicht zu beheben ist. Um die empfohlenen Mengen zu erreichen, müsste die Frau jeden Tag Seefisch essen. Hierzulande leisten zudem Milch und Milchprodukte, in geringerem Umfang auch Eier und Fleisch einen Beitrag zur Iodversorgung, da die Nutztiere über das Futter mit Iod versorgt werden. Besonders ausgeprägt kann der Iodmangel bei Veganerinnen sein, da sie keine tierischen Lebensmittel verzehren.
Eine inadäquate Iodzufuhr kann zu Strumabildung und Hypothyroxinämie bei Mutter und Kind führen. Die Kinder kommen schon mit einem Kropf zur Welt. Bereits eine geringe Vergrößerung der Schilddrüse kann unmittelbar nach der Geburt zu Atemstörungen und Schluckbeschwerden beim Neugeborenen führen. In der Schwangerschaft steigt das Risiko für Fehlbildungen und -geburten. Zusätzlich kann der Hormonmangel Wachstum, Knochenreifung und Gehirnentwicklung beeinträchtigen. Geistige Entwicklungsstörungen, wie sie bei schwerem Iodmangel auftreten, sind nach der Geburt meist nicht mehr rückbildungsfähig (3).
Forscher der Technischen Universität München untersuchten 2011, wie viele Schwangere supplementieren (1). Befragt wurden 522 Frauen nach der Entbindung in drei Kliniken im Raum München. Die Quote ist erstaunlich hoch: 97 Prozent hatten in der Schwangerschaft mindestens ein Supplement eingenommen, fast zwei Drittel auch vorher. Alter, Bildungsgrad, ethnische Abstammung und Zahl der Schwangerschaften hatten kaum Einfluss darauf. Auffallend waren die großen Schwankungsbreiten der Dosierungen: Folsäure zwischen 0,2 und 5 mg, Eisen sogar zwischen 4 und 600 mg am Tag. 85 Prozent der Frauen hatten im ersten Trimenon Folsäure eingenommen, nur gut ein Drittel schon vor der Schwangerschaft. Iod nahmen fast 80 Prozent während der Schwangerschaft ein, ein Viertel auch vorher. Rund zwei Drittel hatten Eisenpräparate eingenommen, obwohl nur etwa ein Drittel an einem Eisenmangel litt. Auch Magnesium zählte zu den Favoriten: Drei Viertel der Frauen supplementierten dieses Mineral, mehr als 40 Prozent nahmen Omega-3-Fettsäuren ein.
Eine Befragung von 165 Frauen in Berlin ergab 2009 etwas niedrigere Zahlen. Drei Viertel hatten in der Schwangerschaft Iod, etwas mehr noch Folsäure und knapp die Hälfte Eisen eingenommen. Vor der Konzeption hatten nur 5 Prozent Iod und 10 Prozent Folsäure eingenommen. Faktoren wie Rauchen, Bildungsgrad, Anzahl der Schwangerschaften, Vegetarismus und Lebenssituation hatten keinen Einfluss auf die Einnahme (2).
Die Fachgesellschaften empfehlen schwangeren und stillenden Frauen, 100 bis 150 µg Iod pro Tag zu supplementieren. Zusammen mit der Nahrung einschließlich iodiertem Speisesalz soll so der Zielwert von etwa 230 µg pro Tag erreicht werden. Iodsalz als alleinige Maßnahme reicht nicht aus, da man damit nur etwa 60 μg/Tag zuführt.
Um eine bedarfsgerechte Iodaufnahme zu erreichen und zugleich ein Zuviel zu verhindern, empfiehlt das Bundesinstitut für Risikobewertung, die Schwangeren nach ihren Iodquellen zu fragen. Eine Mehrfach-Supplementierung, etwa durch Iod-, Algen- und Multivitaminpräparate, ist zu vermeiden. Als sichere Gesamttageszufuhr gelten 500 μg. Eine Hyperthyreose bei latent vorhandener Schilddrüsenautonomie wird in der Regel erst durch Ioddosen ausgelöst, die weit im Milligramm-Bereich liegen.
Besteht Verdacht auf eine Schilddrüsenfehlfunktion, sollte ein Arzt dies vor jeder Form der Iodsupplementierung abklären. Idealerweise sollte die Frau die Einnahme eines Iodpräparats präkonzeptionell beginnen und bis zum Ende der Stillzeit fortsetzen (3).
