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Inkontinenzprodukte

Hilfe gegen ein Tabu

10.12.2007  13:39 Uhr

Inkontinenzprodukte

Hilfe gegen ein Tabu

Von Bettina Sauer

 

Blasen- und Darmschwäche lassen sich mit Medikamenten, Physiotherapie oder Operationen fast immer in den Griff bekommen. Bis die Maßnahmen greifen oder falls sie versagen, können Hygiene-Hilfsmittel den Betroffenen den Alltag erheblich erleichtern.

 

Mehr als fünf Millionen Menschen in Deutschland leiden an einer Krankheit, über die niemand gern spricht: An Harn-, beziehungsweise Stuhlinkontinenz, also Blasen- oder Darmschwäche. Das schätzt die Deutsche Kontinenz Gesellschaft mit Sitz in Kassel. Und viele Betroffene behelfen sich auf eigene Faust mit Hygieneartikeln, Binden oder Papiertaschentüchern. Christa Thiel, Geschäftsführerein der Deutschen Kontinenz Gesellschaft, sagte im Gespräch mit der PZ: »Unseren Schätzungen zufolge dauert es durchschnittlich drei Jahre, bis jemand sich wegen Inkontinenz an einen Arzt wendet.« Denn viele glauben, sie gehöre zum normalen Alterungsprozess dazu oder lasse sich sowieso nicht behandeln. »Andere verheimlichen ihr Leiden aus Scham. Gerade die Stuhlinkontinenz gilt als eines der letzten Tabuthemen unserer Gesellschaft.«

 

Diese Sprachlosigkeit will die Deutsche Kontinenz Gesellschaft durchbrechen und die gut wirksamen Therapiemöglichkeiten weithin bekannt machen. Denn die reizenden Ausscheidungsprodukte von Blase und Darm können an der Haut schwere Schäden verursachen. Zudem möchten viele Betroffene sich stets nah am rettenden stillen Örtchen und an Möglichkeiten zum Kleidungswechsel aufhalten. Damit ziehen sie sich immer mehr aus dem gesellschaftlichen Leben zurück. Und mit ihnen zusammenzuleben oder sie zu pflegen, gerät auch für viele Angehörige zur Belastungsprobe. Dabei ist das Leid in vielen Fällen unnötig. Denn Inkontinenz lässt sich mithilfe von Medikamenten, Physiotherapie oder Operationen oft heilen oder zumindest mit geeigneten Hilfsmitteln erheblich lindern.

 

Der Sammelbegriff bündelt verschiedene Ausprägungen von Blasen- und Darmschwäche, die oft als Mischformen auftreten. Ihr gemeinsames Kennzeichen ist der unfreiwillige Verlust von Harn oder Stuhl. Meist stützt sich die Therapie auf die Behandlung der Grunderkrankung, die der Arzt ausfindig machen muss.

 

Bei einer Dranginkontinenz, einer häufigen Form der Blasenschwäche, lassen sich beispielsweise plötzliche Harndrang-Attacken nicht unterdrücken. Sind dabei die Blasenmuskeln überaktiv, können möglicherweise anticholinerge Medikamente wie Oxybutynin, Solifenacin und Darifenacin wieder für Entspannung sorgen. Im Zuge der chronischen Harnretention ist die Blasenmuskulatur geschwächt oder der Blasenausgang blockiert, etwa infolge einer Gebärmuttersenkung oder Prostatavergrößerung. Die Blase lässt sich nicht komplett entleeren und verliert kontinuierlich tröpfchenweise Urin. Mit Abstand am häufigsten kommt es zu einer Belastungsinkontinenz. Dabei arbeitet der Schließmuskel am Blasenausgang nicht ausreichend. Üben Betroffene Druck auf ihre Blase aus, etwa beim Heben, Hüpfen oder Husten, gibt er nach und lässt kleine Mengen Urin auslaufen. Oft liegt dem Leiden eine Schwächung des umliegenden Beckenbodens zugrunde, etwa infolge von Alterungsprozessen, Schwangerschaften oder Operationen. Um ihn zu kräftigen, verordnet der Arzt ein gezieltes Beckenbodentraining unter Anleitung. Unterstützen lässt es sich unter anderem durch Biofeedback, das eine erfolgreiche Muskelanspannung mit einem optischen oder akustischen Signal anzeigt.

