Wenn Medikamente wach halten |
03.09.2010 11:31 Uhr |
Von Karen Nieber / Schlafstörungen kennt (fast) jeder Mensch aus eigener Erfahrung. Häufige Ursachen sind Stress und psychische Belastungen. Doch auch Medikamente können den Schlaf-Wach-Rhythmus verändern. Wie greifen Arzneistoffe in die Schlafregulation ein, und was kann die Apotheke empfehlen?
In Deutschland leiden etwa 15 bis 35 Prozent der Erwachsenen dauerhaft unter Schlafstörungen, vor allem Frauen und ältere Personen. Nicht erholsamer Schlaf schränkt die Lebensqualität ein und vermindert die kognitive und emotionale Leistungsfähigkeit (1). Vor allem langfristige Schlafstörungen schädigen die Gesundheit (Tabelle). Die Ursachen sind vielfältig. Psychische Belastungen durch Stress, Ärger und Sorgen, physische Probleme wie Schmerzen, Lärm oder Atemstörungen und Störungen des physiologischen Tag-Nacht-Rhythmus durch Schichtarbeit rauben den Schlaf. Auch Alkohol oder Coffein können bekanntlich die Nachtruhe stören.
Dauer der Schlafstörung | Mögliche Gesundheitsprobleme |
---|---|
kurzzeitig | Müdigkeit Stimmungsschwankungen, Gereiztheit Störungen des Kurzzeitgedächtnisses Fähigkeit zur Selbstorganisation lässt nach Konzentrationsprobleme |
langzeitig | Übergewicht frühzeitige Alterung (Abnahme von Kreativität und Leistungsvermögen, Antriebslosigkeit) chronische Müdigkeit vermehrte Infektanfälligkeit Risiko für Herzerkrankungen steigt |
Eher selten werden medikamenteninduzierte Schlafstörungen erkannt, die leider nicht immer befriedigend vermeidbar sind. Tatsächlich kann eine Vielzahl von Stoffen als unerwünschte Wirkung den Schlaf stören. Das gilt besonders für Rauschdrogen wie Haschisch, Marihuana oder Cocain. Aber auch Medikamente können besonders bei Langzeiteinnahme zu Schlafstörungen führen. Dies wird leider allzu oft übersehen, sodass schlaflose Nächte zum Dauerzustand für den Patienten werden. Auf welche Weise Arzneistoffe die Nachtruhe beeinträchtigen, lässt sich leichter verstehen, wenn man die Physiologie und Regulation von Schlafen und Wachen kennt.
Physiologischer Rhythmus
Der Mensch verschläft ein Drittel seines Lebens, etwa 3000 von den 8760 Stunden eines Jahres, rund 24 Jahre im Durchschnitt eines menschlichen Daseins. Die natürliche Schlafdauer des Erwachsenen liegt zwischen fünf und zehn Stunden (2). Im Mittel liegt der Wert in Deutschland bei etwa sieben Stunden.
Trotz intensiver Forschungen gibt es bis heute keine allgemein anerkannte Definition des Phänomens »Schlaf«. Konsens besteht darin, dass der Schlaf Bestandteil des physiologischen Ruhe-Aktivitäts-Rhythmus ist, der sich in vielen Funktionen widerspiegelt. Deutlich ausgeprägt ist der 24-Stunden-Rhythmus der Körpertemperatur oder von Blutdruck und Herzfrequenz. Auch die Lungenfunktion unterliegt ausgeprägten tageszeitlichen Schwankungen, die nächtliche Asthmaanfälle begünstigt (3). Für das Hormonsystem gilt: Hormone der Hypothalamus-Hypophysen-Nebennierenrinden-Achse haben ein Minimum in der ersten Nachthälfte und steigen in den frühen Morgenstunden mit insgesamt höheren Werten am Tag (4).
