Was gibt es, was kommt noch? |
Daniela Hüttemann |
20.10.2022 18:00 Uhr |
Die genetische Information gelangt über messenger RNA vom Zellkern zu den Ribosomen, wo sie translatiert, also in ein Protein übersetzt wird. / Foto: Getty Images/Science Photo Library/Nanoclustering
Bislang gibt es drei Klassen von Nukleinsäure-Therapeutika, die sich bereits in der Anwendung befinden: Antisense-Oligonukleotide, small interfering RNA (siRNA) und messenger RNA (mRNA). Während die ersten beiden aufgrund der Indikationen (meist seltene Erkrankungen) und der hohen Preise noch eher selten verordnet werden, sind die mRNA-Impfstoffe gegen Covid-19 bekanntlich bereits weltweit milliardenfach eingesetzt worden.
»Am längsten gibt es die Antisense-Strategie«, erläuterte Dr. Mark Helm, Professor für pharmazeutische Chemie an der Uni Mainz, kürzlich bei einem Fortbildungskongress zur Genetik der Apothekerkammer Schleswig-Holstein in Kiel. Es handelt sich um kurzkettige, einzelsträngige Nukleinsäuren, deren Basensequenz entgegengesetzt zu einer funktionalen mRNA ist, daher der Name Antisense. Sie verhindern die Biosynthese des entsprechenden Proteins, indem sie an die zugehörige mRNA binden und dadurch die Translation an den Ribosomen verhindern.
Die Technologie wurde bereits in den 1980er-Jahren entwickelt. Das erste zugelassene Medikament in der EU war 1999 Fomivirsen (Vitravene ®), das als Virostatikum bei Aids-Patienten mit Zytomegalie-Virusinfektion der Netzhaut zum Einsatz kam. Es wurde direkt in den Augapfel injiziert. »Mittlerweile ist es aufgrund des mangelnden Bedarfs, was ja erfreulich ist, nicht mehr auf dem Markt ist«, so Helm.
Als eine der teuersten Therapien der Welt gilt die Behandlung mit Nusinersen (Spinraza®), das 2017 in der EU zur Behandlung der seltenen Erkrankung spinale Muskelatrophie (SMA) zugelassen wurde. Es war in dieser Indikation das erste dafür zugelassene Medikament und ermöglicht den betroffenen Kindern ein fast normales Aufwachsen, betonte Helm. Es muss dazu allerdings regelmäßig ins Rückenmark gespritzt werden. Seit 2020 gibt es für diese Indikation mit Onasemnogen-Abeparvovec (Zolgensma™) auch eine Gentherapie, die nach bisherigem Kenntnisstand nur einmal im Leben durchgeführt werden muss.
Daneben sind in der EU noch Volanesorsen (Waylivra®) zur Behandlung des familiären Chylomikronämie-Syndroms und Inotersen (Tegsedi®) zur Behandlung von Polyneuropathie bei hereditärer Transthyretin-vermittelter Amyloidose (hATTR) zugelassen. In den USA gibt es noch einige weitere Präparate, unter anderem zur Behandlung der Duchenne-Muskelatrophie. Außerdem befinden sich viele Antisense-Oligonukleotide in der klinischen Entwicklung, darunter auch solche gegen Diabetes, Alzheimer, Parkinson und altersabhängige Makuladegeneration.
Eine wachsende Wirkstoffklasse sind auch die siRNA-Präparate. Dabei handelt es sich um kurze, doppelsträngige RNA-Moleküle. Das Prinzip wird auch RNA-Interferenz (RNAi) genannt, für dessen Entdeckung in den 1990er-Jahren es bereits 2006 den Medizin-Nobelpreis gab. Auch mit diesem Verfahren lassen sich Gene gezielt stumm schalten, indem die Translation verhindert wird; dabei gibt es unterschiedliche Mechanismen.
