Pharmakotherapie individuell auswählen |
05.09.2018 10:24 Uhr |
Von Andreas Schulze-Bonhage / Epilepsien manifestieren sich in jedem Lebensalter, am häufigsten jedoch bei Menschen ab dem 65. Lebensjahr. Solche im Alter neu auftretenden Anfälle verlaufen oft atypisch und werden häufig verkannt. Bei richtiger Diagnosestellung und individualisierter Arzneimittelauswahl werden viele ältere Epilepsie-Patienten anfallsfrei.
Aufgrund der demografischen Entwicklung bilden ältere Menschen mittlerweile die größte Gruppe von Epilepsie-Patienten. Es handelt sich um neu erkrankte Menschen mit sich erstmals im Alter manifestierenden epileptischen Anfällen sowie um älter gewordene Patienten mit teils lange bestehenden Epilepsien.
Ein kurzer verträumter Blick oder geistige Abwesenheit? Das kann bei älteren Menschen auch ein epileptischer Anfall sein.
Foto: Fotolia/zinkevych
Diese Gruppen sind sowohl ätiologisch wie auch hinsichtlich der Prognose und Auswahl geeigneter Medikamente zu unterscheiden. Während alt gewordene Patienten oft weiterhin komplexe Behandlungsschemata haben, die hinsichtlich altersspezifischer Neigungen zu Nebenwirkungen angepasst werden müssen, bieten im Alter neu erkrankte Patienten eher differenzialdiagnostische Probleme. Im Artikel werden pharmakokinetische und -dynamische Besonderheiten des Alters und ihre Auswirkungen auf eine effektive und gut verträgliche Behandlung dargestellt.
Epidemiologie und Ätiologie
Epilepsien als chronische Erkrankungen erstrecken sich bei unzureichender Anfallskontrolle oft bis ins hohe Lebensalter. Diese »alt gewordenen« Patienten unterscheiden sich ätiologisch nicht von anderen erwachsenen Epilepsie-Patienten. Eine Reihe von Untersuchungen berichtet von einem nachlassenden Schweregrad primär generalisierter Epilepsien mit selteneren oder leichteren Anfällen und einem verminderten Bedarf an Antiepileptika-Dosierungen. Naturgemäß sind die Daten bei solchen Langzeitbeobachtungen weniger belastbar als bei der Untersuchung von Kurzzeitverläufen. Für fokale Epilepsien gibt es weniger Informationen über Langzeitverläufe; möglicherweise lässt die Anfallsschwere auch hier eher nach.
Patienten ab 65 Jahren haben in Europa die Kindheit als Hauptmanifestationsalter von Epilepsien abgelöst. Die Inzidenz steigt gemäß mehrerer epidemiologischer Studien auf 150 bis 200/100 000 Einwohner mit einer Prädominanz von Männern. Dies führt zu einem Gipfel auch der Prävalenz mit etwa 0,8 Prozent für Männer im Vergleich zu 0,6 Prozent für Frauen im Altersbereich um 80 Jahre.
Strukturelle Hirnschäden als Ursache
Die meisten der im höheren Lebensalter erstmals auftretenden Anfälle sind die Folge fokaler (herdförmiger) Hirnschädigungen. Neumanifestationen primär generalisierter Epilepsien sind hingegen bei älteren Patienten außerordentlich selten und sollten nur mit großer Vorsicht diagnostiziert werden.
Die mit Abstand häufigsten Ursachen sind zerebrovaskuläre Erkrankungen, etwa bei Patienten mit arterieller Hypertonie und Mikroangiopathie oder bei Patienten mit manifesten Schlaganfallepisoden. Prospektive Untersuchungen zeigten, dass 9 bis 13 Prozent der Patienten nach einem Schlaganfall epileptische Anfälle erleiden.
Zweithäufigste Ursache von Epilepsien mit später Erstmanifestation sind neurodegenerative Erkrankungen, insbesondere die Alzheimer-Demenz, gefolgt von Schädel-Hirn-Traumata und Hirntumoren. Demgegenüber treten andere Ätiologien wie Hirnanlagestörungen oder Infektionen quantitativ zurück.
