Was ist evidenzbasiert in der Onkologie? |
Sehr viele Patienten wollen ihre Selbstheilungskräfte unterstützen und sich in der Krankheit selbst stärken. Dabei helfen ihnen Rituale sowie Verfahren der Komplementärmedizin. / Foto: Getty Images/RichLegg
Das medizinische Wörterbuch Pschyrembel definiert Komplementärmedizin als einen Teilbereich der Medizin, der »diagnostische und therapeutische Verfahren umfasst, die ergänzend zur klassischen Schulmedizin eingesetzt werden« (1). Dass sich komplementärmedizinische Verfahren (CAM: Complementary and Alternative Medicine) in den letzten Jahren zunehmend zu einem integralen Bestandteil der onkologischen Therapie entwickeln, wird auch in der Bezeichnung »Integrative Onkologie« deutlich. Dies ist ein patientenzentriertes, evidenzinformiertes Gebiet der Krebstherapie, das komplementärmedizinische Verfahren begleitend zu den konventionellen Krebs¬therapien einsetzt (2).
Krebspatienten, die CAM anwenden, haben häufig die Erwartung, dass diese Verfahren ihre eigenen Kräfte und das Immunsystem stärken und sie dabei unterstützen, selbst etwas für sich tun zu können (3). Tatsächlich wendet fast die Hälfte aller Tumorpatienten in Deutschland (42 Prozent) mindestens ein solches Verfahren an (4). Allerdings informiert rund ein Viertel der Patienten ihre behandelnden Ärzte nicht darüber (5). Zudem besteht bei fast einem Drittel der Anwender ein mögliches Risiko für Wechselwirkungen zwischen der konventionellen Tumortherapie und komplementärmedizinischen Verfahren (6).
Diese Zahlen machen deutlich, dass der Bedarf für die Anwendung von CAM bei Krebspatienten hoch ist. Andererseits besteht sowohl bei den Patienten als auch bei den Personenkreisen, die an ihrer Behandlung beteiligt sind, oft eine große Unsicherheit, die nicht zuletzt auch auf mangelnder Kenntnis der Wirksamkeit und Sicherheit dieser Therapieverfahren beruht.
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Ein elf Jahre altes Mädchen erhielt wegen eines Rückfalls einer behandelten akuten lymphatischen B-Zell-Leukämie eine Induktionschemotherapie. Dabei entwickelte das Mädchen Krampfanfälle, die mit Valproinsäure verhindert werden sollten. Auf Nachfrage berichten die Eltern, dass das Kind zusätzlich Vitamine und frei verkäufliche Medikamente bekomme.
Es handelte sich um ein Nahrungsergänzungsmittel, das eine Kombination aus Extrakten von Johanniskraut und Griechischem Bergtee zusammen mit Magnesium enthielt. Zusätzlich erhielt das Mädchen ein Vitamin-C-Präparat, das mit Quercetin, Rutin und oligomeren Proanthocyanidinen (OPC) aus Traubenkernextrakt angereichert war. Weiterhin standen Präparate mit Magnesium, Zink und Vitamin D auf der Einnahmeliste.
Doch welche Beschwerden sollten die Mittel lindern? Präparate mit Grünem Bergtee, Johanniskraut und Magnesium sollen kognitive Fähigkeiten steigern, Müdigkeit und Erschöpfung, Schlafstörungen und Schlaflosigkeit, Unruhe und Stimmungsschwankungen lindern sowie ein gesundes Immunsystem erhalten. Letzteres trifft auch auf das Vitamin-C-Präparat zu.
Für keines der beiden Präparate liegen positive Empfehlungen zur Anwendung in der komplementären Tumortherapie vor. Das Interaktionsrisiko lässt sich nicht eindeutig abschätzen; für Zubereitungen aus Grünem Bergtee existieren nahezu keine Untersuchungen dazu. Um das Interaktionsrisiko mit Johanniskrautextrakt abschätzen zu können, wäre der Gehalt an Hyperforin wichtig. Da es sich um ein Nahrungsergänzungsmittel handelt, ist weder der Extrakt charakterisiert noch eine Standardisierung auf den Hauptinhaltsstoff Hypericin angegeben. Beim Vitamin-C-Präparat ist die Menge an Quercetin und Rutin zwar angegeben; es fehlen aber Untersuchungen zur Bioverfügbarkeit der Inhaltsstoffe und damit die zu erreichenden Wirkstoffkonzentrationen im Blut. Diese sind aber wichtig, um die Relevanz möglicher Hemmeffekte dieser Substanzen abschätzen zu können.
