Das heimliche Leiden |
06.11.2012 12:25 Uhr |
Von Claudia Borchard-Tuch / Die Epilepsie ist die dritthäufigste neurologische Erkrankung im höheren Alter. In Deutschland sind etwa 150 000 Menschen über 60 Jahren betroffen. Das Krampfleiden ist meist schwierig zu erkennen oder wird gar fehldiagnostiziert. Viele Antiepileptika sind im Alter weniger gut verträglich.
Das neuronale Feuerwerk während eines epileptischen Anfalls gleicht einem wilden Gewitter. Unkontrollierte Entladungen von Nervenzellen können zu einer schweren funktionalen Störung im Gehirn führen. Je nach Anfallsform – »fokal«, in einem genau definierten Ort des Gehirns entstehend, oder »generalisiert«, das gesamte Hirn betreffend – kann es zu Bewusstseinsstörungen, Halluzinationen, psychomotorischen Störungen oder unkontrollierten Zuckungen der Muskulatur kommen.
Es gibt Menschen, die ein ganzes Leben lang unter einer Epilepsie litten und mit ihr alt geworden sind. »Diese Menschen kommen meist gut mit ihrer Erkrankung zurecht«, erklärt Professor Dr. Christian E. Elger, Leiter des Epilepsiezentrums der Universitätsklinik Bonn, im Gespräch mit der Pharmazeutischen Zeitung. »Schwieriger wird es im Allgemeinen für Patienten, bei denen sich das Anfallsleiden erstmals in einem Alter von über 60 Jahren zeigt. Daher denkt man beim Begriff der Altersepilepsie zunächst an diese Patientengruppe.«
Nicht immer sofort erkennbar
Der generalisierte Grand-mal-Anfall (Epilepsia major) ist bei älteren Patienten deutlich seltener als bei jüngeren (1, 2). Während zwei Drittel der jüngeren Epilepsie-Patienten Grand-mal-Anfälle erleiden, ist es bei den Älteren nur ein Viertel. Dabei werden mehrere Phasen unterschieden. Unmittelbar vor Beginn des Anfalls kann eine Aura auftreten, die mit Halluzinationen verbunden ist. Es folgt die tonische Krampfphase. Der Patient ist bewusstlos. Er kann stürzen und sich dabei verletzen. Es besteht die Gefahr von Zungenbissverletzungen. Sekunden bis Minuten später folgt die klonische Phase mit generalisierten Zuckungen. Daran schließt sich der Terminalschlaf mit tiefer Atmung, Blässe und Miosis an. Der Patient erwacht langsam, ist benommen und verspürt häufig Kopfschmerzen und Muskelkater.
Eine Epilepsie zeigt sich bei Senioren oft sehr diskret. Manchmal wirken sie während eines Anfalls einfach nur geistesabwesend.
Foto: Fotolia/miklav
Epileptische Anfälle sind im Alter meist fokal. Sie gehen von einem Ursprungsort aus, und die neuronalen Entladungen bleiben auf einen umschriebenen Bereich des Gehirns beschränkt. Wie sich der Anfall äußert, hängt vom Ort der Störung ab. So kann es zu rhythmischen Zuckungen einer Extremität kommen oder zu Missempfindungen. Während das Bewusstsein bei einfachen fokalen Anfällen erhalten bleibt, ist es bei den komplex-fokalen immer gestört. Der Patient hat Schwierigkeiten, sich zu erinnern.
Ein fokaler Anfall dauert in der Regel eine bis zwei Minuten. Die Zeit danach (postiktual) kann jedoch bis zu 24 Stunden, bei einem älteren Patienten sogar Tage andauern und mit neurologischen Ausfällen einhergehen. Als postiktuale Phase bezeichnet man den Zeitraum, in dem sich der Patient nach einem Anfall erholt – der Erkrankte reorientiert sich, das heißt er kehrt zurück in die Wirklichkeit. Wie häufig ein fokaler Anfall auftritt, ist sehr variabel – einmal jährlich, jedoch auch ein- bis zehnmal pro Tag.
