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Essstörungen

Wenn Essen das Leben bestimmt

Die Zahl der Menschen, die ein problematisches Essverhalten zeigen, ist in den letzten Jahren deutlich gestiegen. Hintergrund ist oft ein gestörtes Verhältnis zum eigenen Körper. Das kann gravierende gesundheitliche bis hin zu lebensbedrohlichen Folgen haben.
AutorKontaktClara Wildenrath
Datum 28.04.2024  08:00 Uhr

Essstörungen haben ganz unterschiedliche Gesichter. Manche Betroffene sind extrem dünn, andere fettleibig, bei einigen zeigt die Waage auch Normalgewicht. Allen gemeinsam ist ein ungesundes Essverhalten. Unabhängig vom tatsächlichen Gewicht sind fast alle mit dem eigenen Körper unzufrieden und die Gedanken um die Nahrungsaufnahme bestimmen den Alltag. Auch wenn die Folgen einer Essstörung nicht immer sofort ins Auge fallen – sie können die Gesundheit und sogar das Leben ernsthaft bedrohen.

Besonders verbreitet sind Essstörungen bei jungen Mädchen: Laut einer Befragung des Robert-Koch-Instituts zeigt jede Dritte zwischen 14 und 17 Jahren erste Symptome, zwischen 11 und 13 Jahren ist es jede Fünfte. Bei den gleichaltrigen Jungen fanden sich bei etwa 12 Prozent entsprechende Hinweise. Die Lebenszeitprävalenz in der Gesamtbevölkerung beträgt rund 5 Prozent. Frauen bekommen die Diagnose 10- bis 20-mal häufiger als Männer. Fachleute halten es allerdings für möglich, dass männliche Betroffene seltener ärztliche Hilfe suchen und die Dunkelziffer deshalb bei ihnen höher liegt.

Ein typisches Kennzeichen fast aller Essstörungen ist die außergewöhnlich hohe Bedeutung, die Patientinnen und Patienten ihrem Körpergewicht und dem Essen zumessen. Zwar kommt es auch bei gesunden Menschen häufig vor, dass sie sich als zu dick empfinden. Bei einer Essstörung nehmen diese Gedanken aber wesentlichen Raum ein und beeinflussen die Nahrungsaufnahme in ungesunder Weise. Unbeschwertes genussvolles Essen ist nicht mehr möglich.

Anorexia nervosa: Abnehmen mit allen Mitteln

Die bekannteste und optisch auffälligste Essstörung ist die Anorexia nervosa (Magersucht). Wichtigstes Merkmal ist der selbst verursachte starke Gewichtsverlust.

Die Betroffenen sind meist deutlich untergewichtig, empfinden sich aber trotzdem als zu dick und unförmig. Um abzunehmen, halten sie strenge Ernährungsregeln ein: Sie essen nur sehr kleine Mengen und meiden fetthaltige oder kohlenhydratreiche Nahrungsmittel. Das Kalorienzählen und Mahlzeitenplanen bestimmen ihr Leben. Viele entwickeln Rituale wie sehr langsames Essen, Kleinschneiden und sorgfältiges Arrangieren der Speisen. Manche verwenden Appetitzügler wie Nikotin oder rezeptfrei erhältliche »Diätpillen« (Kasten). Um die aufgenommenen Kalorien schnell wieder loszuwerden, treiben einige exzessiv Sport, lösen nach einer Mahlzeit Erbrechen aus oder nehmen Laxanzien oder Diuretika ein (sogenanntes Purging-Verhalten; von englisch: to purge, reinigen).

Oft beginnt die Erkrankung während der Pubertät. Die Lebenszeitprävalenz beziffern Studien bei Frauen auf 4, bei Männern auf 0,3 Prozent.

Die anhaltende Mangelernährung bleibt nicht ohne Folgen. Sämtliche Organe sowie der Stoffwechsel und Hormonhaushalt werden in Mitleidenschaft gezogen – bis hin zu lebensbedrohlichen Zuständen.