Um dieser Unsicherheit zu begegnen, wurde im September 2021 die erste S3-Leitlinie zur Anwendung komplementärmedizinischer Verfahren in der Behandlung onkologischer Patienten veröffentlicht (7). Sie befindet sich derzeit in Überarbeitung; bislang liegt aber nur eine noch nicht abgestimmte Konsultationsfassung vor.
Diese Leitlinie ordnet die Verfahren vier Gruppen zu: medizinische Systeme, Mind-Body-Verfahren, manipulative Körpertherapien und biologische Therapien. Zu den biologischen Therapien zählen vor allem Vitamine, Spurenelemente sowie Phytotherapeutika.
Aus einer Auswahl von 44 Verfahren und 31 möglichen Symptomen wurden 133 symptombezogene Therapiemaßnahmen identifiziert und bewertet. Das Ergebnis der Bewertung resultiert in einer Empfehlung, die in die Empfehlungsgrade A, B und 0 eingeteilt ist.
Die Stärke der Empfehlung ergibt sich aus den jeweils zugrunde liegenden Studienergebnissen.
Zusätzlich sind den Empfehlungen je nach Art der zugrunde liegenden Studien und anderer Literatur Evidenzlevel sowie Konsensstärken zugeordnet. Letztere ergeben sich aus dem Anteil der stimmberechtigten Mitglieder der Leitlinienkommission, die der jeweiligen Empfehlung zugestimmt haben.
Für 53 symptombezogene Therapiemaßnahmen formulierten die Autoren der Leitlinie aufgrund mangelnder Daten keine Empfehlung.
Für Patienten, die in der Apotheke nach CAM fragen, sind Vitamine und Spurenelemente, andere Nahrungsergänzungsmittel und Phytotherapeutika besonders interessant. Tatsächlich benennt die Leitlinie einige Phytotherapeutika und Spurenelemente, die – allerdings mit einer Empfehlungsstärke 0 – angewendet werden können (Tabelle 1).
Verfahren (EL/KS) | Symptom | Krebsart der Patienten | Kontext/Anmerkung |
---|---|---|---|
Cimicifuga racemosa (2b/SK) | menopausale Symptome | Frauen mit Brustkrebs | Endpunkt therapieassoziierte menopausale Symptome |
Ginseng (2b/SK) | Fatigue | Krebs | |
Ingwer (2b/SK) | Übelkeit und Erbrechen | Krebs | zusätzlich zur leitliniengerechten Antiemese |
Mistelgesamtextrakt, subkutan (1a/K) | Lebensqualität | solide Tumoren | Endpunkt globale Lebensqualität |
Natriumselenit (2b/SK) | Mukositis | Frauen mit Gebärmutter- oder Gebärmutterhalskrebs | unter Selendefizit, Endpunkt Mukositis des Beckenbereichs (Diarrhö) |
Natriumselenit (2b/SK) | Mukositis | fortgeschrittene Kopf-Hals-Tumoren | unter Selendefizit, Endpunkt Mukositis des Mundes |
Zink | Mukositis | Kopf-Hals-Tumoren | Endpunkt strahlenassoziierte Mukositis des Mundes |
EL: Evidenzlevel, 1a: systematische Übersichtsarbeiten von randomisierten klinischen Studien, 2b: einzelne randomisierte klinische Studien niedriger Qualität, KS: Konsensstärke, SK: starker Konsens, K: Konsens
Extrakte der Traubensilberkerze (Cimicifuga racemosa) wurden zur Linderung therapieassoziierter menopausaler Beschwerden bei Brustkrebspatientinnen untersucht. In jeweils einer randomisierten kontrollierten Studie (RCT) konnte die Einnahme von Extraktpräparaten zusätzlich zu einer Therapie mit Tamoxifen oder GnRH-Analoga Hitzewallungen und Schweißausbrüche verringern. In zwei weiteren RCT konnten entsprechende Phytopharmaka nur das Auftreten von Schweißausbrüchen senken. Allerdings entsprach die Studiendauer nicht den Vorgaben der Zulassungsbehörden und es wurden Frauen vor und nach der Menopause eingeschlossen. Die Einnahme von Tamoxifen war in den Untersuchungsgruppen ausgeglichen.
Für die Wirksamkeit von Arzneimitteln mit Extrakten von Traubensilberkerze gegen Wechseljahresbeschwerden bei gesunden Frauen ist die Evidenzlage laut Leitlinienautoren deutlich besser. Hierfür liegt eine positive Empfehlung der europäischen Arzneimittelbehörde EMA vor.
Die Autoren weisen darauf hin, dass die Wirksamkeit nur für zugelassene Arzneimittel gezeigt werden konnte. Zudem sollte – wegen einer nicht ganz auszuschließenden stimulierenden Wirkung von Inhaltsstoffen von Traubensilberkerze auf hormonsensitives Gewebe – die Anwendung solcher Arzneimittel bei Patientinnen mit Brustkrebs oder anderen hormonabhängigen Tumoren nur unter ärztlicher Aufsicht erfolgen.
