Wenn Essen das Leben bestimmt |
Essstörungen sind bei Mädchen und jungen Frauen verbreitet. In der Pandemie hat die Zahl der Erkrankten deutlich zugenommen. / Foto: Adobe Stock/Franz Pfluegl
Essstörungen haben ganz unterschiedliche Gesichter. Manche Betroffene sind extrem dünn, andere fettleibig, bei einigen zeigt die Waage auch Normalgewicht. Allen gemeinsam ist ein ungesundes Essverhalten. Unabhängig vom tatsächlichen Gewicht sind fast alle mit dem eigenen Körper unzufrieden und die Gedanken um die Nahrungsaufnahme bestimmen den Alltag. Auch wenn die Folgen einer Essstörung nicht immer sofort ins Auge fallen – sie können die Gesundheit und sogar das Leben ernsthaft bedrohen.
Besonders verbreitet sind Essstörungen bei jungen Mädchen: Laut einer Befragung des Robert-Koch-Instituts zeigt jede Dritte zwischen 14 und 17 Jahren erste Symptome, zwischen 11 und 13 Jahren ist es jede Fünfte. Bei den gleichaltrigen Jungen fanden sich bei etwa 12 Prozent entsprechende Hinweise. Die Lebenszeitprävalenz in der Gesamtbevölkerung beträgt rund 5 Prozent. Frauen bekommen die Diagnose 10- bis 20-mal häufiger als Männer. Fachleute halten es allerdings für möglich, dass männliche Betroffene seltener ärztliche Hilfe suchen und die Dunkelziffer deshalb bei ihnen höher liegt.
Ein typisches Kennzeichen fast aller Essstörungen ist die außergewöhnlich hohe Bedeutung, die Patientinnen und Patienten ihrem Körpergewicht und dem Essen zumessen. Zwar kommt es auch bei gesunden Menschen häufig vor, dass sie sich als zu dick empfinden. Bei einer Essstörung nehmen diese Gedanken aber wesentlichen Raum ein und beeinflussen die Nahrungsaufnahme in ungesunder Weise. Unbeschwertes genussvolles Essen ist nicht mehr möglich.
Die bekannteste und optisch auffälligste Essstörung ist die Anorexia nervosa (Magersucht). Wichtigstes Merkmal ist der selbst verursachte starke Gewichtsverlust.
Die Betroffenen sind meist deutlich untergewichtig, empfinden sich aber trotzdem als zu dick und unförmig. Um abzunehmen, halten sie strenge Ernährungsregeln ein: Sie essen nur sehr kleine Mengen und meiden fetthaltige oder kohlenhydratreiche Nahrungsmittel. Das Kalorienzählen und Mahlzeitenplanen bestimmen ihr Leben. Viele entwickeln Rituale wie sehr langsames Essen, Kleinschneiden und sorgfältiges Arrangieren der Speisen. Manche verwenden Appetitzügler wie Nikotin oder rezeptfrei erhältliche »Diätpillen« (Kasten). Um die aufgenommenen Kalorien schnell wieder loszuwerden, treiben einige exzessiv Sport, lösen nach einer Mahlzeit Erbrechen aus oder nehmen Laxanzien oder Diuretika ein (sogenanntes Purging-Verhalten; von englisch: to purge, reinigen).
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Die Zahlen sind besorgniserregend: Fast jeder zehnte Jugendliche hat mindestens einmal ein rezeptfrei erhältliches Abnehmpräparat genommen. Das belegt eine aktuelle Metaanalyse. Besonders beliebt waren Fettblocker und andere Diätpillen, auf den Plätzen 2 und 3 folgten Laxanzien und Diuretika. Daten aus Deutschland waren in der Analyse nicht enthalten.
»Wenn Teenager ein Mittel zum Abnehmen wollen, ist das ein Alarmzeichen«, sagt die Kinder- und Jugendpsychiaterin und -psychotherapeutin Beate Herpertz-Dahlmann. Ihrer Erfahrung nach halten viele beispielsweise Abführmittel für völlig harmlos. Das Apothekenpersonal sollte sie deshalb auf mögliche Nebenwirkungen hinweisen – etwa, dass die Mittel bei übermäßigem Gebrauch den Salzhaushalt im Blut verändern, Darmträgheit fördern und unter Umständen die Wirkung anderer Medikamente beeinträchtigen.
Rezeptfrei erhältlich ist auch der Lipasehemmer Orlistat (nur die 60-mg-Hartkapseln), der die Fettresorption im Darm hemmt und dadurch zur Gewichtsreduktion beiträgt. Das Arzneimittel darf nur bei Übergewichtigen ab 18 Jahren angewandt werden. Im Zweifelsfall sollte sich das Apothekenpersonal deshalb einen Ausweis zeigen lassen oder den Verkauf verweigern, empfiehlt die Expertin für jugendliche Essstörungen.
Weniger Einfluss hat die Apotheke bei verschreibungspflichtigen Präparaten wie dem appetithemmenden ADHS-Medikament Methylphenidat oder der »Abnehmspritze« Semaglutid. Auch Tirzepatid und Liraglutid können missbräuchlich angewendet werden. Auch sie werden mutmaßlich von Menschen mit einer Essstörung zur Gewichtskontrolle missbraucht.
Oft beginnt die Erkrankung während der Pubertät. Die Lebenszeitprävalenz beziffern Studien bei Frauen auf 4, bei Männern auf 0,3 Prozent.
Die anhaltende Mangelernährung bleibt nicht ohne Folgen. Sämtliche Organe sowie der Stoffwechsel und Hormonhaushalt werden in Mitleidenschaft gezogen – bis hin zu lebensbedrohlichen Zuständen.
Zu den äußerlich sichtbaren Begleiterscheinungen zählen neben dem auffälligen Untergewicht auch flaumige Körperbehaarung und bläuliche Fingerspitzen durch Minderdurchblutung. Bei Mädchen und Frauen versiegt die Regelblutung, bei Kindern verzögert sich die Menarche und es kommt zu teils gravierenden Entwicklungsstörungen.
Studien belegen, dass das Sterberisiko von Mädchen und Frauen mit Anorexia nervosa sechs- bis zehnmal so hoch ist wie bei ihren Altersgenossinnen – entweder durch Suizid aufgrund der psychischen Belastungen durch die Erkrankung oder durch die körperlichen Folgen der Unterernährung. Die Mortalitätsrate liegt weit höher als bei Depressionen oder anderen psychischen Erkrankungen: Innerhalb von zehn Jahren sterben etwa 10 Prozent der Betroffenen.