Folsäure unbedingt ergänzen
Die Deutsche Gesellschaft für Ernährung (DGE) empfiehlt Erwachsenen eine tägliche Zufuhr von 400 µg Folat (4). Diese Menge erreichen nur knapp 20 Prozent der Menschen in Deutschland (5). Gründe sind vor allem ein ungenügender Verzehr von Gemüse und Obst sowie hohe Lagerungs- und Zubereitungsverluste. Die empfohlene Zufuhrmenge für Schwangere, nämlich 600 µg pro Tag, ist selbst mit einer gezielten Lebensmittelauswahl praktisch nicht zu schaffen. Um 600 µg Folsäure zu erreichen, müsste eine Schwangere beispielsweise täglich 250 g Kalbsleber, 400 g Spinat, 320 g Grünkohl oder 1300 g Erdbeeren verzehren – Lagerungs- und Zubereitungsverluste dieser als folatreich geltenden Lebensmittel sind dabei noch nicht berücksichtigt.
Neben der Ernährung können andere Faktoren eine Folat-Versorgung beeinträchtigen. So ist die Resorption etwa bei Darmerkrankungen wie Morbus Crohn, Colitis ulcerosa und Zöliakie gestört. Ferner schränken zahlreiche Medikamente die Bioverfügbarkeit von Folat ein. Dies gilt beispielsweise für Primidon, Diphenylhydantoin, Phenobarbital, Carbamazepin und Valproat. Frauen mit Kinderwunsch, die an Epilepsie leiden und einen dieser Arzneistoffe einnehmen, sollten mit ihrem Arzt über eine Supplementierung sprechen. Für Epileptikerinnen kann es sinnvoll sein, 4 bis 5 mg Folsäure pro Tag einzunehmen (6).
In älteren Publikationen findet man oft den Hinweis, dass orale Kontrazeptiva den Serum-Folatspiegel erniedrigen. Dies ist jedoch bei den heutigen »Pillen« mit deutlich niedrigerem Estrogenspiegel nicht mehr zu beobachten.
Als Folat bezeichnen die Ernährungswissenschaftler die in natürlichen Lebensmitteln vorkommenden Folat-wirksamen Verbindungen. Folsäure ist die synthetische Form des Vitamins. Die physiologische Wirksubstanz ist 5,6,7,8-Tetrahydrofolat (THF) beziehungsweise seine Derivate. THF wirkt als Coenzym bei einer Reihe von Transferreaktionen von C1-Einheiten wie Methyl- und Formylgruppen. Somit spielt es eine wichtige Rolle in der DNA- und RNA-Synthese. Zusammen mit Vitamin B12 ist es bedeutsam für den Abbau von Homocystein.
Grünes Gemüse und Salat sind gute Folatquellen. In der Schwangerschaft reicht die Folatzufuhr über die Ernährung aber nicht aus.
Foto: DAK
Große Interventionsstudien haben gezeigt, dass die präkonzeptionelle Gabe von Folsäure das Risiko eines Neuralrohrdefekts (NRD; Kasten) um bis zu 75 Prozent senken kann (7, 8). Da Folsäure auch in allen anderen Organsystemen für den Ablauf von Methylierungsreaktionen und für die DNA-Synthese erforderlich ist, liegt es nahe, dass eine ausreichende Versorgung auch für die Prävention anderer Fehlbildungen wichtig sein kann. Tatsächlich gibt es bedeutsame Hinweise, dass die Häufigkeit von angeborenen Herzfehlern, Fehlbildungen der ableitenden Harnwege sowie von Lippen-, Kiefer- und Gaumenspalten durch die perikonzeptionelle Einnahme von Folsäure sinkt (9–12).
Die Kausalität für einen Zusammenhang von Folat-Status und embryonalen Fehlbildungen wird indirekt durch die teratogene Wirkung von Folat-Antagonisten, zum Beispiel Trimethoprim, Carbamazepin, Phenytoin oder Phenobarbital, bestätigt (13). Nimmt die Frau in der Frühschwangerschaft Folat-Antagonisten ein, kann es zu den genannten Fehlbildungen kommen.