Extrakte des Ginseng (Panax Ginseng) können bei Krebspatienten mit Fatigue erwogen werden. In zwei von vier RCT wurde eine relevante Verbesserung der Symptomatik erzielt. Die Wirksamkeit scheint von der Dauer der Behandlung und der eingenommenen Dosis abhängig zu sein. Die besten Ergebnisse wurden erzielt, wenn täglich eine Dosis von mindestens 2000 mg Extrakt standardisiert auf 5 Prozent Ginsenoside über acht Wochen eingenommen wird. Außerdem scheinen Patienten unter einer aktiven Krebsbehandlung mehr zu profitieren als Personen, bei denen die Behandlung bereits abgeschlossen ist.
Traubensilberkerze, Ingwer und Mistel: Das sind einige der Phytotherapeutika, die in der S3-Leitlinie bei bestimmten Beschwerden empfohlen werden – allerdings mit einer Empfehlungsstärke 0. / Foto: Adobe Stock/ Ruckszio, Pixel-Shot und SteveMC
Auch für Präparate mit Ingwer gegen Chemotherapie-induzierte Übelkeit und Erbrechen sind die Ergebnisse aus klinischen Studien nicht eindeutig. Aus zwei älteren systematischen Übersichtsarbeiten lässt sich keine Wirksamkeit ableiten, allerdings scheint eine Tagesdosis von 1 g und mehr Chemotherapie-induzierte Übelkeit und Erbrechen sogar zu verstärken. In vier von neun neueren RCT verbesserten Ingwerpräparate die Symptomatik und in zwei weiteren konnte dies für Subgruppen gezeigt werden. In allen Studien wurden die Phytopharmaka in Kombination mit einer Standard-Antiemese eingenommen. Eine Tagesdosis von 1 g wurde nicht überschritten.
Eine Analyse von Subgruppen legt nahe, dass Frauen gegenüber Männern und Patienten mit Kopf-Hals-Tumoren gegenüber Patienten mit Lungentumoren mehr profitieren. Außerdem scheint der Nutzen bei hoch emetogener Therapie höher zu sein als bei moderat emetogener Therapie. Die Autoren der Leitlinie empfehlen die Einnahme von Ingwerpräparaten in Form von Tabletten oder Pulver in einer Tageshöchstdosis von 1 g. Von Ingwertee wird wegen einer möglichen Schleimhautreizung abgeraten.
Zur subkutanen Anwendung von Mistelgesamtextrakten zur Steigerung der Lebensqualität werteten die Leitlinienautoren vier systematische Übersichtsarbeiten aus. Die zugrunde liegenden Studien sind in ihrer Qualität sehr heterogen. Dies betrifft die untersuchten Tumorentitäten und die Messinstrumente, mit denen die Lebensqualität bestimmt wurde. In der Mehrzahl der Studien hatten Mistelextrakte einen positiven Einfluss auf die Lebensqualität als Ganzes oder auf Teilaspekte. In der Konsensuskonferenz wurde daraus die Empfehlung abgeleitet, dass die subkutane Anwendung von Mistelgesamtextrakten zur Steigerung der Lebensqualität bei Patienten mit soliden Tumoren erwogen werden kann.
Die Einnahme von Präparaten mit Johanniskraut gegen Symptome einer Depressivität wird in der Leitlinie erwähnt, ohne eine eigene Empfehlung auszusprechen. Zur weiteren Orientierung wird an die Nationale Versorgungsleitlinie Depression (8) verwiesen.
Die Schädigung der Schleimhaut ist eine häufige Nebenwirkung der Strahlentherapie. Zur Wirksamkeit von Natriumselenit zur Verringerung dieser Nebenwirkungen konnten die Leitlinienautoren je eine RCT mit Patienten mit Kopf-Hals-Tumoren oder Tumoren der Gebärmutter oder des Gebärmutterhalses auswerten (Tabelle 1).
Bei der Bestrahlung des Kopf-Hals-Bereichs verringerte Natriumselenit von etlichen gemessenen Beschwerden lediglich das Auftreten von Schluckbeschwerden. Bei der Bestrahlung im Beckenbereich verringerte es die Häufigkeit einer strahlenbedingten Diarrhö – allerdings nur bei Patienten, bei denen ein großes Zielvolumen der Bestrahlung notwendig war. Alle untersuchten Personen wiesen zu Beginn der Studie ein Selendefizit auf.