»Hier stecken zwei Jahrzehnte Entwicklungsarbeit drin, bevor 2018 mit Patisiran (Onpattro®) der erste Vertreter dieser Wirkstoffklasse in den USA zugelassen wurde«, erklärte Helm. Indiziert ist es wie Inotersen bei hATTR. Es folgten bislang vier weitere EU-Zulassungen:
Heraus sticht Inclisiran, da es erstmals eine weit verbreitete Indikation adressiert. So kann es mit Statinen und anderen Lipidsenkern kombiniert werden, wenn diese nicht ausreichen oder sogar bei Intoleranz oder Kontraindikation gegen Statine allein gegeben werden. Es wird subkutan durch medizinisches Fachpersonal appliziert, einmal zu Behandlungsbeginn, nach drei Monaten und dann dank der Formulierung und Depotbildung alle sechs Monate. Auch bei den siRNA-Medikamenten ist viel Dynamik im Markt.
Die dritte Wirkstoffklasse, die mRNA, hat aufgrund der Coronapandemie einen unverhofften Schub bekommen. Hier werde allerdings nicht ein Gen stillgelegt, sondern die Produktion des kodierten Proteins angekurbelt, machte der Pharmazieprofessor deutlich. Das ermögliche beispielsweise eine Supplementierung, wenn bestimmte Proteine fehlen.
»Wir haben grundsätzlich zwei Probleme beim medizinischen Einsatz von Nukleinsäuren: die Formulierung und die Immunantwort«, erklärte Helm, der selbst an der Verpackung von RNA forscht. »Nukleinsäuren sind mehrfach negativ geladen und daher schwer durch die Membranen zu bekommen. Zudem sind sie sehr zerbrechlich und werden schnell abgebaut. Daher müssen wir sie richtig verpacken, um sie an den Wirkort zu bekommen.« Das sehe man auch an obigen Beispielen, die zum Teil intrathekal oder intraokulär appliziert werden und damit aufwendig und unangenehm seien.
Daher wird weiter an der Formulierung von RNA-Therapeutika gearbeitet, um sie in Zukunft zum Beispiel nasal oder inhalativ bei respiratorischen Erkrankungen einsetzen zu können. »Nackte« Nukleinsäure werde binnen Minuten renal eliminiert, so Helm. Nanopartikel gehen zum Großteil in die Leber – was man auf der einen Seite ausnutzen könne, wie Arzneimittel gegen zu hohes Cholesterin, bei Hepatitis oder Lebertumoren, in anderen Indikationen aber hinderlich sei. Besonders schwierig bleibe »die Delivery« ins Gehirn, wie bei Alzheimer oder Huntington.
Im Fall der mRNA-Coronaimpfstoffe ist es das Spikeprotein von SARS-CoV-2, das exprimiert wird und dem Immunsystem als Antigen dient. »Das Impfen in den Oberarm-Muskel ist hier ein glücklicher Ausnahmefall«, sagte der Referent, »denn Wächterzellen des Immunsystems, das wir erreichen wollen, patrouillieren auch hier«. Tozinameran (Comirnaty®) und Elasomeran (Spikevax®) enthalten nukleosid-modifizierte mRNA als Lipidnanopartikel formuliert. »Es handelt sich dabei um Lipoplexe oder sogenannte SNALP (Stable Nucleic Acid Lipid Particle), nicht um Liposomen«, stellte der Referent klar.
Entscheidend für eine ausgewogene Immunreaktion, also eine Balance zwischen ausreichender Antikörperbildung ohne zu starke Nebenwirkungen der Impfung, ist nach Helms Einschätzung die Modifikation der RNA. Biontech und Moderna hätten die gleiche Modifikation genutzt, nämlich einen Austausch von Uridin zu N1-Methylpseudouridin – einfach nur eine Methylgruppe am Uridin. »Dies verbessert die Proteinexpression bei reduzierter Immunogenität«, fasste der Experte den bisherigen Kenntnisstand zusammen. Hierum geht es wohl auch im derzeitigen Patentstreit.
Curevac dagegen hatte auf nicht modifizierte RNA gesetzt, allerdings mit optimierter Sequenz, um den Toll-Like-Rezeptoren auszuweichen. In den klinischen Studien mit dem ursprünglichen Kandidaten Zorecimeran (CVnCoV) konnte jedoch keine ausreichende Schutzwirkung erreicht werden.
An einer Optimierung der Sequenzen, um sie stärker oder schwächer immunogen zu machen, werde weiter geforscht, so Helm, auch im Hinblick darauf, dass mRNA in Zukunft bei vielen weiteren Indikationen, vor allem bei Tumoren und Infektionen, als weitere Variante der Immuntherapie zum Einsatz kommen soll.