Als mögliche Ursache eines NRD wird ein erhöhter Homocystein-Spiegel vermutet. Diese neurotoxische Substanz könnte in der Frühschwangerschaft fruchtschädigend wirken. Bei hoher Folat-Zufuhr sinkt der Homocystein-Spiegel.
Aufgrund der überzeugenden Datenlage formulierten medizinische Fachgesellschaften bereits 1995 eine gemeinsame Empfehlung: Frauen, die schwanger werden wollen oder könnten, sollten täglich 400 µg Folsäure zur Prophylaxe einnehmen. Diese Supplementierung sollte spätestens vier Wochen vor der Schwangerschaft beginnen und mindestens bis zum Ende des ersten Trimenons beibehalten werden. Frauen, die früher einmal mit einem Kind schwanger waren, das einen Neuralrohrdefekt hatte, sollten über den gleichen Zeitraum täglich 4 mg Folsäure einnehmen.
Es gibt zwei Gründe für den frühen Beginn der Einnahme. Zum einen dauert es rund sechs Wochen, bis mit 400 µg Folsäure täglich ausreichend hohe Erythrozyten-Folatspiegel erreicht sind. Zum anderen entwickelt sich das Neuralrohr bereits in der Frühschwangerschaft.
Aufgrund der in Deutschland schlechten Versorgung mit Folsäure ist es sinnvoll, die Supplementation bis in die Stillzeit fortzusetzen. Gesundheitlich ist es unbedenklich, über längere Zeit 400 µg Folsäure täglich einzunehmen. Somit kann das Apothekenteam Frauen beruhigen, die nicht so schnell schwanger werden wie gewünscht: Selbst wenn sie zusätzlich mit Folsäure angereichertes Speisesalz verwenden oder Multivitaminsaft trinken, droht keine Gefahr. In einigen Ländern werden Lebensmittel wie Mehl und Nudeln obligatorisch mit Folsäure angereichert. Allein dadurch sank die Häufigkeit von NRD dort um 40 bis 50 Prozent (14).
Polymorphismen im Folat-Stoffwechsel
Bei den Genen für den Folsäurestoffwechsel sind verschiedene Polymorphismen bekannt. Eine genetische Veränderung an der Stelle 677 im Gen der Methylentetrahydrofolat-Reduktase führt in seiner homozygoten Form zu erniedrigten Folat- und in der Folge zu erhöhten Homocystein-Spiegeln. Bei homozygoten Frauen (etwa 10 Prozent der Bevölkerung) ist die Enzymaktivität um bis zu 70 Prozent, bei heterozygoten Frauen (circa 40 Prozent) um etwa 30 Prozent gemindert. Das hat Relevanz für Neuralrohrdefekte: Homozygote Frauen haben ein etwa doppelt so hohes, heterozygote ein schwach erhöhtes Risiko.
Der Begriff »Neuralrohrdefekt« ist sicher jedem Apotheker geläufig. Die Pathogenese und die verschiedenen Formen sind dagegen weniger bekannt. Ein kurzer Exkurs in die Embryologie (32).
In der dritten Lebenswoche entsteht im Embryo die Neuralplatte. Sie dellt sich zentral zu einer Rinne ein; dadurch wölbt sich auf jeder Seite ein sogenannter Neuralwulst hervor. Am 22. Tag beginnen die Neuralwülste sich in der Mitte zusammenzuschließen. Der Vorgang setzt sich in beide Körperrichtungen fort. Am 25. Tag verschließt sich das obere, zwei Tage später das untere Ende. Durch den Zusammenschluss entsteht das Neuralrohr. Sein Lumen bildet später den Zentralkanal des Rückenmarks. Im Gehirn bleibt es als Hirnventrikelsystem erhalten.
Wenn sich das Neuralrohr an einer Stelle nicht schließt, können schwere Defekte des zentralen Nervensystems resultieren. Das klinische Bild eines Neuralrohrdefekts (NRD) stellt sich verschieden dar.
Bei einem Anenzephalus hat sich der zerebrale Abschnitt des Neuralrohrs nicht geschlossen. Anstelle des Gehirns bildet sich eine degenerierte Gewebsmasse, die an der Oberfläche bloßliegt. Das Schädeldach fehlt. Die Enzephalozele beschreibt eine Verschlussstörung im Nacken. Es bildet sich eine ballonartige Vorwölbung unter der Haut.