Zu den äußerlich sichtbaren Begleiterscheinungen zählen neben dem auffälligen Untergewicht auch flaumige Körperbehaarung und bläuliche Fingerspitzen durch Minderdurchblutung. Bei Mädchen und Frauen versiegt die Regelblutung, bei Kindern verzögert sich die Menarche und es kommt zu teils gravierenden Entwicklungsstörungen.

Studien belegen, dass das Sterberisiko von Mädchen und Frauen mit Anorexia nervosa sechs- bis zehnmal so hoch ist wie bei ihren Altersgenossinnen – entweder durch Suizid aufgrund der psychischen Belastungen durch die Erkrankung oder durch die körperlichen Folgen der Unterernährung. Die Mortalitätsrate liegt weit höher als bei Depressionen oder anderen psychischen Erkrankungen: Innerhalb von zehn Jahren sterben etwa 10 Prozent der Betroffenen.

Immer mehr Kinder betroffen

Knapp 10.000 Menschen wurden 2022 aufgrund einer Anorexia nervosa in deutschen Krankenhäusern behandelt. Innerhalb der letzten 20 Jahren hat sich die Zahl fast verdoppelt. Insbesondere während der Coronapandemie beobachteten Fachleute eine deutliche Zunahme.

»Vor allem die Zahl stationärer Aufnahmen im Kindesalter ist in den letzten fünf Jahren auffällig gestiegen«, sagt Professor Dr. Beate Herpertz-Dahlmann, ehemalige Direktorin der Aachener Klinik für Psychiatrie, Psychosomatik und Psychotherapie des Kindes- und Jugendalters. Die Seniorprofessorin ist Mitautorin der S3-Leitlinie »Diagnostik und Behandlung der Essstörungen« von 2018 und Koordinatorin der derzeit laufenden Überarbeitung.

Deutlich häufiger als früher wird ihren Worten zufolge auch eine atypische Anorexia nervosa diagnostiziert. Hier fehle das ansonsten krankheitstypische niedrige Körpergewicht, erklärt Herpertz-Dahlmann: »Sie waren zuvor oft adipös und haben in sehr kurzer Zeit 10 oder 20 Kilo abgenommen.« Weil die Waage Normalgewicht zeige, werde oft übersehen, wie krank die Betroffenen tatsächlich sind. »Die körperlichen Folgen sind die gleichen – egal ob man sich von 60 auf 40 Kilo herunterhungert oder von 80 auf 60.« Die Ärztin schätzt den Anteil der atypischen Anorexie-Formen in Kliniken auf 20 bis 30 Prozent.

Als Kriterium für eine typische Anorexie gilt laut dem internationalen Klassifikationssystem ICD-11 seit 2022 bei Erwachsenen ein BMI unter 18,5 kg/m², bei Kindern ein Körpergewicht unterhalb der fünften Altersperzentile. »Viele Fachleute halten allerdings an der bisher geltenden zehnten Altersperzentile als Grenzwert fest, weil der wachsende Organismus durch die Folgen des Hungerns noch mehr geschädigt werden kann«, erläutert die Essstörungsexpertin.

Essen im Exzess: Binge Eating

Die am weitesten verbreitete Essstörung ist das Binge Eating. Es ist erst seit 2013 als eigenständige Diagnose im DSM-5 (Diagnostisches und statistisches Manual psychischer Störungen) enthalten. Etwa 2 Prozent der Bevölkerung erkranken im Lauf ihres Lebens daran.

Im Gegensatz zur Magersucht liegt der Männeranteil mit 30 bis 40 Prozent deutlich höher und die Erkrankung entwickelt sich häufiger erst im jungen Erwachsenenalter.

