Was ist evidenzbasiert in der Onkologie? |
Sehr viele Patienten wollen ihre Selbstheilungskräfte unterstützen und sich in der Krankheit selbst stärken. Dabei helfen ihnen Rituale sowie Verfahren der Komplementärmedizin. / Foto: Getty Images/RichLegg
Das medizinische Wörterbuch Pschyrembel definiert Komplementärmedizin als einen Teilbereich der Medizin, der »diagnostische und therapeutische Verfahren umfasst, die ergänzend zur klassischen Schulmedizin eingesetzt werden« (1). Dass sich komplementärmedizinische Verfahren (CAM: Complementary and Alternative Medicine) in den letzten Jahren zunehmend zu einem integralen Bestandteil der onkologischen Therapie entwickeln, wird auch in der Bezeichnung »Integrative Onkologie« deutlich. Dies ist ein patientenzentriertes, evidenzinformiertes Gebiet der Krebstherapie, das komplementärmedizinische Verfahren begleitend zu den konventionellen Krebs¬therapien einsetzt (2).
Krebspatienten, die CAM anwenden, haben häufig die Erwartung, dass diese Verfahren ihre eigenen Kräfte und das Immunsystem stärken und sie dabei unterstützen, selbst etwas für sich tun zu können (3). Tatsächlich wendet fast die Hälfte aller Tumorpatienten in Deutschland (42 Prozent) mindestens ein solches Verfahren an (4). Allerdings informiert rund ein Viertel der Patienten ihre behandelnden Ärzte nicht darüber (5). Zudem besteht bei fast einem Drittel der Anwender ein mögliches Risiko für Wechselwirkungen zwischen der konventionellen Tumortherapie und komplementärmedizinischen Verfahren (6).
Diese Zahlen machen deutlich, dass der Bedarf für die Anwendung von CAM bei Krebspatienten hoch ist. Andererseits besteht sowohl bei den Patienten als auch bei den Personenkreisen, die an ihrer Behandlung beteiligt sind, oft eine große Unsicherheit, die nicht zuletzt auch auf mangelnder Kenntnis der Wirksamkeit und Sicherheit dieser Therapieverfahren beruht.
Foto: Getty Images/Isaac Lane Koval/Corbis/VCG
Ein elf Jahre altes Mädchen erhielt wegen eines Rückfalls einer behandelten akuten lymphatischen B-Zell-Leukämie eine Induktionschemotherapie. Dabei entwickelte das Mädchen Krampfanfälle, die mit Valproinsäure verhindert werden sollten. Auf Nachfrage berichten die Eltern, dass das Kind zusätzlich Vitamine und frei verkäufliche Medikamente bekomme.
Es handelte sich um ein Nahrungsergänzungsmittel, das eine Kombination aus Extrakten von Johanniskraut und Griechischem Bergtee zusammen mit Magnesium enthielt. Zusätzlich erhielt das Mädchen ein Vitamin-C-Präparat, das mit Quercetin, Rutin und oligomeren Proanthocyanidinen (OPC) aus Traubenkernextrakt angereichert war. Weiterhin standen Präparate mit Magnesium, Zink und Vitamin D auf der Einnahmeliste.
Doch welche Beschwerden sollten die Mittel lindern? Präparate mit Grünem Bergtee, Johanniskraut und Magnesium sollen kognitive Fähigkeiten steigern, Müdigkeit und Erschöpfung, Schlafstörungen und Schlaflosigkeit, Unruhe und Stimmungsschwankungen lindern sowie ein gesundes Immunsystem erhalten. Letzteres trifft auch auf das Vitamin-C-Präparat zu.
Für keines der beiden Präparate liegen positive Empfehlungen zur Anwendung in der komplementären Tumortherapie vor. Das Interaktionsrisiko lässt sich nicht eindeutig abschätzen; für Zubereitungen aus Grünem Bergtee existieren nahezu keine Untersuchungen dazu. Um das Interaktionsrisiko mit Johanniskrautextrakt abschätzen zu können, wäre der Gehalt an Hyperforin wichtig. Da es sich um ein Nahrungsergänzungsmittel handelt, ist weder der Extrakt charakterisiert noch eine Standardisierung auf den Hauptinhaltsstoff Hypericin angegeben. Beim Vitamin-C-Präparat ist die Menge an Quercetin und Rutin zwar angegeben; es fehlen aber Untersuchungen zur Bioverfügbarkeit der Inhaltsstoffe und damit die zu erreichenden Wirkstoffkonzentrationen im Blut. Diese sind aber wichtig, um die Relevanz möglicher Hemmeffekte dieser Substanzen abschätzen zu können.