Von Rachischisis sprechen Mediziner, wenn das Nervengewebe des Rückenmarks völlig bloßliegt und ein Hautüberzug fehlt.
Kinder mit Anenzephalus oder Rachischisis haben praktisch keine Überlebenschancen. Bei einer Enzephalozele hängt es von Größe und Ausmaß der prolabierten Hirnteile sowie von weiteren Hirnveränderungen ab, ob das Kind lebensfähig ist. Kleinere Enzephalozelen sind operabel. Häufig bleibt das Kind geistig behindert.
Bei einer Spina bifida (Offener Rücken) ist das Neuralrohr zwischen Lendenwirbelsäule und Kreuzbein offen geblieben. Rückenmarkshäute, zum Beispiel Dura mater und Arachnoidea (siehe Grafik), und Rückenmark wölben sich wie eine Blase durch die Wirbelsäulenöffnung hervor und sind nur von einem dünnen Häutchen bedeckt (Meningomyelozele). Fehlt der Verschluss des Wirbelbogens, sind Nervenfasern und Rückenmarkshäute aber von Haut bedeckt, spricht man von einer Spina bifida occulta. Bei leichten Formen ist lediglich eine grübchenförmige Einziehung sichtbar, manchmal auch nur eine Pigmentierungsanomalie oder ein Haarbüschel über dem Lumbalbereich. Diese Formen sind meist symptomlos.
Die Prognose der Spina bifida hängt von Lokalisation und Ausmaß des Defekts ab. Werden lebend geborene Kinder mit Spina bifida direkt nach der Geburt operiert, haben sie Aussicht auf eine unverminderte Lebenserwartung – allerdings mit einer mehr oder weniger schweren Behinderung. Heute versucht man, das Rückenmark bereits intrauterin zu verschließen.
Die Ursachen für einen NRD sind vielfältig. Neben einem Folsäure-Mangel scheinen sowohl genetische als auch Umweltfaktoren von Bedeutung zu sein.
Frauen mit Diabetes haben ein deutlich erhöhtes Risiko für Neuralrohrdefekte, das im Wesentlichen mit der perikonzeptionellen Stoffwechseleinstellung korreliert. Bei Kinderwunsch sollten sie daher die Stoffwechseleinstellung optimieren und Folsäure einnehmen (29).
Die Häufigkeit eines NRD wird in Deutschland auf circa 1 bis 2 pro 1000 Neugeborene geschätzt – ein flächendeckendes Erfassungssystem für angeborene Fehlbildungen gibt es in Deutschland nicht. Bei 712 000 Lebendgeburten (2004) errechnet sich so eine Zahl von 700 bis 1400 betroffenen Kindern pro Jahr (30). Wie viele Schwangerschaften wegen NRD abgebrochen werden, ist nicht genau bekannt. Das Risiko eines NRD kann durch eine perikonzeptionelle Folsäure-Einnahme erheblich (bis zu 75 Prozent) gesenkt werden. Ein Restrisiko bleibt jedoch.
In der Regel ist unbekannt, ob eine Frau diese Punktmutation hat. Um das NRD-Risiko bestmöglich zu senken, können Frauen auch das biologisch aktive 5-Methyl-Tetrahydrofolat (5-MHTF) supplementieren und damit die unter Umständen reduzierte enzymatische Umwandlung umgehen. 5-MHTF steht als stabile Calciumverbindung zur Verfügung (Beispiel: Metafolin®). Nach dessen Gabe steigen Plasma- und Erythrozytenfolatspiegel schneller an als nach Einnahme von Folsäure. Allerdings ist 5-MTHF teurer. In der Beratung sollte das Apothekenteam klären, ob die Frau bereit ist, für eine höhere Sicherheit mehr Geld auszugeben.
Für eine ausreichende Folsäure-Wirkung sind sowohl Vitamin B6 als auch Vitamin B12 erforderlich. Auch der Bedarf an diesen Vitaminen steigt in der Schwangerschaft. Eine Supplementation erscheint jedoch nicht dringend erforderlich, da die meisten Schwangeren die empfohlenen Zufuhrmengen über die übliche Kost erreichen (15). Vor allem bei Verzicht auf tierische Lebensmittel kann aber eine Supplementierung mit Vitamin B12 notwendig sein.