Schließlich identifizierten die Autoren der Leitlinie noch sieben RCT, die die Einnahme von Zink zur Reduktion der oralen Mukositis bei einer Strahlentherapie untersuchten. Fünf davon zeigten eine positive Wirkung. Bei Patienten, die Zink einnahmen, setzte die Mukositis später ein, war weniger stark und dauerte weniger lang an. Alle teilnehmenden Patienten litten an einem Kopf-Hals-Tumor. Die Stärke der Empfehlung wird durch zwei weitere RCT eingeschränkt, die keine positive Wirkung auf die orale Mukositis bei Strahlentherapie feststellen konnten. Eine dieser Studien zeigte eine hohe methodische Qualität.
Von anderen komplementärmedizinischen biologischen Verfahren wird in der Leitlinie mit einer Empfehlungsstärke A (»soll nicht«, Tabelle 2) oder B (»sollte nicht«, Tabelle 3) abgeraten.
Unter den rein pflanzlichen Zubereitungen wird vor allem von der Anwendung halbfester Zubereitungen mit Aloe vera zur Vorbeugung einer strahleninduzierten Dermatitis abgeraten. Dies beruht auf Ergebnissen von vier qualitativ hochwertigen RCT. Die Aloe-vera-haltigen Topika wurden während der Strahlenbehandlung auf das bestrahlte Hautareal aufgetragen. Die Ergebnisse waren inkonsistent; in einer Studie traten schwere Hautreaktionen und Schmerzen häufiger auf als bei Anwendung einer wässrigen Creme.
Verfahren (EL/KS) | Symptom | Krebsart der Patienten | Kontext/Anmerkung |
---|---|---|---|
Aloe-vera-haltige halbfeste Zubereitungen (1b/SK) | Dermatitis | Krebs | Vorbeugung der Radiodermatitis (strahleninduzierte Dermatitis) |
Carnitin (1b/SK) | periphere Polyneuropathie | Krebs | Chemotherapie-induzierte Polyneuropathie |
Isoflavone (Soja) (1a/K) | menopausale Symptome | Frauen mit Brustkrebs | |
Zink (1a/SK) | Mukositis | Krebs | Chemotherapie-induzierte Mukositis |
Vitamin E und Beta-Carotin (Vitamin A) (2b/SK) | Lebensqualität | Patienten mit Kopf-Hals-Tumoren | während Radiotherapie |
Vitamin E (1b/K) | menopausale Symptome | Frauen mit Brustkrebs | Hitzewallungen |
Vitamin E (2b/K) | Ototoxizität | Krebs | Cisplatin-induzierte Ototoxizität |
Vitamin E (1b/SK) | periphere Polyneuropathie | Krebs | periphere Taxan-induzierte Neuropathie |
Vitamin E (1b/SK) | Mukositis | Patienten mit Kopf-Hals-Tumoren | unter Strahlentherapie, Endpunkt therapieinduzierte Mukositis |
Tabelle 2: Negativ-Empfehlungen zur Anwendung von pflanzlichen Zubereitungen, Vitaminen und Spurenelementen des Empfehlungsgrads A (starke Empfehlung, »soll nicht«) der S3-Leitlinie Komplementärmedizin in der Behandlung von onkologischen Patienten (7)
Verfahren (EL/KS) | Symptom | Krebsart der Patienten | Kontext/Anmerkung |
---|---|---|---|
Vitamin E (1b/SK) | Mukositis | Krebs | Chemotherapie-induzierte Mukositis |
Vitamine E und C (2b/SK) | Xerostomie | Patienten mit Kopf-Hals-Tumoren | strahleninduzierte Xerostomie |
Guarana-Trockenextrakt (1b/K) | Fatigue | Krebs | Chemotherapie-bedingte Fatigue |
Vitamin B12 und Folsäure (2b/SK) | Lebensqualität | Patienten mit Lungenkarzinom oder Mesotheliom | während Chemotherapie, normwertige Spiegel |
Vitamin B12 und Folsäure (2b/SK) | Neutropenie | Patienten mit Lungenkarzinom oder Mesotheliom | während Chemotherapie, normwertige Spiegel |
Tabelle 3: Negativ-Empfehlungen zur Anwendung von pflanzlichen Zubereitungen, Vitaminen und Spurenelementen des Empfehlungsgrads B (weniger starke Empfehlung, »sollte nicht«) der S3-Leitlinie Komplementärmedizin in der Behandlung von onkologischen Patienten (7)
EL: Evidenzlevel, 1a: systematische Übersichtsarbeiten von randomisierten klinischen Studien, 1b: einzelne randomisierte klinische Studien, 2b: einzelne randomisierte klinische Studien niedriger Qualität, KS: Konsensstärke, SK: starker Konsens, K: Konsens
Auch von der Einnahme von Isoflavon-haltigen Präparaten zur Linderung von Wechseljahresbeschwerden bei Frauen mit Brustkrebs wird stark abgeraten. Hierzu liegt eine systematische Übersichtsarbeit vor, die vier qualitativ hochwertige Studien einschloss. Alle vier zeigen keine positive Wirkung.