Menschen mit einer Binge-Eating-Störung leiden an regelmäßig auftretenden Essanfällen mit Kontrollverlust. Dabei nehmen sie in kurzer Zeit ungewöhnlich große Nahrungsmengen zu sich – oft heimlich und oft besonders hochkalorische Speisen, die sie sich sonst versagen. Wie bei anderen Essstörungen beeinflussen Figur und Körpergewicht das Selbstwertgefühl übermäßig stark. Häufig empfinden die Betroffenen Ekel und Scham wegen ihrer »Disziplinlosigkeit« und des damit verbundenen Übergewichts.

»Mit der Zunahme von Adipositas in der Bevölkerung steigt auch die Zahl von Binge-Eating-Störungen«, beobachtet Herpertz-Dahlmann. Möglich sei allerdings, dass sich die Diagnostik verbessert hat, weil zum Beispiel vor einer bariatrischen Operation gezielt Kriterien für eine Essstörung abgefragt werden. Fachleute schätzen, dass 15 bis 30 Prozent der Personen mit Adipositas (BMI >30 kg/m²) an einer Binge-Eating-Störung leiden.

Gewichtskontrolle durch Erbrechen

Häufige, kaum kontrollierbare Essanfälle kennzeichnen auch eine Bulimia nervosa. Anders als bei der Binge-Eating-Störung wenden die Betroffenen nach der übermäßigen Nahrungsaufnahme jedoch gezielt Gegenmaßnahmen zur Gewichtskontrolle an, etwa induziertes Erbrechen, Missbrauch von Laxanzien, Diuretika oder anderen Medikamenten, Fastenperioden oder exzessiven Sport. Bei schweren Formen kommt es mehrmals täglich zu solchen Episoden, bei leichteren ein- bis dreimal pro Woche über einen Zeitraum von mindestens drei Monaten.

Von außen ist die Erkrankung oft nicht sichtbar. Viele Betroffene sind normal- oder nur leicht übergewichtig, empfinden sich aber dennoch als zu dick und haben große Angst zuzunehmen. Sowohl die Essanfälle als auch die anschließenden Versuche, sie ungeschehen zu machen, finden meist im Verborgenen statt.

Fachleute gehen davon aus, dass die Erkrankung oft gar nicht diagnostiziert wird. In Studien liegt die Lebenszeitprävalenz bei 2 bis 3 Prozent. »Im Gegensatz zu anderen Essstörungen sind die Zahlen bei der Bulimie in den letzten Jahren leicht rückläufig«, berichtet Herpertz-Dahlmann. »Es könnte allerdings sein, dass weniger Betroffene ärztliche Hilfe suchen. Die Selbsthilfe-Szene ist hier sehr aktiv.«

Viele weitere Störungen

Anorexia nervosa, Bulimia nervosa und Binge Eating sind zwar die häufigsten spezifischen Formen, machen insgesamt jedoch nur knapp die Hälfte aller Essstörungen aus. Manchmal treten Mischformen mit Symptomen mehrerer Erkrankungen auf. Beispielsweise kann es auch bei Magersucht zu Essattacken mit anschließendem Erbrechen kommen. Umgekehrt versuchen Menschen mit Bulimia nervosa manchmal, ihr Gewicht durch zeitweilige Hungerkuren zu kontrollieren.

Zu den sogenannten OSFED (Other Specified Feeding oder Eating Disorders, sonstige näher bezeichnete Fütter- oder Essstörungen) zählt die Purging-Störung. Ähnlich wie bei der Bulimie erleben die Betroffenen regelmäßig Essanfälle, denen sie durch selbstinduziertes Erbrechen, den Missbrauch von Laxanzien oder andere kompensatorische Maßnahmen begegnen. Anders als bei der Bulimie sind die während eines Anfalls aufgenommenen Nahrungsmengen nach objektiven Kriterien meist nicht übermäßig groß.

Mäkeliges Essen oder Essstörung?