Omega-3-Fettsäure: fast bewiesen
Omega-3-Fettsäuren sind essenzielle Stoffe, die an vielen Stoffwechselreaktionen beteiligt sind. Sie kommen hauptsächlich in Meeresfisch und einigen Pflanzenölen vor. Für den Organismus sind vor allem die Eicosapentaensäure (EPA) und die Docosahexaensäure (DHA) von Bedeutung, die ineinander verstoffwechselt werden. Die DGE empfiehlt Schwangeren und Stillenden, durchschnittlich mindestens 200 mg Docosahexaensäure (DHA) pro Tag aufzunehmen, vorzugsweise aus zwei Portionen fettem Meeresfisch pro Woche, zum Beispiel Hering, Makrele, Lachs, Sprotte und Sardine.
Fetter Fisch: eine gute Quelle für Omega-3-Fettsäuren und Vitamin D
Foto: Fotolia/Victoria P
Da nicht alle Schwangeren zweimal in der Woche Fisch essen wollen oder können, greifen sie häufig zu Nahrungsergänzungsmitteln. Dabei wird immer wieder diskutiert, ob Fischöl- oder DHA-Präparate auch Dioxine, polychlorierte Biphenyle (PCB) und Schwermetalle enthalten. Nach den Erfahrungen der Untersuchungsämter und einer Analyse von Ökotest aus dem Jahr 2010 ist diese Sorge unbegründet (16). Fischöle, aus denen DHA gewonnen wird, sind hochgradig aufbereitet.
DHA und andere Omega-3-Fettsäuren sind während der Schwangerschaft insbesondere für die Entwicklung von Gehirn und Sehvermögen des Kindes unentbehrlich. Allerdings gibt es gegenwärtig (noch) keine überzeugende Evidenz, dass Supplemente mit Omega-3-Fettsäuren visuelle oder neurologische Funktionen verbessern (17). Sie können aber das Frühgeburtsrisiko senken (18). Zudem gibt es deutliche Hinweise, dass der Verzehr von Fisch und Omega-3-Fettsäuren in Schwangerschaft und Stillzeit das Kind vor allergischen Erkrankungen schützen kann (19, 20).
Eisen nicht immer supplementieren
Erwachsene in Deutschland nehmen durchschnittlich 13 bis 14 mg Eisen pro Tag auf und erreichen damit meist die Empfehlung der DGE von 15 mg täglich für menstruierende Frauen. In der Schwangerschaft steigt der Bedarf beträchtlich. Sowohl der Fetus als auch die Plazenta nehmen Eisen auf. Zudem steigt das mütterliche Blutvolumen. Um dem erhöhten Bedarf zu entsprechen, müsste die Frau über die Nahrung täglich 30 mg Eisen zuführen. Dies ist allerdings kaum zu realisieren (4). Selbst große Fleischportionen liefern relativ wenig Eisen. So enthalten 200 g Schweinehackfleisch 6 mg Eisen, mageres Rindfleisch 4,2 mg, Kotelett 2,6 mg, Hähnchenbrust 2,2 und Putenkeule 4,0 mg.
Eisenmangel betrifft knapp die Hälfte der Schwangeren, eine Eisenmangelanämie etwa 9 Prozent. Bei zu niedrigem Hämoglobinwert besteht die Gefahr, dass das Kind mit Sauerstoff unterversorgt wird. Die Folgen können Geburtskomplikationen, geringeres Geburtsgewicht und Entwicklungsverzögerungen sein (21, 22). Die Schwangere empfindet die Anämie oft als erhebliche Einschränkung der Lebensqualität und Leistungsfähigkeit.
Trotzdem empfehlen die Fachgesellschaften keine generelle Supplementierung mit Eisen-Präparaten. Denn auch ein Zuviel kann schädlich sein. Ein sehr hoher Hämoglobinwert führt ebenfalls zu einer Minderversorgung des Fetus über die Plazenta und ist mit einem geringen Geburtsgewicht und den daraus resultierenden Komplikationen verbunden (2). Zudem sind Experten heute vorsichtig mit zu viel Eisen: Der Mineralstoff wird als Promotor von Herzinfarkt und Krebserkrankungen diskutiert.
