Lebenshilfe für zehn Cent |
17.07.2012 14:02 Uhr |
Von Verena Arzbach / Ihren Alltag zu organisieren und in ein geregeltes Leben zurückzufinden, fällt Drogensüchtigen schwer. Bei der Drogenberatung Mudra in Nürnberg erhalten die Abhängigen lebensnahe Hilfsangebote. Der Gedanke dahinter: Hilfe soll begleiten, nicht bevormunden.
Zaghaft lugt die Sonne hinter den Wolken hervor. Auf der Straße im Herzen von Nürnberg begegnet man an diesem frühen Frühlingsmorgen keiner Menschenseele. Hier im Rotlichtviertel fühlt man sich wie in einer Geisterstadt. Heruntergekommene Kneipen und schäbige Sexclubs reihen sich rechts und links der Straße entlang aneinander, die bunten Leuchtschilder sind abgeschaltet. Nur am Ende der Straße erwacht langsam Leben. Fünf Männer aller Altersklassen stehen rauchend vor einem Café, Frauen in bunten Miniröcken stöckeln herum, alle reden laut durcheinander.
Beraten statt bevormunden: Der Verein vermittelt unter anderem Jobs oder betreute Wohngruppen nach der Therapie.
Foto: Fotolia/M.Schuckart
Um 10 Uhr öffnet der Kontaktladen der Mudra-Drogenhilfe in Nürnbergs Rotlichtviertel seine Türen. Die meisten Besucher sind Drogenkonsumenten, die hier frühstücken, waschen und duschen. Der Verein bietet Lebenshilfe und Perspektiven für Menschen, die kommen, weil sie nicht wissen, wohin sie sonst gehen sollen. Und er versorgt die Süchtigen mit Klamotten und Kondomen – alles kostenlos. Einmal in der Woche kommt ein Arzt vorbei. Ein fast zwei Meter großer, schlaksiger Mann geht an der Tür auf und ab, begrüßt hier und da ein paar Besucher. Er hat den Laden und die gesamte Straße im Blick. Robert ist Mitte 50, hat ein tiefgefurchtes Gesicht mit wachen blauen Augen. Seit fast 20 Jahren arbeitet er als Streetworker bei der Mudra. Die Junkies im Kontaktladen kennt er alle persönlich. »Bis zu 120 Leute kommen täglich hier vorbei, viele sind jeden Tag da.«
Spritzen und Kanülen umsonst
Bis auf mittwochs und sonntags hat das Café täglich drei Stunden lang geöffnet. Es ist die erste Anlaufstelle für Süchtige, ein niedrigschwelliges Angebot nennt es der Verein. Die Gäste bekommen Kaffee und Cola, ein Restaurant spendet Reste vom Vortag. Samstags gibt es Brunch mit Rührei. Jeder Junkie bekommt pro Tag drei sterile Spritzen und Kanülen umsonst. Desinfektionstupfer, steriles Wasser, Löffel und kleine Päckchen mit Ascorbinsäure, die man zum Zubereiten von Heroin braucht, bietet die Mudra für 5 bis 10 Cent im Laden an. Draußen vor der Tür kann man Spritzen wie Zigaretten am Automaten ziehen.
Alles kann, nichts muss
Der Boden ist grau und schmutzig, übersät mit Kaffeeflecken, zum Sitzen drei schwarze, verschlissene Ledersofas. Kalte Tische und Stühle aus Metall, an den Wänden gerahmte Strandfotos und Nürnberger Panorama. »Wer sich hier im Laden aufhalten will, muss klare Regeln beachten«, sagt Kerstin und reicht Nutella-Brot und Kaffee über die Theke. Kein Konsum, kein Handel, keine Gewalt. Meistens funktioniert das, nur drei Junkies haben lebenslang Hausverbot. Kerstin arbeitet dreimal in der Woche im Kontaktcafé. Sie ist Sozialpädagogin, Anfang 40, gepflegt, mit Dauerwelle und auffälliger Silberkette um den Hals – der Typ nette Hausmutter. Ihre Pflegekinder sind Prostituierte und schwere Jungs aus dem Drogenmilieu. Zusammen mit einer Praktikantin und einem Freiwilligen behält sie die Besucher im Blick. Rein, raus, rein – halt, kein Geschirr mit nach draußen nehmen. Es ist ein Kommen und ein Gehen, die Gäste wirken nervös, aber nicht aggressiv. Nur alle ein bis zwei Monate gibt es eine Schlägerei. »Als Frau muss man hier schon Durchsetzungsvermögen haben«, meint Kerstin.
Die Mudra-Drogenhilfe bietet Perspektiven für Menschen, die nicht wissen, wohin sie sonst gehen sollen.
Foto: Fotolia/Klaus-Peter Adler
Alles kann, nichts muss – so die Philosophie der Mudra. Der Begriff stammt aus dem indischen Sanskrit und beschreibt eine innere Veränderung, die nach außen hin sichtbar wird. Die Mudra schreibt Selbstbestimmung und Akzeptanz groß, niemand wird zur Behandlung gezwungen. »Wir wollen unsere Gäste nicht bevormunden, nicht zur Beratung drängen. Vom Konsum abhalten können wir sie sowieso nicht«, weiß die Sozialpädagogin. Der Verein hat vieles im Angebot: spezielle Therapien für männliche Muslime, betreutes Wohnen nach der Therapie, Jobs im Wald- und Holzbau oder Wandertouren über die Alpen. Doch auch wer alle Hilfsangebote ablehnt, ist im Café willkommen.
Im Laden wird Robert, der Streetworker, häufig angesprochen. Ein junger Mann schuldet seinen Gläubigern viel Geld, ein anderer hat schon zehn Entzüge hinter sich, ist nach zwei Wochen immer wieder »drauf«. Die Junkies sprechen über ihre Drogenprobleme wie über einen Schnupfen – Alltag im Kontaktladen. Robert ist ein sogenannter Ex-User, nahm früher selbst Heroin. Im Rausch brach er sich bei einem Autounfall das Genick. Nach Untersuchungshaft und jahrelanger Genesung machte er eine Therapie, ist seit damals »clean«, auch seinem Sohn zuliebe.
Er komme aus einer anderen Zeit, berichtet Robert. »Wir wollten damals unser Bewusstsein erweitern, wir waren gegen Amerika, gegen den Vietnamkrieg, wir waren Hippies.« Heute sei das Milieu eher geprägt von Frust und Elend. »Es geht ums Verdrängen und Vergessen. Oft war schon die Mutter medikamentenabhängig, die Kinder bekommen dann ihr Leben auch nicht auf die Reihe«, weiß der Streetworker.
Auf dem Schwarzmarkt ist stark verunreinigtes Heroin im Umlauf. »Du musst Ascorbinsäure dazunehmen, um den Stoff überhaupt erst rauszulösen«, fährt Robert fort. Auch die Szene sei heute eine andere. Heroin nach wie vor, aber ansonsten seien eher Medikamente, Schmerz- und Beruhigungsmittel gefragt. »20 Pillen, dazu drei Bier, dann fliegst du durch die Gegend«, sagt er.
2010 starben in Nürnberg 29 Junkies, fast doppelt so viele wie in den Jahren zuvor. Robert kannte die meisten von ihnen. Die Mütter tröstet er auf den Beerdigungen, ihren Kindern ginge es jetzt besser als im Leben, in der Szene. Manchmal ist er auf der Beerdigung auch der einzige Besucher. /