Anfallsvorgefühle, das heißt Auren, sind bei älteren Patienten selten (1). Hierbei empfinden die Patienten etwas Besonderes, beispielsweise ein »komisches Gefühl« oder dass »alles weit weg ist« oder »Schwindel«. Es kann zu Déjà-vu-Erlebnissen kommen, die sich in dem Gefühl äußern, eine neue Situation schon einmal erlebt, gesehen oder geträumt zu haben. Bei einer Schläfenlappenepilepsie empfindet der Patient häufig eine vom Bauchraum aufsteigende Übelkeit. Dem Beobachter fällt oft nur auf, dass der Patient abwesend wirkt.
»Manche Menschen halten eine Schlafstörung für einen Vorboten einer Epilepsie«, erklärt Elger. »Natürlich kann eine schwere Schlafstörung auch in höherem Lebensalter Anfälle provozieren. Aber eine Schlafstörung ist weder ein Vorbote noch ein Symptom einer Epilepsie.«
Häufig fehlen bei älteren Patienten während des Anfalls motorische Automatismen, das heißt unwillkürliche Bewegungen wie Schlucken, Kauen oder Trampeln. »Die postiktuale Phase ist bei einem älteren Patienten deutlich verlängert«, sagt Elger. Dies gilt auch für die postiktuale Verwirrtheit. Dauert sie bei einem jungen Patienten in der Regel zehn bis 15 Minuten, kann sie bei einem älteren über Stunden und Tage anhalten (2). »Im Allgemeinen gilt die Regel: Je älter ein Patient ist, desto länger dauert der Anfall«, erklärt der Epilepsie-Experte.
Aufgrund der oft wenig typischen Symptome besteht die Gefahr, dass ein epileptischer Anfall bei einem älteren Menschen nicht erkannt wird. Oftmals werden Anfälle als unklare mentale Veränderungen, Verwirrtheit, Synkopen, Gedächtnisstörungen oder als Schwindel fehlgedeutet. Zudem bemerken Betroffene einen kurzen Anfall, der mit einem Bewusstseinsverlust einherging, oft gar nicht. Nach Elgers Erfahrung gibt nur ein Viertel der Patienten die Anfälle richtig wieder.
Häufige Stürze können, müssen jedoch nicht Zeichen für eine Epilepsie sein. Klagt ein Kunde in der Apotheke immer wieder über Stürze, muss die Ursache in jedem Fall abgeklärt werden. Denn Stürze können viele Ursachen haben, beispielsweise Herzrhythmusstörungen oder Schwindelattacken.
Vielfältige Ursachen und Auslöser
Eine Epilepsie tritt am häufigsten erstmalig in einem Alter von über 75 Jahren auf (Grafik). Bei den Älteren sind es meist Durchblutungsstörungen oder neurodegenerative Erkrankungen, die zu einer Epilepsie führen. Bei neurodegenerativen Erkrankungen wie Morbus Alzheimer oder Parkinson-Syndrom gehen im Lauf der Erkrankung immer mehr Nervenzellen zugrunde. Schließlich fehlen im Gehirn hemmende Neurone, die eine Erregung begrenzen würden: Eine Epilepsie kann entstehen.
Anzahl der Neuerkrankungen an Epilepsie in Abhängigkeit vom Alter; mod. nach (1)
»Manchmal kommen im Alter auch De-Novo-Abscencen vor«, so Elger. Dies sind kurze Bewusstseinsstörungen ohne motorische oder vegetative Symptome. »Diese Menschen hatten zuvor nie Anfälle und werden davon vollkommen überrascht.« De-Novo-Abscencen sind genetisch bedingt und werden durch Begleitumstände ausgelöst.
Eine Reihe von Medikamenten kann die Krampfschwelle senken, wobei die Mechanismen der Anfallsauslösung weitgehend ungeklärt sind. In therapeutischer Dosierung gilt dies für Neuroleptika, trizyklische Antidepressiva, Muskelrelaxanzien, Sympathomimetika sowie eine Reihe von Analgetika, Antirheumatika und Antibiotika. Bei Überdosierung können auch Diphenylhydantoin, Isoniazid, Acetylsalicylsäure, Clozapin und Antihistaminika Krämpfe induzieren. Bei intravenöser Gabe können Theophyllinderivate, Penicillin, Narkotika, Cephalosporine, Piperazine und Piracetam einen Anfall auslösen. Die intrathekale Gabe von Antibiotika, Zytostatika, Baclofen und Kontrastmitteln kann ebenfalls dazu führen (10). Werden die Medikamente abgesetzt oder altersgerecht dosiert, sinkt die Anfallsneigung.