Bei der Schwangeren-Vorsorge wird der Hämoglobinspiegel regelmäßig bestimmt. Ab einem Wert unter 11,0 g/dl verordnen Gynäkologen in der Regel ein Eisenpräparat. Bei der Beratung sollte das Apothekenteam daran denken, dass relevante Wechselwirkungen vor allem mit Gyrasehemmern und L-Thyroxin auftreten können.
Eisenpräparate sind bei Schwangeren nicht beliebt, da sie häufig zu Magenbeschwerden oder Obstipation führen. Neuere Untersuchungen haben gezeigt, dass eine Änderung des Einnahmerhythmus die Probleme reduzieren kann. Nahmen die Frauen Eisen nicht täglich, sondern nur ein- bis dreimal pro Woche ein, traten weniger Nebenwirkungen auf und die Hämoglobinspiegel waren seltener zu hoch. Die gewünschte Wirkung hinsichtlich Frühgeburten und Geburtsgewicht war nicht beeinträchtigt (23).
Vitamin D aktuell in der Diskussion
Die deutsche, österreichische und schweizerische Ernährungsgesellschaft haben ihre Referenzwerte für die Vitamin-D-Versorgung Anfang des Jahres erheblich angehoben – für Erwachsene beispielsweise von 5 auf 20 µg pro Tag. Auch für Schwangere werden nun 20 µg/Tag empfohlen (24).
Zu den Vitamin-D-reichen Lebensmitteln zählt vor allem Seefisch. Allerdings ist der Vitamingehalt recht unterschiedlich: Während Hering mit 27 µg/100 g sehr reich ist, enthalten Thunfisch und Makrele nur rund 4 µg/100 g. Sprotten und Lachs liegen mit 20 µg und 16 µg Vitamin D pro 100 g im oberen Bereich. In geringerem Maß sind auch Eier, Champignons und angereicherte Streichfette nennenswerte Vitamin-D-Lieferanten. Champignons und Pfifferlinge enthalten etwa 2 µg/100 g, Steinpilze 3 µg/100 g. Ein Hühnerei liefert ungefähr 1,7 µg.
Ein Platz an der Sonne: gut fürs Gemüt und die Vitamin-D-Versorgung
Foto: TK
Die Vitamin-D-Versorgung des Menschen erfolgt allerdings nur zu einem Teil über die Nahrung. Ein Großteil wird endogen in der Haut unter UVB-Lichtexposition gebildet. Man schätzt, dass Jugendliche und Erwachsene mit den üblichen Lebensmitteln 2 bis 4 μg Vitamin D pro Tag aufnehmen. Bei häufigem Aufenthalt im Freien und Sonneneinstrahlung kann die gewünschte Vitamin-D-Versorgung erreicht werden.
Personen, die sich bei Sonnenschein kaum draußen aufhalten oder stets Sonnenschutzmittel verwenden, sowie Menschen mit dunkler Hautfarbe sollten zur Sicherstellung der Vitamin-D-Versorgung ein Präparat einnehmen, so die Fachgesellschaften (24). Dies gilt unabhängig von einer Schwangerschaft für alle Frauen.
Vitamin D ist für die Regulation der Calciumhomöostase und des Phosphatstoffwechsels und damit letztlich für die Knochengesundheit erforderlich. Seit Neuerem weiß man, dass es auch für die Gefäße, das Immunsystem und die Funktion der Plazenta wichtig ist. Ob der Vitaminstatus zufriedenstellend ist, lässt sich an der 25-Hydroxy-Vitamin-D-Konzentration im Serum ablesen. Mindestens 50 nmol/l werden als wünschenswert für die Knochengesundheit angesehen (24). Die Messung ist jedoch kein Bestandteil der derzeitigen Vorsorge-Untersuchungen.
Rachitis bei Mutter und Kind als Folge eines starken Vitamin-D-Mangels ist in der westlichen Welt heute selten. Dagegen rücken Auswirkungen einer leichten Minderversorgung mehr in den Blickpunkt. Diverse Studien weisen darauf hin, dass ein Vitamin-D-Mangel in der Schwangerschaft ein Risikofaktor für Präeklampsie oder Schwangerschaftsdiabetes, vaginale Infektionen, Frühgeburt und Kaiserschnittentbindung ist (25). Es gibt aber auch Studien, die dies nicht bestätigen (26).