Bereits bei Diagnosestellung einer Alzheimer-Demenz haben 7 Prozent der Patienten unter epileptischen Anfällen gelitten, in etwa der Hälfte der Fälle als Folge der Neurodegeneration. Patienten mit frühem Alzheimer-Beginn haben ein besonders hohes Risiko dafür; im Verlauf der Erkrankung steigt das Vorkommen unprovozierter epileptischer Anfälle zunehmend an auf bis zu 22 Prozent. Wahrscheinlich werden jedoch subtile Anfallsformen oft nicht als epileptisch erkannt. Das Auftreten epileptischer Anfälle wie auch die Einnahme mancher Antiepileptika können die kognitive Verschlechterung zusätzlich negativ beeinflussen. Eine zusätzliche Behandlung mit kognitiv gut verträglichen Antiepileptika ist somit von hoher Bedeutung.
Herausforderung Differenzialdiagnose
Altersepilepsien sind deutlich schwieriger zu diagnostizieren als andere Formen der Epilepsie. Die Erscheinungsform der Anfälle ändert sich im Alter: Die Patienten zeigen weniger charakteristische motorische Symptome wie Kloni oder Tonisierungen. Zudem können die Anfälle kürzer und oligosymptomatisch auffallen, etwa nur durch Phasen einer fehlenden oder verlangsamten Reagibilität (Kasten). Ein Übergang in bilateral tonisch-klonische Anfälle, die als sicherer Hinweis für eine Epilepsie dienen könnten, wird seltener.
Bei Menschen im höheren Lebensalter können sich epileptische Anfälle anders äußern, zum Beispiel als
Komplex-partielle Anfälle überwiegen. Diese können in vielen Fällen recht unspezifisch sein und nur als Gedächtnislücken, veränderter mentaler Zustand, Verwirrtheitsepisoden oder als Durchschlafstörungen erscheinen und werden daher leicht verkannt. Hinzu kommen oft längere Beeinträchtigungen nach einem Anfall (postiktal), die oft einer demenziellen Entwicklung mit wechselnder Ausprägung der Symptome ähneln. Stürze, an deren Umstände sich die Senioren oft nicht erinnern können, werden bei ihnen seltener als Indiz für epileptische Anfälle angesehen, sondern eher auf eine Gangunsicherheit, posturale Instabilität oder Durchblutungsstörungen zurückgeführt.
Änderungen der oft komplexen Medikation können anfallsprovozierend wirken. Insbesondere Benzodiazepin-Entzüge können zu non-konvulsiven Status epileptici führen. Aber auch zusätzlich gegebene Medikamente können anfallsprovozierend wirken. Hierzu zählen trizyklische Antidepressiva, Antipsychotika, insbesondere Chorpromazin und Clozapin, manche Antibiotika (Penicillin, Cephalosporine, Ciprofloxacin, Carbapeneme), Theophyllin in höheren Dosierungen und manche Immunsuppressiva. Auch spontane oder Therapie-assoziierte Hypoglykämien können direkt oder indirekt durch eine Anfallsprovokation zu Verwirrtheitszuständen und Myoklonien führen, die leicht fehlzudeuten sind.
Schlaf-EEG mit Nachweis einer Verlangsamung und epileptischer Spikes im linken Schläfenlappen
Foto: Schulze-Bonhage
Nicht nur die Erscheinungsform der Anfälle ist im Alter weniger klar. Auch die Sensitivität von EEG-Untersuchungen (Elektroenzephalogramm) zum Nachweis interiktaler Spikes ist im Alter vermindert. Unspezifische Veränderungen im EEG sind dagegen häufig und differenzialdiagnostisch schwer verwertbar. So können Langzeit-Video-EEG-Registrierungen erforderlich sein, um eine Epilepsie nachweisen und geeignete therapeutische Weichenstellungen treffen zu können. Eine solch forcierte Diagnosestellung lohnt sich, da Epilepsien mit Erstmanifestation im höheren Lebensalter oft gut auf geeignet ausgewählte Antiepileptika ansprechen.