Die vermeidend-restriktive Essstörung gehörte in der letzten Leitlinienfassung von 2018 zur großen Gruppe der atypischen und nicht näher bezeichneten Essstörungen. Fachleute bezeichnen sie als ARFID, eine Abkürzung für »Avoidant-Restrictive Food Intake Disorder«. Sie ist auch als Picky Eating bekannt: Betroffene zeigen ein extrem wählerisches Essverhalten, das sich auf Konsistenz, Farbe, Geruch oder Geschmack der Lebensmittel bezieht: Sie essen beispielsweise nur Püriertes oder nur eine spezielle Sorte Obst. Meist beginnt die Störung im frühen Kindesalter.

»In der neuen Leitlinie wird ARFID erstmals als spezifische Essstörung aufgeführt«, erklärt Koordinatorin Herpertz-Dahlmann. Anders als bei den meisten anderen Essstörungen spielt beim Picky Eating die Sorge um das Körpergewicht und die Figur kaum eine Rolle.

Ein wichtiges Unterscheidungskriterium zu der häufig anzutreffenden »Mäkeligkeit« von Kindern: Bei einer ARFID reicht die Nahrungsaufnahme nicht aus, um den Nährstoff- und Energiebedarf zu decken. Dadurch kommt es zu Gewichtsverlust und/oder Untergewicht, Mangelerscheinungen sowie Wachstums- und Entwicklungsverzögerungen.

Als eine Sonderform der ARFID sehen manche Experten die sogenannte Orthorexia nervosa, bei der die Betroffenen zwanghaft auf (vermeintlich) gesunde Nahrungsmittel fixiert sind.

Wie die ARFID hat auch das Pica-Syndrom im 2022 erschienenen ICD-11 erstmals eine eigene Codierungsziffer erhalten. Die Betroffenen verzehren Substanzen, die keine Lebensmittel sind, zum Beispiel Steine, Papier oder sogar Kot. In der Folge kommt es oft zu Vergiftungen oder Verletzungen des Verdauungstrakts. Meist tritt Pica bei Kindern mit geistiger Beeinträchtigung auf, seltener bei Erwachsenen.

Menschen mit einer Ruminationsstörung würgen bereits geschlucktes Essen wieder hoch und kauen es noch einmal oder spucken es aus. Das geschieht willkürlich und ohne begleitende Übelkeit oder Ekel. Oft tritt die Störung im Säuglingsalter auf und verschwindet nach einiger Zeit wieder. Fachleute stellten die Diagnose erst im Alter von mindestens zwei Jahren.

Im Gegensatz dazu bezeichnet »Chewing and Spitting« das Ausspucken gekauter Nahrung vor dem Schlucken, das bei anderen Essstörungen als Technik zur Gewichtskontrolle gilt.

Bisher nicht als eigenständige Erkrankung anerkannt ist das Night-Eating-Syndrom. Betroffene decken einen Großteil ihres Energiebedarfs nach dem Abendessen. Tagsüber verspüren sie nur wenig Appetit. Viele wachen nachts mit Heißhunger auf und haben Angst, ohne Essen nicht mehr einschlafen zu können. Obwohl das nächtliche Essen nicht unbedingt mit einer übermäßigen Kalorienzufuhr verbunden ist, haben Patientinnen und Patienten das Gefühl, keine Kontrolle über ihre Nahrungsaufnahme zu haben.

Verheerende Folgen für Körper und Seele

Häufiges Erbrechen, zu geringe oder zu hohe Trinkmengen und der Missbrauch von Laxanzien können gravierende Auswirkungen auf den Elektrolythaushalt haben. Etwa 20 Prozent der Menschen mit einer Essstörung weisen einen verringerten Kaliumspiegel auf; Natrium und Calcium sind ebenfalls häufig erniedrigt.

Auch das Hormonsystem gerät oft aus dem Gleichgewicht. Insbesondere bei Anorexia nervosa, in einem geringeren Umfang aber auch bei anderen Essstörungen, sinkt die Konzentration der Sexualhormone Estradiol, Progesteron, FSH (Follikelstimulierendes Hormon) und LH (Luteinisierendes Hormon), bei Männern des Testosterons sowie unabhängig vom Geschlecht die Spiegel des Schilddrüsenhormons Trijodthyronin (T3). Der Cortisolspiegel steigt dagegen häufig.