Sicherheit des Patienten gewährleisten: scharfkantige Gegenstände aus seiner Umgebung entfernen, Patienten eventuell von einer nahen Treppe wegziehen
bei Bewusstseinsverlust stabile Seitenlagerung
Arzt benachrichtigen
Anfallsverlauf beobachten und dokumentieren
Die Auslöser eines Anfalls sind vielgestaltig und individuell sehr unterschiedlich. Im Alter lösen Störungen des Elektrolythaushalts wie eine Hyponatriämie häufiger einen Krampfanfall aus. Ältere können Dysbalancen des Elektrolythaushalts nicht so gut ausgleichen wie junge Menschen. In allen Altersgruppen können Flackerlicht, Sonne, Unterzuckerung, Alkohol, Schlafmangel oder Stress Krampfanfälle auslösen.
Gründliche Diagnostik
Menschen, die erstmals einen Anfall erleiden, müssen auf jeden Fall zum Arzt gehen. Erster Ansprechpartner ist häufig der Hausarzt, der den Patienten in der Regel zu einem Spezialisten überweist.
Es gilt zu klären, ob es sich tatsächlich um einen epileptischen Anfall handelte oder um eine andere Störung, beispielsweise des Kreislaufs oder des Stoffwechsels. Auch psychische Krankheiten wie Ängste oder Depressionen können Epilepsie-ähnliche Anfälle auslösen. Anzeichen einer Aura werden leicht mit den Aurasymptomen bei Migräne verwechselt.
Selbst wenn der Patient mit großer Wahrscheinlichkeit einen epileptischen Anfall erlitten hat, ist die Diagnose noch nicht unbedingt gesichert. Bei etwa der Hälfte der Patienten können im routinemäßigen Wach-Elektroenzephalogramm (EEG) epileptische Anfälle während der Untersuchung nachgewiesen werden. Außerdem kann der Arzt prüfen, wie das Gehirn auf äußere Reize reagiert. Er setzt Lichtreize ein (Flackerlicht) oder fordert den Patienten auf, eine Zeit lang schnell zu atmen (Hyperventilation). Eventuell provozieren solche Manöver charakteristische EEG-Veränderungen oder gar einen Anfall. Auch Schlafentzug führt manchmal zu einem epileptischen Geschehen. Um die Diagnose zu sichern, kommt auch ein Langzeit-EEG, eventuell mit Videoüberwachung, infrage. »Gelingt es den Angehörigen, einen Anfall zu fotografieren oder gar zu filmen, kann das Geschehen genau analysiert werden«, sagt Elger.
Im Elektroenzephalogramm (EEG) kann der Arzt epileptische Anfälle während der Untersuchung erkennen.
Foto: Superbild
Kernspintomografie und Computertomografie des Kopfes dienen dem Nachweis oder Ausschluss struktureller Hirnveränderungen als Ursachen der Epilepsie. Bestimmte Veränderungen wie Durchblutungsstörungen oder Verletzungen könnten der Ausgangsherd der Anfälle sein.
Um andere Krankheiten als Ursache auszuschließen, sind eventuell weitere Untersuchungen erforderlich. Im EKG lassen sich Herzrhythmusstörungen aufzeichnen, die eine plötzlich eintretende Bewusstlosigkeit auslösen können. Eine Blutuntersuchung dient dem Nachweis von Stoffwechselstörungen. Interessant sind vor allem Blutzucker, Blutsalze sowie Leber- und Nierenwerte. Nach einem Anfall, der mit Muskelkrämpfen einherging, können die Kreatinkinase (CK) oder das Prolactin erhöht sein.
Bei Verdacht auf eine Enzephalitis, die einem epileptischen Anfall zugrunde liegen kann, ist eine Lumbalpunktion erforderlich, sodass der Liquor untersucht werden kann.
Epileptische Anfälle vermeiden
Manchmal lassen sich epileptische Anfälle relativ einfach verhindern. Der Patient sollte möglichst wenig Alkohol trinken und Unterzuckerungen vermeiden – dies gilt nicht nur für Diabetiker, sondern generell. »Ein Patient mit Epilepsie sollte nicht mehr als ein Glas Wein pro Tag trinken«, merkt Elger an. Auf Kaffee brauche er nicht zu verzichten. Wichtig ist, auf ausreichenden Schlaf zu achten und Stress zu vermeiden.