Es gibt noch viele Wissenslücken zu den neuroanatomischen, physiologischen und biochemischen Hintergründen von Schlaf und Schlafstörungen. Dennoch liest man immer wieder Meldungen, dass endlich das Schlafzentrum oder der entscheidende Schlafstoff im Gehirn gefunden sei. Lange ist bekannt, dass Melatonin den Schlaf positiv beeinflussen kann. Ob das Neurohormon direkte hypnotische Wirkungen hat, ist umstritten. Aber man weiß, dass Arzneimittel, die in den Melatonin-Stoffwechsel eingreifen, den Schlaf erheblich verändern können. Seit zwei Jahren wird Melatonin daher auch als zugelassenes Schlafmittel eingesetzt.
Schlafregulation im Gehirn
An der Schlafeinleitung sind im Wesentlichen drei funktionelle Nervengruppen im Gehirn beteiligt. Zu diesen Nervenzellgruppen gehören die Pons, ein Gebiet im Hirnstamm, die Formatio reticularis und zwei Zwischenhirngebiete: der Thalamus und der Hypothalamus.
Die Pons ist Umschaltstation der Verbindungen zwischen Groß- und Kleinhirn. Dadurch ist dieses Kerngebiet an Prozessen der Aufmerksamkeit, aber auch der Regulation des Schlaf-Wach-Rhythmus beteiligt. In der Pons wird der Neurotransmitter Noradrenalin (NA) freigesetzt.
Die Formatio reticularis ist bekannt für ihre Funktion als Signalgeber für Wachheit und gehört zum sogenannten Aufsteigenden Reticulären Aktivierenden System (ARAS). Das ARAS spielt eine bedeutende Rolle für den Schlaf-Wach-Rhythmus und besteht aus Gruppen diffus verteilter Kerne, die ein neuronales Netzwerk bilden. Alle sensiblen Bahnen senden Kollateralen zu diesen Kernen. Die Aufmerksamkeits- oder Weckfunktion übt die Formatio reticularis durch Neurotransmitter wie Noradrenalin und Acetylcholin (ACh) aus, die den Thalamus erregen. Innerhalb der Formatio reticularis gibt es weitere komplexe Verschaltungen, zum Beispiel mit den Raphekernen. Diese hemmen mit ihrem Transmitter Serotonin (5-HT) die noradrenergen Systeme vor allem beim Einschlafen.
Die Einschlafbereitschaft wird durch das Neurohormon Melatonin erhöht. Melatonin ist ein Alkaloid mit Tryptamin-Struktur und Metabolit des Tryptophan-Stoffwechsels (Abbildung 1, oben). Es wird von den Pinealozyten der Zirbeldrüse, einem Teil des Zwischenhirns, aus Serotonin gebildet. Melatonin steuert den Tag-Nacht-Rhythmus des menschlichen Körpers. Es wird während der Dunkelheit freigesetzt; Tageslicht hemmt diesen Prozess. Die Konzentrationen steigen in der Nacht um das Zehnfache an, das Maximum wird gegen drei Uhr morgens erreicht. Jahreszeitlich ändert sich die Rhythmik. Im Winter gibt es aufgrund der längeren Dunkelperioden längere nächtliche Melatonin-Sekretionsphasen (5).
Abbildung 1: Zirkadianer Verlauf der Melatonin-Ausschüttung; indirekte Messung der Melatonin-Freisetzung über Erfassung der Ausscheidung des Metaboliten 6-Sulfatoxymelatonin im Urin
Melatonin wirkt über spezifische G-Protein-gekoppelte Rezeptoren: MT1 und MT2. Beide sind inhibitorische Rezeptoren. Die Aktivierung der MT2-Rezeptoren beeinflusst die Zeitgeberfunktion im Nucleus suprachiasmathicus (SNC) und führt zur Verminderung der Dopaminfreisetzung und zur Vasodilatation kardialer Gefäße (6).
In zahlreichen Studien fanden Forscher einen Zusammenhang zwischen erniedrigten Melatonin-Konzentrationen und Schlafstörungen. Mit zunehmendem Alter produziert der Körper weniger Melatonin, wahrscheinlich durch eine Verkalkung der Zirbeldrüse (Abbildung 1, unten). Dadurch nimmt die durchschnittliche Schlafdauer ab. Dies erklärt zum Teil die vermehrten Schlafprobleme bei Senioren (7,8). Auch die Zeitumstellung bei Schichtarbeit und bei Fernreisen (Jetlag) kann den Hormonhaushalt stören.