Wann beginnt die Therapie?
Gemäß der S1-Leitlinie der Deutschen Gesellschaft für Neurologie (DGN) zu Epilepsien im Erwachsenenalter (Stand 2017) gilt im höheren Lebensalter wie bei jungen Patienten: Nach einem ersten Anfall kann, nach mehreren Anfällen sollte behandelt werden, da – sofern keine sicheren Provokationsfaktoren erkennbar sind – von einer chronischen Anfallsdisposition ausgegangen werden muss. Jeder Anfall kann sozial diskriminierend oder gefährlich sein, zum Beispiel durch erhöhte Sturzgefahr.
Oft unterschätzt wird auch das Risiko anfallsassoziierter Todesfälle (SUDEP, Sudden Unexpected Death in Epilepsy). Die Patienten sollten darüber – auch zur Verbesserung der Adhärenz – frühzeitig aufgeklärt werden. Eine gute Anfallskontrolle, insbesondere von tonisch-klonischen Anfällen, kann das Risiko vermindern. Eine Vermeidung provozierender Faktoren wie nächtlicher Hypoglykämien oder Hypoxien sowie anderer Schlafstörungen wirkt sich zusätzlich positiv aus.
Zur Dauerprophylaxe von Anfällen sind in Deutschland etwa 20 Antiepileptika zugelassen. Sie werden eingesetzt als Monotherapie (Standard) oder in rationalen Kombinationen. Unabhängig vom Alter gilt: Erstes Ziel ist die Anfallskontrolle. Eine gute Verträglichkeit hat jedoch im Alter eine besonders hohe Bedeutung.
Bei älteren Patienten besonders zu beachten
Mit zunehmendem Alter steigt die Wahrscheinlichkeit für Komorbiditäten. Oft resultiert eine Polypharmakotherapie mit einem Potenzial für Arzneimittelinteraktionen. Dies beeinflusst die Auswahl und Dosierung geeigneter Antiepileptika, sowohl unter pharmakokinetischen als auch unter pharmakodynamischen Aspekten (Tabelle 1).
Parameter | Veränderung |
---|---|
Bioverfügbarkeit | verminderte intestinale Resorptionsfläche vermehrte Fluktuationen von Magenentleerung und Magen-pH |
Verteilung | vermindertes Flüssigkeitskompartiment vermindertes Fettgewebskompartiment vermindertes Serumalbumin mit konsekutiv reduzierter Proteinbindung |
Metabolismus | verminderte Leberperfusion und -funktion |
Exkretion | verminderte Nierenperfusion und glomeruläre Filtrationsrate |
Die wichtigsten physiologischen Veränderungen im Alter sind die verminderte Leber- und Nierenfunktion. Daher werden viele Medikamente im höheren Lebensalter niedriger dosiert als bei Jüngeren. Bei Patienten über 70 Jahren wird die Hälfte der Dosierung als initiale Zieldosis empfohlen, und die Aufdosierung sollte ebenfalls nur halb so schnell erfolgen Bei Nierenschäden sind Substanzen zu bevorzugen, die kaum oder nicht renal eliminiert werden.
Multimedikation ist bei älteren Menschen eher die Regel als die Ausnahme. Das Antiepileptikum muss hierzu passen.
Foto: Fotolia/Robert Kneschke
Zahlreiche vor allem ältere Antiepileptika (Carbamazepin, Phenytoin, Phenobarbital und Primidon) sind starke Enzyminduktoren, die den Abbau koapplizierter Medikamente beschleunigen können. Beispiele solcher Wirkminderungen sind ein beschleunigter hepatischer Abbau von Antiarrhythmika, trizyklischen Antidepressiva, Antipsychotika, Antibiotika und Chemotherapeutika. Milde Enzyminduktoren wie Oxcarbazepin, Eslicarbazepin oder Topiramat zeigen in der Praxis hingegen meist keine relevanten Auswirkungen auf Komedikationen. Lamotrigin wird selbst hepatisch metabolisiert; dies kann zu passiven Interaktionen führen, die jedoch durch Dosisanpassung in der Regel problemlos ausgleichbar sind.