Zur Wirksamkeit von Guarana-Trockenextrakt gegen Fatigue werteten die Leitlinienautoren vier RCT aus. Die Ergebnisse sind widersprüchlich. In einer der Studien wird über eine Gewichtsabnahme sowie einen erhöhten Bedarf an Analgetika in der Gruppe der Patienten berichtet, die Guarana-Trockenextrakt einnahmen. Die Leitlinienautoren schließen daraus, dass Präparate mit Guarana-Trockenextrakt zur Behandlung von Fatigue nicht empfohlen werden sollten.
Ob dieser Patient offen mit seiner Ärztin über alternative Verfahren spricht? Erfahrungsgemäß tun es viele nicht. / Foto: Getty Images/Luis Alvarez
Die Aminosäure L-Carnitin wurde bei verschiedenen Beschwerden untersucht. Für die Behandlung Chemotherapie-induzierter Polyneuropathien fanden die Leitlinienautoren drei RCT. Die Ergebnisse waren heterogen: Positive Ergebnisse wurden in einer Studie gefunden, jedoch war die Stichprobe nur unzureichend charakterisiert. In einer weiteren Studie gab es keine positive Wirkung. In der dritten Studie wurde der Einfluss von L-Carnitin auf die Taxan-induzierte Polyneuropathie bei Brustkrebspatientinnen untersucht. Hier verschlechterte die Einnahme sogar die Symptomatik. Die Leitlinie rät daher generell von einer Behandlung von Polyneuropathien allgemein und der Chemotherapie-induzierten Polyneuropathie mit L-Carnitin ab.
Bei den Vitaminen, Mineralien und Spurenelementen wurden verschiedene Stoffe zur Linderung von Mukositiden bewertet. Eine Metaanalyse von fünf Studien zeigte keinen relevanten Einfluss von Zink auf das Auftreten Chemotherapie-induzierter Mukositiden.
In drei klinischen Studien wurde die Wirkung von Vitamin E auf die therapieinduzierte Mukositis untersucht (Tabelle 3). Zwar konnte die Einnahme in zwei von drei Studien die Häufigkeit von schweren Mukositiden verringern, allerdings weisen beide Studien gravierende qualitative Mängel auf.
Verfahren | Symptom (EL, KS) | Krebsart der Patienten | Kontext/Anmerkung |
---|---|---|---|
Aloe-vera-haltige Zubereitungen (Mundspüllösung, Rektalsalbe, Saft) | Schleimhautentzündungen (2b, SK) | Krebs | Chemo- und Strahlentherapie-induziert |
Baldrian | Ein- und Durchschlafstörungen (2b, K) | Krebs | unter tumorspezifischer Therapie |
Boswellia serrata (topisch) | Dermatitis (2b, SK) | Krebs | strahleninduziert |
Boswellia serrata | zerebrale Ödeme (2b, K) | Patienten mit Hirntumoren | |
Carnitin | Gewichtszunahme (2b, SK),Fatigue (1a-, SK),körperliche Aktivität, Funktionalität, Performance-Status (1b, SK),Muskelkraft, Griffstärke (2b, SK),Lebensqualität (1a-, SK) | Krebs | Untersuchungen zur Gewichtszunahme bei Krebspatienten mit Tumorkachexie |
Curcumin | Strahlentherapie-assoziierte Mukositis | Patienten mit Kopf-Hals-Tumoren | |
Epigallocatechingallat (Grüner Tee) | Körpergewicht, -zusammensetzung (2b-, SK),Wundheilung, Lebensqualität (2b, SK),Prävention Radiotherapie-bedingter gastrointestinaler Beschwerden | Krebs | |
Ginkgo biloba | kognitive Beeinträchtigung (1b, SK) | Frauen mit Brustkrebs | Zytostatika-bedingt |
Isoflavone | Nebenwirkungen einer Androgendeprivation/-suppression | Patienten mit Prostatakarzinom | |
Mariendistel | therapiebedingte Beschwerden (2b, K) | Krebs | |
Rhabarber | Strahlentherapie-induzierte Lungentoxizität | Krebs | |
Natriumselenit | Chemotherapie-induzierte Mukositis (2b, SK),Regeneration von Neutrophilen und Thrombozyten, Komplikationen nach SZT (2b, SK), | Patienten mit AML oder ALL | nach Hochdosis-Chemotherapie + allogener SZT mit Selendefizit |
Natriumselenit | Infektionsrate, Ejektionsfraktion (1b, SK) | Patienten mit Non-Hodgkin-Lymphom | unter CHOP-Therapieregime, unbekannte Selenspiegel |