Unruhige Nacht durch Arzneimittel
Primäre Insomnien beruhen in der Regel auf erlernten falschen Schlafmustern. Anzeichen kann eine übertriebene Anstrengung beim Einschlafen sein. Auch wer in fremder Umgebung besser schläft, leidet möglicherweise an primärer Insomnie. Sekundäre Insomnien haben organische, neurologische oder psychologische Ursachen. Auch der Ge- und Missbrauch von Drogen oder Medikamenten sowie übermäßiger Kaffee- oder Alkoholkonsum können eine sekundäre Insomnie auslösen. Viele Medikamente können leichte bis schwere Schlafstörungen verursachen. Sie können den Einschlafprozess verzögern, die Schlafkontinuität stören oder den Nachtschlaf verkürzen. Die Störungen sind entweder eine direkte Folge der Hauptwirkung, zum Beispiel bei bestimmten Antidepressiva, bei Amphetaminen, die bis vor einigen Jahren als Appetitzügler verfügbar waren, und bei Methylphenidat, das erfolgreich zur Behandlung des Aufmerksamkeitsdefizit-Hyperaktivitäts-Syndroms (ADHS) eingesetzt wird. Auch bestimmte Antibiotika, zum Beispiel Chinolone, sowie Betablocker, Schilddrüsenhormone und orale Kontrazeptiva können die Nachtruhe beeinträchtigen. Indirekt stören wassertreibende Mittel den Schlaf, da sie einen nächtlichen Harndrang verursachen.
Schlafstörungen werden nach der International Classification of Sleep Disorders (ICSD-2) eingeteilt in:
Insomnie,
schlafbezogene Atmungsstörungen,
Hypersomnien zentralnervösen Ursprungs,
zirkadiane Schlafstörungen,
Parasomnien und
schlafbezogene Bewegungsstörungen.
Von einer Schlafstörung spricht man, wenn eine Person mindestens dreimal wöchentlich über einen Monat lang Probleme mit dem Ein- oder Durchschlafen hat. Einschlafstörungen liegen vor, wenn mehr als eine halbe Stunde bis zum Einschlafen vergeht. Von Durchschlafstörungen spricht man, wenn nach einem nächtlichen Aufwachen mehr als eine halbe Stunde vergeht, bis der Betroffene wieder einschlafen kann.
Zur Behandlung von Atemwegserkrankungen, zum Beispiel bei Asthma, chronischer Bronchitis und Lungenemphysem, bekommen viele Patienten Glucocorticoide oder Theophyllin. Diese können wie Stimulanzien wirken. Medikamente zur Behandlung von Arthritis enthalten Acetylsalicylsäure oder nicht-steroidale Antirheumatika, die Magenprobleme, nächtliche Bauchschmerzen und/oder Sodbrennen erzeugen können. Einige Antidepressiva können zur Insomnie führen, während andere Tagesschläfrigkeit verursachen.
Nachfolgend werden einige Arzneimittelgruppen vorgestellt, die direkt oder indirekt die schlafregulierenden Neurotransmitter oder die Wirkung von Hormonen beeinflussen und dadurch Schlafstörungen verursachen.
Antihypertensiva
In der Regel sind β-Rezeptorenblocker auch bei längerer Einnahme gut verträglich. Allerdings beschreiben Patienten häufig Albträume sowie Ein- und Durchschlafstörungen (9). Mehrere Ursachen werden dafür diskutiert.
Für die Induktion von Schafstörungen durch β-Rezeptorenblocker scheint die Blockade von β1-Rezeptoren an den Pinealozyten verantwortlich zu sein. Damit wird direkt die Bildung von Melatonin beeinflusst (Abbildung 2) (10). Untersuchungen an Ratten zeigten, dass die höchste Konzentration der mRNA für β1-Rezeptoren im Gehirn in der Zirbeldrüse zu finden ist (11). Sie unterliegt einem circadianen Rhythmus, mit einem Maximum in der Dunkelphase. Die adrenergen Nervenendigungen setzen während der Dunkelphase Noradrenalin frei, das über die Stimulation von β1-Rezeptoren die Aktivität des Enzyms Arylalkylamin-N-Acetyltransferase (S-NAT) und damit die Umwandlung von Serotonin zu N-Acetylserotonin steuert (12). Die Blockade dieser Rezeptoren vermindert die Bildung und Freisetzung des Enzyms und in der Folge des Hormons.