Mit Gabapentin, Pregabalin, Levetiracetam und Lacosamid stehen Antiepileptika zur Verfügung, die fast keine relevanten Interaktionen zeigen (Tabelle 2). Dies kann insbesondere bei polymorbiden Patienten ein wichtiges Argument für deren Auswahl darstellen.
Pharmakodynamisch wird der therapeutische Bereich, in dem Medikamente gut vertragen werden, im Alter kleiner. Ältere Patienten sind besonders empfindlich gegenüber ZNS-Intoxikationserscheinungen wie Schwindel, Gangunsicherheit und Verschwommensehen, nicht nur bei Einnahme von Natriumkanalblockern wie Phenytoin, Carbamazepin, Oxcarbazepin, Lamotrigin und Lacosamid.
Wirkstoff | Besondere positive Eigenschaften | Probleme |
---|---|---|
Natriumkanal-Blocker | ||
Phenytoin | - | non-lineare Pharmakokinetik mit fluktuierenden Serumkonzentrationen; verminderte Albuminbindung; starke Enzyminduktion mit Gefahr von Interaktionen; Osteoporose; NW: Polyneuropathie, zerebelläre Ataxie |
Carbamazepin | - | Enzyminduktion; NW: Osteoporose, Müdigkeit, Hyponatriämie |
Oxcarbazepin, Eslicarbazepin | gute Verträglichkeit | NW: Hyponatriämie; cave: Komedikation mit Diuretika |
Lamotrigin | sehr gute Verträglichkeit | NW: Schlafstörungen und Tremor bei hoher Dosierung |
Lacosamid | keine WW | NW in höheren Dosierungen: Tremor, Ataxie |
Präsynaptische Modulatoren | ||
Gabapentin | sehr gute Verträglichkeit, keine WW | dreimal tägliche Einnahme |
Pregabalin | keine WW, Verbesserung der Schlafqualität | |
Levetiracetam | gute Verträglichkeit, keine WW | dosisabhängige NW: Müdigkeit, Depression, Reizbarkeit |
Brivaracetam | gute Verträglichkeit | |
GABA-erge Substanzen | ||
Benzodiazepine | Abhängigkeit, Entzugsanfälle/-status | |
Phenobarbital | starke Enzyminduktion mit Gefahr von WW, NW: kognitive Beeinträchtigung | |
Valproat | hoch wirksam gegen bilateral tonisch-klonische Anfälle | verminderte Albuminbindung WW-Gefahr (Enzyminhibitor); NW: Tremor, Enzephalopathie |
Vigabatrin | gute Verträglichkeit, keine WW | (off label) |
Antiglutamaterge Substanzen | ||
Perampanel | Einmaleinnahme zur Nacht | NW: nächtliche Ataxie bei Patienten mit Nykturie |
Sonstige | ||
Zonisamid | wenig WW | NW: Appetitminderung, kognitive Beeinträchtigung |
Topiramat | erhebliches Risiko kognitiver und sprachlicher Störungen |
Wie wichtig die Auswahl gut verträglicher Antiepileptika ist, spiegelt sich in der Praxis in signifikant besserer Beibehaltung einer Monotherapie mit Lamotrigin und Gabapentin gegenüber Carbamazepin wider. Dagegen wurden Unterschiede im Erwachsenenalter lediglich in aufwendigen Langzeitbetrachtungen wie der SANAD-Studie deutlich. Lamotrigin hat nur ein geringes Risiko psychischer Nebenwirkungen wie Müdigkeit, kognitive Beeinträchtigung oder depressive Verstimmung.