Vitamin B6 | Hand-Fuß-Syndrom (2a, SK) | Krebs | |
Vitamin B12 | Polyneuropathie | Krebs | Ausnahme: Substitutionsbedarf wegen anderer Erkrankungen |
Vitamin B1+B6 | Neuropathie (2b, SK) | Krebs | |
Enzyme (Proteasen) | Nebenwirkungen einer Strahlentherapie(kein EL, SK) | Patienten mit verschiedenen soliden Tumoren | |
Heilpilze | Lebensqualität (2b, SK) | Krebs |
EL: Evidenzlevel, 1a: systematische Übersichtsarbeit von randomisierten klinischen Studien, 1b: einzelne randomisierte klinische Studien, 2a: systematische Übersichtsarbeit von randomisierten klinischen Studien niedriger Qualität, 2b: einzelne randomisierte klinische Studien niedriger Qualität, KS: Konsensstärke, SK: starker Konsens, K: Konsens, SZT: Stammzelltransplantation
Eine Kombination von Vitamin E und C wurde in einer weiteren Studie zur Linderung von Entzündungen der Mundschleimhaut im Rahmen einer Strahlentherapie untersucht. Auch hier verbesserte die Vitaminkombination zwar die Symptomatik, aber die Ergebnisse sind wegen qualitativer Mängel nur bedingt zuverlässig.
Neun weitere Studien untersuchten den Einfluss von Vitamin E auf das Auftreten einer Chemotherapie-induzierten Polyneuropathie. Während in fünf Studien die Häufigkeit polyneuropathischer Ereignisse abnahm, trat dieser Unterschied in den anderen vier Studien nicht auf.
In drei klinischen Studien wurde die Wirkung von Vitamin E außerdem auf unspezifische Nebenwirkungen der Tumortherapie untersucht: kein relevanter Einfluss. Schließlich wurde in jeweils einer Studie der Einfluss von Vitamin E auf die Chemotherapie-induzierte Ototoxizität beziehungsweise therapiebedingte Hitzewallungen untersucht. In beiden Studien verringerte die Einnahme von Vitamin E die Häufigkeit der Beschwerden. Allerdings wurden auch bei diesen Studien gravierende Mängel festgestellt, die die Verlässlichkeit der Ergebnisse einschränken.
Schließlich wurde eine Kombination von Vitamin E mit Vitamin A bezüglich der Steigerung der Lebensqualität unter Strahlentherapie untersucht (Tabelle 2). Durch die Einnahme der Kombination wurden Lebensqualitätsparameter verbessert. Allerdings traten vermehrt Lokalrezidive auf und das progressionsfreie Überleben war verringert. Dies könnte darauf hindeuten, dass die Vitamine die Wirksamkeit der Strahlentherapie beeinträchtigten.
Für eine Kombination aus Vitamin B12 und Folsäure identifizierten die Leitlinienautoren eine RCT, die Patienten mit Bronchialkarzinom oder Mesotheliom unter Chemotherapie einschloss. Diese untersuchte den Einfluss der Vitaminkombination auf das Gesamtüberleben, die Lebensdauer, eine Chemotherapie-bedingte Neutropenie und die Lebensqualität. In keinem dieser Endpunkte zeigte sich ein Vorteil.
Für etliche Verfahren liegen zwar Studien zur Wirkung bei verschiedenen therapiebedingten Beschwerden vor. Die Leitlinienautoren stuften deren Qualität aber insgesamt als so gering ein, dass daraus keine Empfehlungen ableitbar waren (Tabelle 4).
Es wurden vielfältige Mängel identifiziert: Ein sehr häufiges Problem stellte eine nicht ausreichend große Studienpopulation dar. Dies kann zu einer Verzerrung der Ergebnisse aufgrund einer mangelnden Strukturgleichheit zwischen den Behandlungsgruppen führen, schränkt aber auch die Übertragbarkeit der Ergebnisse ein. Häufig erfolgte außerdem keine Fallzahlschätzung zur Sicherstellung einer ausreichenden Power der Studie. Weiterhin problematisch ist, dass in zahlreichen Studien die Rate der Abbrecher sehr hoch war und nur diejenigen Teilnehmer in die Auswertung einbezogen wurden, die bis zum Ende an der Studie teilgenommen haben.
