Wenn Essen das Leben bestimmt |
Noch vor 20 Jahren ging die Wissenschaft davon aus, dass die Hauptursache für Essstörungen in dysfunktionalen Familienbeziehungen liegt. Heute weiß man jedoch, dass die Veranlagung zu einem guten Teil erblich bedingt ist.
»Familienstudien zeigen, dass weibliche Angehörige von Patientinnen mit einer Essstörung ein zehnmal höheres Risiko haben, selbst daran zu erkranken«, sagt Herpertz-Dahlmann. Bisher seien acht relevante chromosomale Regionen mit insgesamt 121 Genen identifiziert worden. Eine starke genetische Korrelation bestehe zum Beispiel zu Zwangserkrankungen und depressiven Störungen.
Wahrscheinlich ebenfalls auf genetische Unterschiede zurückzuführen ist die Tatsache, dass schwarze US-Amerikanerinnen viel seltener eine Magersucht entwickeln als weiße. Die Binge-Eating-Störung scheint dagegen bei beiden Bevölkerungsgruppen gleich weit verbreitet zu sein.
Damit aus einer genetischen Veranlagung eine Erkrankung wird, braucht es jedoch einen oder mehrere Auslöser. Soziokulturelle Aspekte spielen dabei vermutlich eine wichtige Rolle (Kasten).
Foto: Adobe Stock/Matthewadobe
Als einer der stärksten Risikofaktoren für eine spätere Essstörung hat sich in Verlaufsstudien die Unzufriedenheit mit dem eigenen Körper erwiesen. Gefördert wird das durch das westliche, sehr auf Schlankheit fokussierte Schönheitsideal. Der Wunsch, diesem Ideal zu entsprechen, geht oft einher mit einem starken Fokus auf das Körpergewicht, mit restriktivem Essverhalten und Diäten. Diese Verhaltensmuster erhöhen nachweislich das Risiko für eine Essstörung.
Besonders gefährdet sind Studien zufolge Jugendliche, die viel Zeit auf Social Media verbringen. Offenbar verstärkt das Körperideal, das die oft stark bearbeiteten Bilder auf Instagram, TikTok und Co. vermitteln, den Druck zur Selbstoptimierung.
Bestimmte Persönlichkeitsmerkmale, vor allem Ängstlichkeit, Zwanghaftigkeit, Affektlabilität und ein geringes Selbstwertgefühl, können die Anfälligkeit erhöhen. Dies gilt ebenso für ein unsicheres Bindungsmuster und negative Lebensereignisse wie Mobbing oder Trauma-Erfahrungen.
Weit verbreitet sind Essstörungen in Berufen, in denen ein filigraner Körperbau gefragt ist, etwa bei Models, Tänzerinnen und Tänzern oder Jockeys. Leistungssport kann das Risiko einer Anorexie oder Bulimie ebenfalls erhöhen. In manchen Disziplinen wie Kunstturnen, Skispringen oder Eiskunstlauf schätzen Fachleute den Anteil der Aktiven mit gestörtem Essverhalten auf 40 bis 60 Prozent. Für sportinduzierte Essstörungen wurde in den 1980er-Jahren der Begriff Anorexia athletica geprägt, der sowohl anorektische als auch bulimische Formen umfasst.
Menschen mit einer Essstörung leiden überdurchschnittlich häufig an psychischen Begleiterkrankungen wie Depressionen, Angst- und Zwangsstörungen, Alkoholmissbrauch, Drogenkonsum oder ADHS. Autismus-Spektrum-Störungen sind oft mit ARFID assoziiert. Ungeklärt ist bisher aber, ob komorbide Störungen die Ursache oder die Folge einer Essstörung sind.