Liegt hier möglicherweise die Ursache der nächtlichen Unruhe?
Foto: AOK
Unselektive β-Rezeptorenblocker können den Schlaf zusätzlich durch vermehrte Träume stören. In einer retrospektiven Studie fand man bei Bluthochdruck-Patienten eine gute Korrelation zwischen der Besetzung der β2-Rezeptoren durch Atenolol, Metoprolol, Pindolol und Propranolol und der Zahl der Träume (9).
Ein ähnlicher Mechanismus wie für β-Rezeptorenblocker wird für α1-Blocker diskutiert, da neben der β-adrenergen Stimulation auch eine α1-Rezeptor-vermittelte Stimulation bekannt ist. Die Rezeptordichte an den Pinealozyten ist ähnlich hoch wie die der β1-Rezeptoren. Die Hemmung der α1-Rezeptoren vermindert die Aktivität des Enzyms Hydroxyindol-O-Methyltransferase (HIOMT), das die Umwandlung von N-Acetylserotonin in Melatonin katalysiert (Abbildung 2). Somit nimmt auch über diesen Mechanismus die Melatonin-Freisetzung ab (10).
Auch α2-Rezeptoren beeinflussen die Melatonin-Synthese. Diese finden sich als Autorezeptoren präsynaptisch an den Nervenendigungen in der Zirbeldrüse (Abbildung 3). Über α2-Rezeptoren wird eine Hemmung der Noradrenalin-Freisetzung vermittelt (13). Die α2-Rezeptoragonisten Clonidin und Moxonidin senken bereits in niedrigen Dosen Blutdruck, Herzfrequenz und Herzzeitvolumen. Aufgrund der hohen Lipophilie können sie sehr gut ins ZNS eindringen und die Noradrenalin-Freisetzung aus den Nervenendigungen in den Pinealozyten hemmen. Dadurch nimmt die Aktivierung der α- und β-Rezeptoren ab. Dieser Mechanismus konnte experimentell bestätigt werden, indem gezeigt wurde, dass Clonidin die Melatonin-Bildung hemmt (14).
Abbildung 2: Melatonin-Synthese und ihre Regulation durch α- und β-Rezeptoren; modifiziert nach (10); S-NAT: Arylalkylamin-N-Acetyltransferase, HIOMT: Hydroxyindol-O-Methyltransferase
Die Hemmung der Noradrenalin-Freisetzung hat selbst Auswirkungen auf das Schlafmuster. Noradrenalin vermittelt eine tonische Hemmung im REM-Schlaf, sodass es zu einer Hemmung der spinalen Motoneurone und damit zur Erschlaffung der quergestreiften Muskulatur kommt. Dieser Prozess wird durch zentral wirksame Antihypertensiva gestört (15).
Antidepressiva
Die Art zentralnervöser Störungen eines Antidepressivums hängt von der psychomotorischen Komponente des Wirkstoffs ab. Dämpfende Trizyklika wie Amitriptylin und Doxepin haben sedierende Nebenwirkungen, psychomotorisch aktivierende Antidepressiva wie Desipramin das Gegenteil. Sie rufen als Nebenwirkungen häufig Erregungszustände, Schlaflosigkeit und Verwirrtheit hervor (16). Die durch Antidepressiva vom Desipramin-Typ ausgelöste Schlaflosigkeit beruht auf einer Modifikation der Funktion der Neurotransmitter Noradrenalin, Dopamin und Serotonin.
Abbildung 3: Bildung, Freisetzung und Wiederaufnahme von Noradrenalin (NA) an den Nervenendigungen; die Besetzung präsynaptischer α2-Rezeptoren hemmt die Freisetzung von Noradrenalin.