Weitere Gründe für eine mindere Qualität waren eine unzureichende Beschreibung der Studienpopulation, fehlende Angaben zu Art und Herkunft der pflanzlichen Zubereitungen oder eine lückenhafte Beschreibung des methodischen Vorgehens. Bei einigen Studien gab es keine Verblindung und es wurden ausschließlich subjektive Ergebnisparameter erhoben. Mitunter wurden Therapieregime eingesetzt, die nicht mehr dem Standard entsprechen. Aufgrund dieser Mängel unterliegen die Studienergebnisse einem erheblichen Risiko für Verzerrungen.
Zwischenfazit: Für einige komplementärmedizinische Therapieverfahren aus der Gruppe der Spurenelemente und Phytotherapeutika werden in der Leitlinie positive Empfehlungen gegeben, die Empfehlungsstärke ist aber nur schwach. Auf der anderen Seite wird von CAM abgeraten, da diese keine Wirksamkeit gezeigt haben und häufig eher mit einem potenziellen Risiko verbunden sind. Für den überwiegenden Teil der Vitamine, Spurenelemente und Phytotherapeutika ist die Studienlage so schwach, dass eine Anwendung nicht bewertet werden kann.
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Die S3-Leitlinie »Komplementärmedizin in der Behandlung von onkologischen PatientInnen« behandelt als Querschnittsleitlinie und aufgrund der Fülle komplementärmedizinischer Verfahren nur eine Auswahl solcher Behandlungsmöglichkeiten. Daher sei auf weitere Informationsquellen zur Bewertung von komplementärmedizinischen Verfahren verwiesen:
die Informationsplattform Onkopedia der Deutschen Gesellschaft für Molekulare Onkologie und Hämatologie: www.onkopedia.com/de/onkopedia/guidelines
das Kompetenznetz Komplementärmedizin in der Onkologie: www.kompetenznetz-kokon.de/fuer-betroffene/behandlungen
Neben der Wirksamkeit sollte immer auch das Wechselwirkungsrisiko von pflanzlichen Zubereitungen berücksichtigt werden.
Pflanzliche Zubereitungen unterscheiden sich von chemisch definierten Arzneistoffen in einigen Punkten, die bei der Bewertung des Wechselwirkungspotenzials berücksichtigt werden müssen. Da es sich in der Regel um ein Vielstoffgemisch handelt, können mehrere Inhaltsstoffe Wechselwirkungen verursachen. Selbst wenn ein Hemmstoff identifiziert und charakterisiert werden kann, kann man davon nicht auf die gesamte pflanzliche Zubereitung schließen. Zudem besteht teilweise eine hohe Variabilität innerhalb der pflanzlichen Zubereitungen. Ergebnisse aus Untersuchungen mit einem Pflanzenextrakt können nicht unbedingt auf einen anderen Extrakt übertragen werden.
Im Rahmen des Verbundprojekts »Kompetenznetz Komplementärmedizin in der Onkologie – KOKON«, das zwischen 2012 und 2020 von der Deutschen Krebshilfe gefördert wurde, beschäftigt sich eine Arbeitsgruppe um den Autor mit der Bewertung und Darstellung des Wechselwirkungspotenzials pflanzlicher Zubereitungen mit Arzneistoffen der onkologischen und der onkologisch-supportiven Therapie.
Kernstück des Projekts war die Entwicklung eines Algorithmus, mit dessen Hilfe das pharmakokinetische Wechselwirkungspotenzial anhand der existierenden Literatur transparent und dynamisch in verschiedene Risikokategorien eingeteilt werden kann (9).
Je größer die Vielfalt der eingenommenen Mittel, umso vielschichtiger die potenziellen Wechselwirkungen. / Foto: Adobe Stock/jozsitoeroe
Der Algorithmus priorisiert Wechselwirkungsstudien, die direkt zwischen onkologischen oder supportiven Arzneistoffen und pflanzlichen Zubereitungen durchgeführt wurden oder die den Einfluss pflanzlicher Zubereitungen auf die Aktivität metabolisierender Enzyme oder Transportproteine untersuchen. Eine weitere Priorisierung erfolgt zwischen Untersuchungen an zellulären Systemen und klinischen Studien. Es werden auch Fallberichte berücksichtigt, die die Ergebnisse aus zellulären Untersuchungen oder Untersuchungen zur Modulation der Aktivität metabolisierender Enzyme oder Transportproteine unterstützen. Schließlich werden bei der -Bewertung von Ergebnissen aus zellulären Untersuchungen die Besonderheiten pflanzlicher Zubereitungen berücksichtigt.