Erste Hinweise auf den gestörten Hormonhaushalt sind bei Frauen Zyklusveränderungen und das Ausbleiben der Periodenblutung. Die Fertilität kann auch nach einer erfolgreichen Behandlung eingeschränkt bleiben. Infolge des Estrogenmangels nimmt die Knochendichte ab. Viele Patientinnen mit einer länger anhaltenden Magersucht leiden an Osteopenie oder Osteoporose. Bei Kindern und Jugendlichen stagniert in schweren Fällen das Wachstum und das Skelett kann irreparablen Schaden nehmen.

Die Zahl der weißen Blutkörperchen ist bei Frauen mit Anorexia nervosa oft erniedrigt (Leukopenie). Auch kardiovaskuläre Störungen wie Arrhythmien, zu niedriger Blutdruck oder Pulsverlangsamung sind keine Seltenheit. Häufig zieht die Erkrankung Nieren- und Leberfunktionsstörungen nach sich.

Selbst das Gehirn leidet unter der Mangelernährung: Bei starkem Untergewicht atrophiert die graue Substanz in der Hirnrinde und wird mit Liquor aufgefüllt. Das reduziert die kognitive Leistungsfähigkeit.

Diese Veränderungen haben sich in Studien in den meisten Fällen als reversibel erwiesen, wenn die Betroffenen wieder Gewicht aufbauen. »Gerade bei Jugendlichen bleiben aber hirnatrophische Veränderungen über einen langen Zeitraum nach der Gewichtsnormalisierung bestehen«, schränkt Herpertz-Dahlmann ein.

Nicht reparabel sind magensäurebedingte Erosionen an den Zähnen durch häufiges Erbrechen. Oft zeigen sich die Speicheldrüsen am Ohr und am Zungengrund sichtbar vergrößert. Bei Bulimie und dem Binge-Eating-Syndrom kann es zu einer Magendilatation bis hin zur Ruptur kommen. Verdauungsstörungen wie gastrointestinaler Reflux, Durchfall oder Verstopfung sind eine häufige Folge des gestörten Essverhaltens.

Auch auf der psychischen Ebene haben Essstörungen gravierende Folgen. Betroffene verlieren immer mehr die Lebensfreude, ziehen sich aus dem Sozialleben zurück und verlieren das Interesse an ihrer Umwelt. »In schweren Fällen kann das autistische Formen annehmen«, sagt die Kinder- und Jugendpsychiaterin.

Multifaktorielle Ursachen

Noch vor 20 Jahren ging die Wissenschaft davon aus, dass die Hauptursache für Essstörungen in dysfunktionalen Familienbeziehungen liegt. Heute weiß man jedoch, dass die Veranlagung zu einem guten Teil erblich bedingt ist.

»Familienstudien zeigen, dass weibliche Angehörige von Patientinnen mit einer Essstörung ein zehnmal höheres Risiko haben, selbst daran zu erkranken«, sagt Herpertz-Dahlmann. Bisher seien acht relevante chromosomale Regionen mit insgesamt 121 Genen identifiziert worden. Eine starke genetische Korrelation bestehe zum Beispiel zu Zwangserkrankungen und depressiven Störungen.

Wahrscheinlich ebenfalls auf genetische Unterschiede zurückzuführen ist die Tatsache, dass schwarze US-Amerikanerinnen viel seltener eine Magersucht entwickeln als weiße. Die Binge-Eating-Störung scheint dagegen bei beiden Bevölkerungsgruppen gleich weit verbreitet zu sein.

Damit aus einer genetischen Veranlagung eine Erkrankung wird, braucht es jedoch einen oder mehrere Auslöser. Soziokulturelle Aspekte spielen dabei vermutlich eine wichtige Rolle (Kasten).