Wenn Präventivmaßnahmen die Anfälle nicht komplett verhindern können, ist der Einsatz von Antiepileptika unumgänglich. »Zwar schädigt ein kleiner Anfall das Gehirn im Allgemeinen nicht«, erklärt Elger. Aber die Altersepilepsie müsse konsequent behandelt werden, schon um Stürze und Knochenbrüche zu vermeiden. Und auch im Alter kann es zum plötzlichen unerwarteten Tod bei einem epileptischen Anfall (sudden unexpected death in epilepsy, SUDEP) kommen. »Hierbei ist die Herzfrequenz extrem erhöht. Teilweise wird ein Puls von über 200 Schlägen pro Minute gemessen. Dies ist extrem gefährlich. An dieser Belastung kann der Patient versterben.« Todesfälle dieser Art treten in einer Häufigkeit bis zu rund 1 : 100 Patientenjahre auf.
Bei der Auswahl des Antiepileptikums spielen altersbedingte Veränderungen der Pharmakokinetik eine große Rolle. Im Alter sind Magensekretion, Blutvolumen und Blutfluss sowie die gastrointestinale Motilität vermindert. Die Serumkonzentration eines Medikaments hängt stark von seiner Proteinbindung ab, vor allem an Serumalbumin. Da die Proteinbindung im Alter deutlich abnimmt, steigt der freie Anteil eines Arzneistoffs im Serum an. Dies verstärkt sowohl erwünschte als auch unerwünschte Wirkungen und ist besonders bedeutsam bei Antiepileptika mit hoher Eiweißbindung wie Valproinsäure, Phenytoin oder Carbamazepin (2).
Vorsicht bei der Aut-idem-Substitution von Antiepileptika: Hier sollte der Apotheker pharmazeutische Bedenken anmelden.
Foto: PZ/Müller
Wichtige altersbedingte Veränderungen sind eine Verminderung der Lebermasse und damit des Leberstoffwechsels sowie eine Abnahme der Nierenfunktion. Im Gegensatz zur Leber- ist die Nierenfunktion laborchemisch gut messbar (2).
Vorsicht vor Carbamazepin und Co
Aufgrund der vielen Interaktionen sind die enzyminduzierenden Antiepileptika (Carbamazepin, Phenytoin, Phenobarbital, Primidon) im Alter nicht zu empfehlen (1). Sie senken die Serumkonzentrationen beispielsweise von Antidepressiva und Antipsychotika sowie von Benzodiazepinen und Steroiden. Bei der Einnahme von Phenobarbital treten bei älteren Patienten zudem häufig paradoxe Erregungszustände auf (11).
Besonders gefährlich ist die Kombination von Oxcarbazepin mit einem Natriuretikum wie Furosemid, das die durch Oxcarbazepin induzierte Hyponatriämie weiter verstärkt.
»Ein älterer Patient sollte weder Carbamazepin noch Oxcarbazepin erhalten. Neben einem hohen Interaktionspotenzial dämpfen ihn diese Medikamente sehr stark«, betont Elger. »Nur wenn er seit Langem, zum Beispiel über zwanzig Jahre mit Carbamazepin oder Oxcarbazepin erfolgreich therapiert wurde, stellen wir die Medikation nicht um.« Schließlich gebe es Antiepileptika, die im Alter besser vertragen werden. Hierzu gehören laut Elger beispielsweise Lamotrigin und Levetiracetam. So erwies sich Lamotrigin in kontrollierten, randomisierten und doppelblinden Studien als wirksam und verträglich (2, 3, 4, 5). Auch Levetiracetam war bei älteren Patienten gut verträglich und wirksam (6).
Eine Alternative zu Carbamazepin oder Oxcarbazepin bietet auch Valproinsäure (1). Obwohl das Risiko eines Parkinson-Syndroms mit kognitivem Abbau bei Valproinsäure auf etwa 2 Prozent geschätzt wird und im Alter häufiger zu sein scheint, sind das Fehlen von Müdigkeit und Verlangsamung sowie die fehlende Enzyminduktion in der Leber günstig (2).
Neben den genannten Medikamenten werden auch Gabapentin, Topiramat, Ethosuximid, Felbamat und Rufinamid eingesetzt. Zur antiepileptischen Therapie älterer Patienten liegen keine Leitlinien, systematische Übersichtsarbeiten oder Metaanalysen vor (2).