Das paarweise farblich codierte Wechselwirkungsrisiko zwischen derzeit 24 komplementärmedizinisch angewandten pflanzlichen Zubereitungen und 775 onkologisch und onkologisch-supportiv angewandten Arzneistoffen kann auf der Seite der Abteilung Klinische Pharmazie am Institut für Pharmazie der Universität Greifswald aufgerufen werden (https://pharmazie.uni-greifswald.de/institut/abteilungen/klinische-pharmazie/forschung/interaktionsmatrix). Neben dieser Wechselwirkungsmatrix sind detaillierte Informationen zu den Untersuchungen, die in die Bewertung eingegangen sind, und sofern vorhanden auch Wirkstoffkonzentrationen identifizierter Hemmstoffe aus Phytopharmaka im menschlichen Blutkreislauf angegeben.
Von allen in der Matrix berücksichtigten Arzneistoffen unterliegen 146 einer relevanten enzymatischen Umwandlung oder werden durch Transportproteine aktiv ausgeschieden. Damit besteht ein Risiko für pharmakokinetische Wechselwirkungen mit pflanzlichen Zubereitungen.
In der Grafik ist das Wechselwirkungspotenzial derjenigen pflanzlichen Zubereitungen, die in der Leitlinie »Komplementärmedizin in der Onkologie« eine Empfehlung erhielten, bezogen auf die 146 Arzneistoffe, dargestellt. Man sieht, dass etwa für pflanzliche Zubereitungen von Ingwer oder Mistel zwar Untersuchungen zum Wechselwirkungspotenzial vorliegen, diese aber nicht für eine klinische Bewertung ausreichen. Andererseits weisen Zubereitungen von Baldrian, Grüntee oder Traubensilberkerze mit einem großen Teil von Arzneistoffen ein geringes Wechselwirkungsrisiko auf. Das heißt: Für diese pflanzlichen Zubereitungen konnten klinische Wechselwirkungsstudien keinen relevanten Einfluss auf die Verstoffwechselung von Arzneistoffen durch das Isoenzym Cytochrom P450 (CYP) 3A4 zeigen.
Pharmakokinetisches Interaktionspotenzial von Zubereitungen ausgewählter Pflanzen mit onkologischen und supportiven Arzneistoffen; Quelle: KOKON-Projekt / Foto: PZ/Stephan Spitzer
Für Zubereitungen von Indischem Weihrauchbaum liegen In-vitro-Untersuchungen vor, die eine Hemmwirkung verschiedener Boswelliasäuren auf das CYP3A4-Enzym in einem relevanten Konzentrationsbereich zeigen. Daher kann eine Wechselwirkung mit Arzneistoffen, die über dieses Enzym verstoffwechselt werden, möglich sein.
Für koreanischen Ginseng gibt es widersprüchliche Ergebnisse zur Hemmung von CYP3A4 aus klinischen Studien. Entsprechend kann ein Wechselwirkungsrisiko nicht ausgeschlossen werden.
Das Wechselwirkungspotenzial von Zubereitungen von Johanniskraut wurde in zahlreichen klinischen Studien gezeigt. Eine kürzlich erschienene Übersichtsarbeit macht aber deutlich, dass die Stärke der Induktionseffekte für CYP3A4 und das Transportprotein P-Glykoprotein sehr stark vom Gehalt an Hyperforin in der jeweiligen Zubereitung abhängt (10).
Um Patienten zur Anwendung von komplementärmedizinischen Verfahren kompetent beraten zu können, sollte man in der Apotheke den Patienten zunächst fragen, warum er das Mittel nehmen möchte. Dann sollte geprüft werden, ob für die Anwendung ausreichend positive Evidenz vorhanden ist und wie das Interaktionsrisiko einzuschätzen ist. Für eine sinnvolle Bewertung und Beratung ist es unabdingbar, den behandelnden Onkologen mit einzubeziehen. Dies macht deutlich, dass die Beratung von Krebspatienten sehr viel interdisziplinären Austausch erfordert – ganz besonders bei der Anwendung komplementärmedizinischer biologischer Verfahren.
Christoph A. Ritter studierte Pharmazie an der Friedrich-Alexander-Universität Erlangen-Nürnberg und erhielt 1996 die Approbation. Er fertigte seine Promotion am Dr. Margarete Fischer-Bosch-Institut für Klinische Pharmakologie, Stuttgart, und am Institut für Pharmakologie der Universität Greifswald an und wurde im Jahr 2000 promoviert. Nach Forschungstätigkeit im Ausland und in Greifswald wurde er 2003 zum Juniorprofessor für Klinische Pharmazie ernannt. Nach der Habilitation im Fach Pharmakologie erhielt Ritter 2008 die Venia legendi für Pharmakologie und für Klinische Pharmazie. Seit 2009 forscht und lehrt er als Universitätsprofessor (W2) für Klinische Pharmazie an der Ernst-Moritz-Arndt-Universität Greifswald.