 

Angeleitetes Training bildet zudem eine zentrale Therapiesäule der Stuhlinkontinenz. Denn ein kräftiger Beckenboden stärkt auch den Schließmuskel des Darms. Des Weiteren kommen Ernährungspläne oder Medikamente zum Einsatz, die einen geschmeidigen Stuhl produzieren. Ansonsten gilt es abermals, die Grunderkrankung, häufig eine chronische Darmentzündung sowie Schädigungen des Schließmuskels oder der Analhaut, aufzuspüren und nach Möglichkeit zu behandeln. Oft lässt sich eine Darm- und Blasenschwäche auch auf Stoffwechsel- oder neurologische Störungen sowie verschiedene Medikamente zurückführen. Bei vielen Formen der Harn- und Stuhlinkontinenz stehen neben den genannten Therapien sehr effektive operative Behandlungsmöglichkeiten zur Verfügung.

 

Hilfsmittel zur Überbrückung

 

Hygiene-Artikel helfen idealerweise nur über die Zeit hinweg, bis die Maßnahmen wirken. Sollten alle Therapien versagen, können sie den Betroffenen den Alltag erheblich erleichtern. Erhältlich sind sie nicht nur in Apotheken, sondern auch in Sanitätshäusern oder per Direktversand von den Herstellerfirmen. Das Hilfsmittelverzeichnis der Gesetzlichen Krankenversicherung, das alle erstattungsfähigen Produkte listet, unterscheidet zwischen ableitenden und aufsaugenden Produkten. Zu Ersteren zählen Katheter (siehe dazu Krankenpflegeartikel: Wann ist welcher Katheter der richtige?), sowie Anal- und Vaginaltampons oder Urinalkondome, die mit passenden Beinbeuteln verbunden werden. »Die Vielfalt der aufsaugenden Inkontinenzhilfen für Männer und Frauen ist recht verwirrend«, sagte Thiel. Die Auswahl müsse eigentlich immer mit dem Arzt erfolgen. »Sie richtet sich in erster Linie nach der Wechselhäufigkeit und dem Volumen der Ausscheidungen.« Diese lassen sich mithilfe von Harn- oder Stuhltagebüchern ermitteln.

 

Je nach Schweregrad unterscheiden sich die Produkte in Saugstärke und Form. Bei leichter Blasenschwäche reichen meist sogenannte Rechteckvorlagen: kleine, diskrete, aber dennoch hochsaugende Einlagen, die ähnlich wie Monatsbinden in den Slip geklebt werden. Patienten mit mittelschwerer bis schwerer Harninkontinenz erhalten anatomisch geformte Vorlagen, die sich dem Unterleib anpassen und deshalb unter der Kleidung noch weniger auffallen und an den Rändern dichter abschließen als Rechteckvorlagen. Je nach Saugleistung werden sie in Kategorie 1 bis 3 unterteilt. Damit eine große Vorlage optimal sitzt, muss eine spezielle Netzhose direkt darüber oder über den Slip gezogen werden. Bei schwerer Harn- und den meisten Fällen von Stuhlinkontinenz eignen sich Windelhosen, die ebenfalls in drei verschiedenen Größen angeboten werden. In sogenannte Inkontinenz-Pants schlüpfen die Träger hinein wie in normale Unterwäsche. Inkontinenz-Slips lassen sich dagegen ähnlich wie Säuglingswindeln an den Seiten zukleben. Meist brauchen die Träger beim Anlegen Hilfe.

 

Die Kernanforderung, die das Hilfsmittelverzeichnis an die Erstattungsfähigkeit eines aufsaugenden Inkontinenzprodukts stellt, ist die zuverlässige, auslaufsichere Aufnahme von Ausscheidungen. Daneben sollen sich Vorlagen und Windelhosen nicht auffällig unter Kleidung abzeichnen oder gar knistern, keine Allergien auslösen, Tragekomfort bieten und die Haut vor Feuchtigkeit und reizenden Ausscheidungsprodukten schützen. Das gewährleisten sie über die Firmengrenzen hinweg mit einem relativ ähnlichen Grundaufbau.