Eine einschleichende Eindosierung und die Wahl einer niedrigen Zieldosis kann gerade bei Patienten mit sich neu manifestierenden Epilepsien zu gut tolerierter und doch hinreichend wirksamer Behandlung führen. So stellt das im Erwachsenenalter selten hinreichend wirksame Gabapentin bei älteren und alten Patienten eine interessante Behandlungsoption dar, zumal es kaum Interaktionen zeigt.
Komorbiditäten berücksichtigen
Komorbiditäten und Komedikationen müssen bei der Medikamentenauswahl berücksichtigt werden. So ist es wichtig, Antiepileptika mit Nebenwirkungen zu vermeiden, die sich auf Komorbiditäten negativ auswirken können (Tabelle 2). Dies gilt beispielsweise für Valproat oder Pregabalin bei Patienten mit Typ-2-Diabetes, da diese Antiepileptika eine Gewichtszunahme bedingen können, oder für Levetiracetam oder Phenobarbital, die Depressionen, Unruhezustände und Reizbarkeit verstärken können. In manchen Konstellationen können Antiepileptika ein erhöhtes Risiko von Nebenwirkungen bergen: etwa Zonisamid oder Topiramat bei Patienten, die Schwierigkeiten haben, eine ausreichende Flüssigkeitsmenge aufzunehmen.
Reichlich trinken – das kann Nebenwirkungen verhindern.
Foto: Informationszentrale Deutsches Mineralwasser/IDM
Bei Patienten mit Zeichen einer beginnenden oder manifesten Demenz können kognitiv beeinträchtigende Antiepileptika wie Topiramat dazu beitragen, das Krankheitsbild zu akzentuieren.
Schließlich gibt es eine Vielzahl von Medikamenteninteraktionen, die sich bei polymorbiden Patienten und ihren komplexen Behandlungsschemata manifestieren können. Ein häufiges Beispiel ist das durch Carbamazepin und noch verstärkt durch Oxcarbazepin ausgelöste Syndrom der inadäquaten ADH-Sekretion (SIADH), das oft zu niedrig normalen oder grenzwertigen Natriumkonzentrationen führt. Erhält ein Patient aufgrund einer arteriellen Hypertonie zusätzlich ein Natriuretikum, kann es zu kritischen Hyponatriämien mit zentralnervösen und kardialen Auswirkungen kommen.
Therapie wechseln?
Ist der Patient gut auf ein Präparat eingestellt und verträgt dieses, sollte er nicht auf ein Generikum umgestellt werden. Konstanz in der Behandlung geht vor! Schwankende Wirkspiegel bei engem therapeutischen Fenster können den Behandlungserfolg zunichtemachen, und gerade ältere Patienten sind gegenüber Schwankungen der Serumkonzentrationen besonders empfindlich. Apotheker können gegen die Aut-idem-Substitution pharmazeutische Bedenken geltend machen.
Viele Patienten, die mit der Epilepsie alt geworden sind, nehmen ältere Wirkstoffe wie Phenytoin oder Phenobarbital ein und vertragen diese akzeptabel. Ein Umsetzen auf theoretisch besser verträgliche Substanzen geht oft mit einem Risiko von Anfallsrezidiven einher und ist nur bei einer Unverträglichkeit oder bei Erfordernissen der Komedikation zu empfehlen.
Ob bei gutem Ansprechen nach zwei bis drei Jahren ein Auslassversuch möglich ist, hängt von der Ätiologie und vom bisherigen Verlauf ab. In jedem Fall gilt: nie abrupt absetzen. Als Daumenregel kann gelten, pro Medikament eine Abdosierung über einen Zeitraum von circa einem halben Jahr vorzunehmen, um das Risiko von Anfallsrezidiven gering zu halten. Ob ein Absetzversuch bei Senioren, die die Medikation gut vertragen, sinnvoll ist, ist im Einzelfall genau zu prüfen.