Wie Desipramin die Melatonin-Produktion beeinflusst, hängt von der Dauer der Anwendung ab. Zu Beginn der Therapie scheint es dessen Sekretion durch Erhöhung der Neurotransmitterkonzentration im synaptischen Spalt (Wiederaufnahmehemmung) zu verstärken, während nach Langzeiteinnahme durch eine Downregulation von β-Rezeptoren entweder kein Effekt oder sogar eine Hemmung auftritt (17). Die Folge: Zu Beginn leiden die Patienten an vermehrter Müdigkeit, die mit längerer Therapiedauer in Schlaflosigkeit übergehen kann. Zusätzlich beeinflussen die antiadrenergen und anticholinergen Eigenschaften des trizyklischen Antidepressivums den Schlaf-Wach-Rhythmus.
Diese Komponente entfällt bei den selektiven Serotonin-Wiederaufnahmehemmern (SSRI). Trotzdem berichten bis zu 10 Prozent der Patienten über Schlafstörungen bis hin zur Schlaflosigkeit. Als Mechanismus wird auch hier eine Störung der Melatonin-Synthese durch die erhöhten Konzentrationen der Neurotransmitter im synaptischen Spalt diskutiert.
Auch der SSRI Fluvoxamin hat einen Einfluss, allerdings über die Pharmakokinetik. Melatonin wird durch CYP1A2 und zum geringen Teil durch CYP2C19 zu 6-Hydroxymelatonin und N-Acetylserotonin metabolisiert. Fluvoxamin hemmt beide Abbauwege. Dies scheint spezifisch für dieses Antidepressivum zu sein, denn Fluoxetin, Paroxetin und Citralopram beeinflussten in Studien die Enzymaktivität nicht (18).
Anticholinergika
Anticholinergika wie Tolterodin, Darifenacin oder Solifenacin werden als Standardtherapeutika bei überaktiver Blase und Harninkontinenz eingesetzt. Die lipophilen Substanzen passieren im Gegensatz zu den quartären Ammoniumverbindungen (Butylscopolamin, Ipratropiumbromid, Tiotropiumbromid) die Blut-Hirn-Schranke und können zentralnervöse Nebenwirkungen wie Schlaf- und Gedächtnisstörungen, Halluzinationen oder Verwirrtheit verursachen.
Man weiß heute, dass die cholinerge Versorgung des Cortex durch die Neurone in der basalen Vorderhirnregion für zahlreiche Effekte wie Schlaf, Bewegung, Aggression, Lernen, Gedächtnis und Motivation wichtig ist. Seit Langem wird auch die ACh-Hypothese des REM-Schlafs diskutiert (19): Tierexperimentelle Untersuchungen zeigten, dass Anticholinergika den REM-Schlaf vermindern, während cholinerge Agonisten diesen verlängern. Schlafstörungen durch Langzeiteinnahme von Anticholinergika könnten durch diese Mechanismen bedingt sein.
Dopamin verhindert Einschlafen
Eine Forschergruppe in den USA untersuchte den Einfluss des Neurotransmitters Dopamin auf kognitive Funktionen (20). Die Forscher hielten 15 gesunde Teilnehmer entweder die ganze Nacht wach oder erlaubten ihnen, in Ruhe zu schlafen. Am Morgen nach einer durchschlafenen oder durchwachten Nacht erhielten die Teilnehmer schwach radioaktives 11C-Racloprid injiziert. Die Substanz lagert sich an unbesetzten Dopaminrezeptoren an. Mittels Positronen-Emissions-Tomografie konnte man verfolgen, wo und in welchem Maß sich die Markersubstanz im Gehirn anreichert, und daraus auf die Dichte freier Rezeptoren schließen.