 

Den Kern der Vorlagen und Windeln bildet ein kräftiger Saugkörper. Er besteht meist aus einem Gemisch aus Cellulosefasern und Gelbildnern, die ein Vielfaches ihres Eigengewichts an Flüssigkeit aufnehmen und selbst unter Druck nicht wieder abgeben. Zudem enthält das Gewebe oft geruchsbindende Substanzen. Als Abgrenzung zum Körper dient meist eine Celluloseschicht, die Feuchtigkeit möglichst leicht von der Haut weg- und in den Saugkörper hineinleitet. Die Kunst- und Klebstoffe, die Windeln und Vorlagen nach außen begrenzen, sollten dagegen wasserundurchlässig, knisterfrei und hautfreundlich sein. Bei manchen Windelhosen signalisiert ein Nässeindikator in der Außenfolie, wann ein Wechsel erforderlich ist.

 

Doch richte sich die Qualität nach dem Preis, sagte Thiel. »Moderne Markenprodukte übertreffen die Mindestanforderungen des Hilfsmittelverzeichnisses deutlich.« Bei günstigen Artikeln unbekannter Anbieter werde dagegen oft an Materialen oder der Verarbeitung gespart. Sie enthielten dann etwa minderwertige Klebstoffe, die leicht Allergien auslösten, oder einen geringeren Anteil an Gelbildnern, sodass sie weniger Flüssigkeit aufnähmen.

 

Der Arzt darf Vorlagen und Windeln zulasten der Gesetzlichen Krankenkassen verordnen, wenn er das für medizinisch notwendig hält. Doch muss er auf dem Rezept einen Hinweis auf den Verordnungsgrund angeben, zum Beispiel:

 

»Harn und/oder Stuhlinkontinenz: Behandlung einer Krankheit, zum Beispiel Dermatosen«,

»Harn-/und Stuhlinkontinzenz: Zur Prävention von Dermatosen«,

»Harn- und/oder Stuhlinkontinenz: Ermöglichung der Teilnahme am gesellschaftlichen Leben.« 

 

Patienten müssen 10 Prozent je Packung zuzahlen, höchstens jedoch 10 Euro im Monat. Anfang 2005 legten die Krankenkassen für alle Gruppen der Inkontinenzprodukte Festbeträge fest, die sie regelmäßig aktualisieren. Thiel sagte: »Die meisten Markenhersteller haben sich darauf eingestellt und eine Basislinie etabliert, die unter dieser erstattungsfähigen Preisgrenze liegt. Wenn sich Patienten für teurere Varianten entscheiden, zahlen sie den Preisunterschied aus eigener Tasche.«

 

Doch dürfte sich in Zukunft einiges ändern. Im Zuge des Wettbewerbsstärkungsgesetzes im Gesundheitswesen haben die Krankenkassen bereits Ausschreibungen für aufsaugende Inkontinenzprodukte in einzelnen Bundesländern durchgeführt. Weitere werden folgen. Voraussichtlich bekommen die Versicherten ab 2009 je nach Kasse nur noch Produkte eines Herstellers, und zwar vermutlich als Direktlieferung unter Auslassung der Apotheke. »Damit entfallen für Patienten sämtliche Wahlmöglichkeiten«, kritisierte Thiel. »Und unter diesen wirtschaftlichen Bedingungen werden viele Apotheken wohl kein breites Sortiment an Inkontinenzartikeln mehr vorrätig halten können.«

 

Dabei sei es für die optimale Versorgung  wichtig, dass Patienten ausprobieren und auswählen könnten. »Wir stellen immer wieder fest, dass sich nicht jedes Produkt für die persönlichen Bedürfnisse jedes Betroffenen eignet. Deshalb sind die Beratung und die kostenlosen Probeexemplare aus der Apotheke unverzichtbar.« Von unschätzbarem Wert sei die Apotheke auch als Anlaufstelle für Neuerkrankte, die den Arztbesuch scheuen. Wenn jemand Windelhosen ohne Rezept kaufen wolle, könne der Apotheker fragen: »Sie wissen doch, dass Sie sich das vom Arzt verschreiben lassen können?« Allein damit lasse sich oft ein unverfängliches, nicht beschämendes Beratungsgespräch und der Weg zum Arztbesuch und der geeigneten Therapie eröffnen - und damit vielleicht eine unnötige Leidensgeschichte beenden.

Deutsche Kontinenzgesellschaft

Für weitere Informationen kann der Apotheker Betroffene an die Deutsche Kontinenzgesellschaft verweisen: www.kontinenz-gesellschaft.de, Experten-Hotline: (0 18 05) 23 34 40.

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