Den Teufelskreis durchbrechen

Um eine Essstörung zu diagnostizieren, verwenden Ärzte oft strukturierte Fragebögen, zum Beispiel die Eating Disorder Examination oder das Strukturierte Inventar für Anorektische und Bulimische Essstörungen zur Selbsteinschätzung. Aufschluss über die Schwere der Erkrankung geben die körperliche und neurologische Untersuchung sowie die Bestimmung der Elektrolyte, Nieren- und Leberwerte und gegebenenfalls Vitamin- und Mineralstofflevel.

Der Heilungsprozess erstreckt sich meist über viele Monate bis Jahre. Prinzipiell kann die Therapie einer Essstörung stationär, teilstationär oder ambulant erfolgen. Welche Form am besten geeignet ist, hängt unter anderem von der Krankheitsschwere, Begleiterkrankungen, der Suizidalität und dem sozialen Umfeld ab.

»Wir legen heute im Vergleich zu früher sehr viel mehr Wert darauf, bei jungen Menschen die Familie intensiv in die Behandlung einzubinden«, erklärt die Leitlinienkoordinatorin. Leider hapere es daran oft noch. Zudem werde in Deutschland im Vergleich zu anderen Ländern viel länger stationär behandelt – ohne bessere Behandlungserfolge. Nach einem Klinikaufenthalt sei eine intensive ambulante ärztliche und psychotherapeutische Nachbetreuung notwendig.

Bei lebensbedrohlichem Untergewicht kann in seltenen Fällen auch eine Zwangsbehandlung notwendig sein, wenn die Betroffenen keine Krankheitseinsicht zeigen. Dafür sind jedoch ein psychiatrisches Gutachten und ein richterlicher Beschluss erforderlich.

Drei wichtige Therapiebausteine

Wichtigster Baustein in der Therapie von Essstörungen ist – neben der medizinischen Versorgung und dem Ernährungsmanagement – die Psychotherapie. Die besten Erfolge zeigten in Studien die kognitive Verhaltenstherapie, die tiefenpsychologisch fundierte Therapie und bei Kindern die familienbasierte Therapie. Doch die Wartezeiten auf eine Psychotherapie sind in Deutschland lang.

Bis ein geeigneter Platz gefunden ist, können digitale Gesundheitsanwendungen (DiGA) die Betroffenen unterstützen. Ein solches zertifiziertes Online-Programm können Ärzte und Psychotherapeuten auf Kosten der Krankenkasse verschreiben. Seit Anfang 2023 ist jeweils eine Anwendung für die Binge-Eating-Störung und für Bulimia nervosa verfügbar.

Manchmal kommt bei Essstörungen eine unterstützende pharmakologische Therapie zum Einsatz. Allerdings gibt es bislang wenige Studienergebnisse, die belegen, dass dadurch der Behandlungserfolg steigt.

Das off Label eingesetzte Antipsychotikum Olanzapin kann unter Umständen Zwangssymptome, Gedankenspiralen und ausgeprägten Bewegungsdrang lindern, wirkt sich bei Anorexie aber kaum auf die Gewichtszunahme aus. Antidepressiva wie Fluoxetin senken möglicherweise das Rückfallrisiko. Der SSRI (Serotonin-Wiederaufnahmehemmer) Fluoxetin ist als einzige Substanz zur Behandlung der Bulimie zugelassen, jedoch nur bei Erwachsenen und nur in Kombination mit einer Psychotherapie. Die beste Wirkung zeigte sich in Studien bei einer Dosierung von 60 mg/Tag.

Junge Mädchen und Frauen mit schwerer Anorexia nervosa bekommen oft eine Hormonersatztherapie mit transdermalem Estradiol, um einer Osteoporose entgegenzuwirken. Die Pille sei bei ihnen dagegen kontraindiziert, weil orales Estrogen wahrscheinlich aufgrund eines Lebermetabolismus die Knochendichte vermindert, betont Herpertz-Dahlmann.