Die Teilnehmer mit Schlafmangel wiesen höhere Dopaminwerte in zwei Gehirnteilen auf: im Striatum, einem Teil des Großhirns, dem die Motivation zugeordnet wird, sowie im Thalamus, dem größten Teil des Zwischenhirns. Der Thalamus ist für die Aufmerksamkeit zuständig. Gleichzeitig entdeckten die Forscher, dass niedrige Dopaminwerte mit Ermattungsgefühlen zusammenhängen und die Fähigkeit beeinträchtigen, Informationen aufzunehmen und zu verarbeiten. Sie postulierten, dass der Körper mit der Dopaminausschüttung versucht, die Müdigkeit und Abgeschlagenheit zu kompensieren, was jedoch nur unvollständig gelang (20). Dopamin sollte die Person also wach halten.
Dopaminrezeptoren sind Zielstrukturen für zwei Gruppen von Medikamenten: Antiparkinsonmittel und Neuroleptika.
Antiparkinsonmittel wie Levodopa in Kombination mit peripheren Decarboxylasehemmern, COMT-Inhibitoren, Dopaminagonisten und MAO-B-Hemmstoffen sollen die Konzentration von Dopamin im Gehirn von Parkinson-Patienten erhöhen oder die Dopamin-D2-Rezeptoren direkt stimulieren. Dies hat auf das Schlafgeschehen die gleichen Auswirkungen wie in den Versuchen der amerikanischen Forscher. Somit wird erklärbar, dass nicht nur die Parkinson-Krankheit selbst, sondern auch die Medikamente den Schlaf stören können – allerdings in entgegengesetzter Richtung.
Es gilt als gesichert, dass Neuroleptika in die synaptische Erregungsübertragung im Gehirn eingreifen. Alle derzeitigen Neuroleptika hemmen die Übertragung von Dopamin, hauptsächlich durch Blockade der Dopamin-D2-Rezeptoren. Zusätzlich können Neuroleptika mit Rezeptoren für Serotonin, Acetylcholin, Histamin und Noradrenalin interagieren. Je geringer die neuroleptische Potenz ist, desto stärker ist die Sedierung. Deshalb werden niederpotente Neuroleptika, zum Beispiel Promethazin, auch als Schlafmittel eingesetzt (16). Auch dafür liefert die amerikanische Studie eine Erklärung. Durch Blockade der Dopamin-Rezeptoren kann der Neurotransmitter seine Funktion nicht mehr ausüben. Es tritt eine vergleichbare Situation wie bei Dopaminmangel auf, also Mattigkeit und Müdigkeit.
Was Frauen den Schlaf raubt
Job, Haushalt, Kinder: Der Alltag lässt jede vierte Frau in Deutschland nachts kaum zur Ruhe kommen. Zwar ist Stress ein bedeutender Auslöser, doch wesentlich verantwortlich ist der Hormonhaushalt.
Sexualhormone beeinflussen den Schlafrhythmus. Im monatlichen Zyklus, in Schwangerschaft und Stillzeit sowie vor, während und nach den Wechseljahren schwanken die Hormonspiegel so stark, dass auch die Schlafregulation leidet. Gemäß einer Studie der Rush University, Chicago, treten Schlafstörungen besonders vor und nach der Menstruation auf. Offenbar wirken nicht nur die typischen Beschwerden vor der Regel, wie Unterleibsschmerzen, schlechte Stimmung oder Wasser im Gewebe, auf den Schlaf. Es sind die Hormone selbst, die die Nachtruhe stören: Schlechten Schlaf registrierten die Forscher vor allem dann, wenn die Konzentration von follikelstimulierendem Hormon (FSH) besonders niedrig war (21).
Hormonelle Schwankungen im Zyklus, aber auch die Einnahme von Sexualhormonen oder Kontrazeptiva beeinflussen die Schlafregulation.
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Die Strategie, Progesteron zu erhöhen, erwies sich als wirksam. Frauen in den Wechseljahren, die abends 300 mg natürliches Progesteron einnahmen, schliefen deutlich besser, stellten Wissenschaftler des Max-Planck-Instituts in München fest. Die Wachzeiten im ersten Drittel des Nachtschlafs nahmen um etwa ein Drittel ab. Anders als herkömmliche Beruhigungs- und Schlafmittel verkürzt Progesteron den REM-Schlaf nicht (22).