Lacosamid kann das PR-Intervall (Zeitraum vom Beginn der Vorhoferregung bis zum Beginn der Kammererregung) dosisabhängig verlängern. Daher ist bei älteren Patienten Vorsicht geboten. Vigabatrin ist aufgrund potenzieller gravierender Gesichtsfeldeinschränkungen nicht empfehlenswert.
Tiagabin kann vermehrt zu Depressionen führen. Seine pharmakokinetischen Eigenschaften lassen keine besonderen Vorteile bei älteren Patienten erkennen (12). In der Leber wird Tiagabin fast vollständig durch CYP3A metabolisiert; die Ausscheidung erfolgt über Nieren und Darm. Mit zunehmendem Alter nimmt die Fähigkeit zum Abbau von Tiagabin ab. Ursächlich ist die Abnahme des Lebervolumens und auch des Blutflusses durch die Leber um bis zu 30 Prozent. Bei schweren Leberfunktionsstörungen ist der Arzneistoff kontraindiziert.
Kombinationen möglich
Auch eine Kombinationstherapie ist bei älteren Menschen möglich. »Zwar erhöht eine Therapie mit zwei Antiepileptika das Interaktionspotenzial. Aber sie wird häufig besser vertragen als das Hochdosieren einer einzelnen Substanz«, sagt Elger. Da Levetiracetam und Gabapentin nicht an pharmakokinetischen Interaktionen beteiligt sind, eignen sie sich zur Kombination (13). Bei der Wahl der »richtigen« Therapie ist auch die geistige Verfassung des Patienten zu berücksichtigen. So muss bedacht werden, ob er in der Lage ist, mehrere Tabletten zu richtigen Zeitpunkten einzunehmen.
Bei einem Wechsel des Präparats muss man bei Epilepsie-Patienten besonders vorsichtig vorgehen. Bei der Aut-idem-Substitution kann und sollte der Apotheker pharmazeutische Bedenken geltend machen (14). Denn jeder Wechsel kann dazu führen, dass wieder epileptische Anfälle auftreten. »Diese Beobachtungen haben dazu geführt, dass in Frankreich der Zwang zum Einsatz von Generika aufgehoben wurde«, erklärt Elger. »Es stellte sich heraus, dass ein wiederholter Wechsel die Anzahl der Anfälle erhöhte, sodass es letztlich kostengünstiger war, beim Originalpräparat zu bleiben.«
Besonders im Alter ist es nicht immer leicht, die optimale Dosis zu finden. Man muss die Balance finden zwischen unerwünschten und erwünschten Arzneimittelwirkungen. Häufige Nebenwirkungen sind Müdigkeit, Somnolenz, Kraftlosigkeit, verlangsamte Reaktion und Gedächtnisstörungen. Aber auch psychische Veränderungen wie Depression oder Aggression kommen vor.
Immer sollte gelten: »slow and low«. Ein Patient ab 60 muss möglichst niedrig ein- und langsam aufdosiert werden. Die Zieldosen liegen etwa ein Drittel unter dem, was ein 20- bis unter 60-Jähriger bekommt.
Langzeitmedikation genau abwägen
Die Langzeitmedikation birgt Gefahren. Gerade bei älteren Patienten ist es oft schwierig zu entscheiden, ob eine Veränderung Symptom einer Erkrankung oder Nebenwirkung eines Medikaments ist. »Bei einer Überdosierung von Antiepileptika wird der Gang unsicher und der Patient läuft Gefahr, zu stürzen und sich Knochen zu brechen«, so Elger. Eine Gangunsicherheit kann aber auch auf zahlreiche andere Erkrankungen hinweisen, etwa Arthrose, Durchblutungsstörungen oder neurologische Erkrankungen.