Bei Magersucht ist das vorrangige Behandlungsziel, ein normales Körpergewicht zu erreichen, um die körperlichen Funktionen wiederherzustellen. »Der Hungerstoffwechsel ist ein selbstperpetuierender Faktor, der die Krankheit aufrechterhält. Diesen Kreislauf kann man nur unterbrechen, indem man das Abnehmen stoppt«, erklärt Herpertz-Dahlmann. Eine Psychotherapie mache erst Sinn, wenn die Betroffenen auf dem Weg zur Gewichtszunahme seien. Anders als in früheren Jahren beginne man mit dem Nahrungsaufbau heute nicht mehr extrem vorsichtig. »Studien haben gezeigt, dass die somatischen Komplikationen mit einer höheren Kalorienmenge schneller überwunden werden.«

Potenziell besteht bei stark mangelernährten Personen immer die Gefahr eines sogenannten Refeeding-Syndroms. Wenige Tage nach Wiederaufnahme der Ernährung kommt es zu Verschiebungen im Elektrolythaushalt mit lebensbedrohlich niedrigen Phosphat-, Kalium- und Magnesiumspiegeln im Serum. Mögliche Symptome sind Ödeme, Herzrhythmusstörungen und Krämpfe. »Durch regelmäßige Elektrolytbestimmungen und gegebenenfalls Substitution lässt sich das vermeiden.«

Der Einfluss des Darmmikrobioms

Trotz adäquater Behandlung wird nur etwa die Hälfte der an einer schweren Anorexia nervosa Erkrankten dauerhaft geheilt. Ein möglicher neuer Therapieansatz liegt in der Verbesserung der Darmflora. Denn das Mikrobiom nimmt durch das Hungern nachhaltig Schaden. Auch wenn sich das Gewicht normalisiert, erholt es sich nach bisherigem Wissen nicht vollständig. »Das könnte das Rückfallrisiko beeinflussen«, vermutet Herpertz-Dahlmann. Tierversuche belegen, dass sich die Zusammensetzung des Darmmikrobioms auf die Gewichtsentwicklung auswirkt.

Mit ihrer Arbeitsgruppe testet die Wissenschaftlerin unter anderem die Wirkung von Omega-3-Fettsäuren auf das Darmmilieu. Außerdem bestehe die Hoffnung, dass sich Probiotika oder eine Stuhltransplantation positiv auswirken. Bislang ist allerdings noch unklar, ob sich der Heilungserfolg durch eine Veränderung der Darmflora langfristig verbessern lässt.

Ein Sonderfall ist die Versorgung von Menschen mit chronischer Anorexia nervosa. »Das sind Patientinnen, die seit vielen Jahren betroffen sind und trotz mehrfacher stationärer Behandlung keine anhaltende Gewichtszunahme erreichen«, erklärt Herpertz-Dahlmann. Bei ihnen bestehe oft keine Hoffnung auf Heilung. Derzeit werde im Leitliniengremium diskutiert, ab wann und in welcher Form eine palliativmedizinische Versorgung sinnvoll sein könnte. Wie Beispiele aus anderen Ländern zeigen, gebe es beispielsweise die Möglichkeit, die chronisch Kranken in Wohngemeinschaften zu betreuen und körperliche Folgen tageweise in einer Klinik zu behandeln.

Je früher eine beginnende Essstörung erkannt wird, desto besser sind die Heilungschancen. Warnzeichen können wiederholte Diäten oder ein sehr restriktives Essverhalten sein, aber auch der häufige Gebrauch von Abführmitteln, insbesondere bei jungen Menschen.

Kinder, die ein positives entspanntes Verhältnis zum eigenen Körper aufbauen können, sind nachweislich weniger anfällig für Essstörungen. Und auch das belegen Studien: Dem schädlichen Einfluss von bildbetonten Social-Media-Kanälen kann man gegensteuern. Zum einen durch zeitweilige Abstinenz, zum anderen durch die bewusste Fokussierung auf Inhalte, die »Body Positivity« vermitteln – also eine positive Einstellung zum Körper unabhängig von dessen Aussehen.

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