Nicht-medikamentöse Therapieoptionen
Bei schweren pharmakoresistenten fokalen Epilepsien ist die Operation weiterhin eine hoch effektive Behandlungsmöglichkeit, die die Lebensqualität erheblich verbessern kann. Zudem trägt sie dazu bei, medikamentöse Wechselwirkungen und Intoxikationszeichen zu vermeiden. Voraussetzung ist eine prächirurgische Lokalisation des epileptogenen Areals an einem hierfür spezialisierten Epilepsiezentrum.
Bei sorgfältiger Auswahl des Antiepileptikums haben ältere Epilepsie-Patienten eine gute Prognose.
Foto: Fotolia/Alexander Raths
Auch die Vagusnerv-Stimulation ist eine im Alter interessante neuromodulatorische Behandlung. Dabei wird die antikonvulsive Wirkung noradrenerger und serotoninerger Hirnstammprojektionen genutzt. In der Wirksamkeit ist sie vergleichbar mit der Eindosierung eines zusätzlichen Medikaments. Aber sie kann Vorteile haben durch eine die Vigilanz eher steigernde und antidepressive Wirkung, fehlende kognitive Nebenwirkungen sowie durch das Fehlen von Interaktionen mit Medikamenten. Vorteilhaft kann die automatische Reizung des Vagusnervs bei Patienten mit Complianceproblemen sein, denn sie müssen nicht selbst zur Wirkung beitragen. Kontraindikation für die Stimulation des Vagusnerven ist ein Schlaf-Apnoe-Syndrom, das verschlechtert werden kann.
Zusammenfassung
Epilepsien im Alter können den behandelnden Arzt vor therapeutische Probleme stellen, wenn es sich um schwer verlaufende, lange bestehende Epilepsien handelt. Im Gegensatz dazu ist bei der Neumanifestation von Epilepsien bei älteren Patienten die diagnostische Einordnung das vorrangige Problem. Uncharakteristische Anfallsformen können zu Fehleinschätzungen und einer Verkennung der Erkrankung führen. Hier kann eine aufwendige Diagnostik mit Video-EEG-Registrierung erforderlich werden. In der Realität haben ältere Patienten hierzu jedoch weniger Zugang als jüngere, selbstständige und mobile Patienten.
Es ist bei Älteren mit neu auftretenden epileptischen Anfällen in der Regel leicht, eine effektive Therapie zu finden und eine vollständige Anfallskontrolle auch in Monotherapie zu erzielen. Gute pharmakokinetische und pharmakodynamische Kenntnisse sind jedoch erforderlich, wenn Komorbiditäten und Komedikationen vorliegen. Dann muss die Medikation gut auf den individuellen Patienten abgestimmt werden, um eine gute Verträglichkeit und Sicherheit der Behandlung zu erzielen. Eine multidisziplinäre Zusammenarbeit – auch von Arzt und Apotheker – wäre bei der Wahl geeigneter Pharmakotherapien wünschenswert. Nicht-medikamentöse Behandlungsformen werden bei älteren Patienten zu selten eingesetzt, obwohl sie hochwirksam und oft deutlich besser verträglich sind als Polypharmakotherapien. /
Andreas Schulze-Bonhage studierte Medizin in Münster. Nach der Promotion in Neuroanatomie arbeitete er zunächst in der experimentellen Epilepsieforschung, bevor er seine Ausbildung zum Neurologen in Kassel und Hannover abschloss. Nach Spezialisierung in der Klinik für Epileptologie in Bonn sowie durch Gastaufenthalte am Montreal Neurological Institute und in der Cleveland Foundation gründete er das Epilepsiezentrum am Universitätsklinikum Freiburg, das er als ärztlicher Direktor leitet. Das Zentrum bietet ambulante und stationäre Diagnostik und Therapie von Epilepsien an. Es ist Referenzzentrum für seltene und komplexe Epilepsien in Baden-Württemberg und Mitglied des Europäischen Referenznetzwerkes EpiCare.
Professor Dr. Andreas Schulze-Bonhage, Epilepsiezentrum, Breisacher Straße 64, 79106 Freiburg E-Mail: andreas.schulze-bonhage@uniklinik-freiburg.de