Anfallskalender führen
auslösende Faktoren vermeiden, beispielsweise Unterzuckerung, Alkohol, Schlafmangel oder Stress
Antiepileptika nicht eigenmächtig umstellen
Notfallausweis mit Erste-Hilfe- Maßnahmen bei sich tragen
»Die durch Antiepileptika bedingten kognitiven Störungen des Gedächtnisses oder der Konzentration sind reversibel«, erklärt der Arzt. Allerdings kann eine Langzeittherapie auch zu irreversiblen Nebenwirkungen führen. So zeigte eine Studie, dass das Arterioskleroserisiko unter einer antiepileptischen Langzeittherapie signifikant ansteigt (7). Dazu wurden 160 Epilepsie-Patienten, die mindestens zwei Jahre lang eine Monotherapie mit Carbamazepin, Phenytoin, Valproinsäure oder Lamotrigin erhalten hatten, vier Jahre lang regelmäßig untersucht. Dabei kam es zu einer signifikanten Vergrößerung der inneren Gefäßwandschicht im Vergleich zur Kontrollgruppe, wobei die Verdickung mit der Therapiedauer korrelierte. Marker für ein gesteigertes Arterioskleroserisiko wie das LDL-Cholesterol waren in der Gruppe der therapierten Patienten deutlich höher als in der Kontrollgruppe.
»Viele Antiepileptika beeinflussen den Cholesterolspiegel, sodass das Arterioskleroserisiko zunimmt«, erklärt auch Elger. Dies sei aber wahrscheinlich nicht die einzige Ursache. Viele Epilepsiepatienten sind wenig mobil. Aus Angst, außerhalb der geschützten Wohnräume einen epileptischen Anfall zu bekommen, ziehen sie sich zurück, gehen wenig nach draußen und treiben nur selten Sport. Gerade dazu sollten Ärzte und Apotheker den Patienten ermutigen. »Der Patient sollte möglichst viel Sport treiben, außer Schwimmen ist alles erlaubt.«
Die antiepileptische Therapie erfordert eine gute Compliance vom Patienten.
Foto: TK
Sport stärkt Muskulatur und Knochen. Das ist wichtig, denn viele Antiepileptika erhöhen auch das Osteoporose-Risiko (8). Der Mechanismus, wie Antiepileptika den Knochen-Metabolismus beeinflussen, ist nicht bekannt (15). Einige Autoren empfehlen bei bekanntem Osteoporose-Risiko die prophylaktische Gabe von Vitamin D (11).
Im Alter noch operieren?
Ist eine Epilepsie medikamentös nicht beherrschbar, kann eine operative Therapie erwogen werden. Die fokalen temporalen Epilepsien eignen sich gut für eine chirurgische Behandlung und kommen im Alter besonders häufig vor. »Wir operieren auch ältere Patienten«, erklärte Elger. Es gebe keine definierte Altersgrenze. Man müsse sich immer nach dem biologischen Alter des Patienten richten. Elgers ältester Patient war 73 Jahre alt. Er habe die Operation gut überstanden und sei erfolgreich behandelt worden.
Es ist dringend erforderlich, dass ein Patient mit neu aufgetretener Epilepsie bald- und bestmöglich behandelt wird. »Dies gelingt nur in einem Epilepsiezentrum«, so Elger. »Problematisch ist, dass zum Teil erhebliche Wartezeiten bestehen. Bei optimaler Therapie gehen wir davon aus, dass die Chance auf Anfallsfreiheit beim älteren Menschen bei etwa 50 Prozent liegt.« Dies setzt voraus, dass der Patient die Medikamente verträgt. In einer Studie brachen mehr als die Hälfte der Patienten über 65 Jahre die Therapie wegen Nebenwirkungen wie Schwindel, Gangunsicherheit und Müdigkeit ab, während es nur ein Drittel der jungen Erwachsenen war (9). Gute Beratung in der Apotheke trägt dazu bei, dass Epilepsie-Patienten die bestmögliche Behandlung bekommen und auch konsequent durchhalten. /
Danksagung: Professor Dr. Christian Elger, Leiter des Epilepsiezentrums der Universitätsklinik Bonn, danke ich für seine wertvolle Unterstützung.
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Claudia Borchard-Tuchstudierte Medizin an der Universität Düsseldorf, erhielt 1982 die Approbation und schloss ein Jahr später ihre Promotion ab. Nach einer Tätigkeit als Assistenzärztin studierte sie Informatik an der Fernuniversität Hagen und schloss mit dem Diplom ab. Seit 1983 ist Borchard-Tuch freiberuflich als Autorin und Wissenschaftsjournalistin für medizinische Fachzeitschriften tätig.
Dr. med. Claudia Borchard-Tuch, Forsthofweg 9, 86441 Zusmarshausen, E-Mail: claudia.borchardtuch(at)googlemail.com