In den USA empfiehlt das Institute of Medicine (IOM) eine tägliche Supplementation von 600 IU Vitamin D (entspricht 15 µg) während der Schwangerschaft (25). Eine Empfehlung einer deutschen Fachgesellschaft liegt bisher nicht vor. Es spricht aber einiges dafür, bei Schwangeren den 25(OH)- Vitamin-D-Wert zu bestimmen und bei erkanntem Mangel eine Supplementation zu beginnen.
Calcium und Magnesium: kein Standard
Calcium ist für die Knochenmineralisierung und eine optimale Wirkung von Vitamin D unentbehrlich. Die DGE sieht allerdings keinen erhöhten Bedarf in der Schwangerschaft. Über eine abwechslungsreiche Mischkost mit reichlich Milch und Milchprodukten ist die empfohlene tägliche Zufuhr von 1000 mg zu erreichen. Konkret könnte dies beispielsweise so aussehen: 1/4 l Milch, zwei Scheiben Gouda, zwei Scheiben Vollkornbrot und 200 g Brokkoli am Tag.
Auch der Magnesium-Bedarf einer Schwangeren lässt sich über die Ernährung normalerweise decken. Nahrungsmittel wie Hülsenfrüchte, Vollkornbrot, Käse, Nüsse und Milch sind gute Quellen. Die DGE empfiehlt Schwangeren, 310 mg Magnesium pro Tag aufzunehmen, dies sind nur 10 mg mehr als bei nicht schwangeren Frauen. Diese Differenz findet sich beispielsweise in einer halben kleinen Banane, einer halben Kiwi oder einem Becher Fruchtjogurt. Supplementiert wird in der Regel nur bei Wadenkrämpfen. Bei Beschwerden im Bein sollte die Frau zunächst zum Arzt gehen, da auch eine Thrombose oder eine Venenentzündungen die Ursache sein könnte.
Magnesium wird seit Längerem auch gegen eine Präeklampsie eingesetzt, allerdings ist die Wirksamkeit umstritten (27). Ebenso wird die intravenöse Gabe bei drohender Frühgeburt heute sehr kritisch gesehen, da die Wirksamkeit nicht erwiesen ist (28).
Konsequenzen für die Beratung
Nahrungsergänzungsmittel dürfen kein Freibrief für eine ungesunde Ernährung sein. Dies gilt natürlich auch für Schwangere. Gerade in der Schwangerschaft sind viele Frauen bereit, ihre Ernährungsgewohnheiten in Richtung einer ausgewogenen Mischkost mit viel Obst und Gemüse zu verändern. Diese Motivation sollten Apotheker beratend unterstützen. Möglicherweise behalten die Frauen die gesunde Kost auch nach der Geburt bei, weil sie ihnen schmeckt.
Auf die – möglichst schon präkonzeptionelle – Einnahme von Folsäure und Iod sollte keine Schwangere verzichten. Andere Supplemente sind aus heutiger Sicht ohne ärztlich gestützte Diagnose nicht notwendig. Es spricht aber vieles dafür, DHA (200 mg) und Vitamin D (600 IE) zu empfehlen. Weitere Vitamin- und Mineralstoff-Supplemente sind in der Regel entbehrlich. Eine fixe Kombination von Folsäure und Iodid fördert die Compliance. Ob ein Multivitaminpräparat sinnvoll ist, ist im Einzelfall zu entscheiden. Auf jeden Fall muss es mindestens 400 µg Folsäure je Einnahme-Einheit enthalten. Auf den Zusatz von Eisen sollte verzichtet werden, solange der Arzt keinen erniedrigten Hämoglobinwert festgestellt hat. /
Literatur bei der Verfasserin
Annette Immel-Sehrstudierte Pharmazie in Bonn und Frankfurt/Main. Nach der Approbation 1988 wurde sie mit einer Arbeit über ein pharmakologisches Thema am Pharmakologischen Institut für Naturwissenschaftler der Universität Frankfurt promoviert. Von 1992 bis 1999 war Dr. Immel-Sehr als Referentin für Aus- und Fortbildung bei der ABDA – Bundesvereinigung Deutscher Apothekerverbände tätig. Seither arbeitet sie freiberuflich als Beraterin für Wissenschafts-PR und als Fachjournalistin.
Dr. Annette Immel-Sehr, Behringstraße 44, 53177 Bonn-Bad Godesberg, E-Mail: ais(at)immel-sehr.de