Zahlreiche klinische Studien zeigen eine positive Wirkung von oralen Kontrazeptiva bei menopausalen Schlafstörungen. Andererseits leiden viele Frauen, die die »Antibabypille« nehmen, an Schlafstörungen, besonders zu Beginn der Einnahme. Hierzu gibt es nur wenige evidenzbasierte Studien. In einer sehr umfangreichen amerikanischen Studie wurde nachgewiesen, dass nach der Einnahme von unterschiedlich dosierten Kontrazeptiva die Non-REM-Schlafphase erhöht ist. Es bestand aber kein Unterschied zur Placebogruppe hinsichtlich REM-Schlaf, Schlafeffizienz und subjektiver Schlafqualität. Die Forscher fanden jedoch, dass sich die Körpertemperatur nach Einnahme der oralen Kontrazeptiva erhöht (23). Dies könnte zu den berichteten Schlafstörungen beitragen.
In der Apotheke wachsam sein
Viele Kunden klagen in der Apotheke über Probleme beim Ein- und Durchschlafen. In der Beratung sollte das Apothekenteam immer daran denken, dass zahlreiche Medikamente, über verschiedene Mechanismen, zu Schlafstörungen beitragen können.
Es ist wichtig zu erfragen, welche Medikamente der Patient zu welcher Tageszeit einnimmt. Besonders bedeutend ist der Zeitpunkt der erstmaligen Anwendung und ob sich die Schlafstörungen beispielsweise bei einer Dosiserhöhung verstärkt haben. Eine in der Folge veränderte Schlafqualität kann auf eine medikamenteninduzierte Schlafstörung hinweisen. Wer alle Arzneimittel mit Dosierung und Einnahmezeitpunkt in einer Liste zusammenfasst, erhält einen guten Überblick.
Manchmal reicht es schon aus, den Einnahmezeitpunkt zu verschieben, zum Beispiel bei Diuretika. Auch die Anticholinergika Tolterodin, Darifenacin und Solifenacin sollte der Patient morgens einnehmen. Leider fehlen solche Hinweise oft in den Fachinformationen. Arzneimittelkassetten helfen älteren Menschen, den Überblick zu behalten, wann sie welches Präparat schlucken sollen.
Mitunter ist ein Medikamentenwechsel notwendig. Dies könnte bei Antihypertensiva erfolgreich sein. Die Therapiemöglichkeiten wurden in den letzten Jahren erweitert, zum Beispiel durch AT1-Antagonisten und den Renininhibitor Aliskiren. Die deutschen und auch die europäischen Leitlinien empfehlen die primäre Kombinationstherapie mit initial niedriger Dosierung der Komponenten. Bei einer Monotherapie könnte schon die Umstellung auf einen selektiven β-Blocker nützlich sein.
Schwieriger ist ein Wechsel bei Antidepressiva. Hier gilt: Gut eingestellte Patienten sollten nicht wechseln. Bei einer Neueinstellung sollte der Arzt mit SSRI in niedriger Dosierung beginnen. Auch hier gibt es Alternativen. Bei leichten Befindlichkeits- und Unruhestörungen kann ein pflanzliches Präparat, zum Beispiel Johanniskraut, nützlich sein. In allen Fällen einer medikamenteninduzierten Schlafstörung ist eine gute Kommunikation zwischen Patient, Apotheker und Arzt wichtig, um einen Weg zu finden, die Lebensqualität des Patienten zu verbessern. /
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Danksagung: Die Autorin dankt Robert Müller und Kevin Schantz für die Anfertigung der Literaturrecherche während des Wahlpflichtfachs Pharmakologie.
Karen Nieber studierte Pharmazie an der Technischen Hochschule in Magdeburg. Nach dem Diplom arbeitete sie als wissenschaftliche Mitarbeiterin am Institut für Wirkstoffforschung der Akademie der Wissenschaften und am Forschungsinstitut für Lungenkrankheiten und Tuberkulose in Berlin (Ost). 1981 wurde sie promoviert und erhielt 1990 die Promotion B für das Fachgebiet »Experimentelle Biomedizin«. Von 1991 bis 1995 war sie am Pharmakologischen Institut der Universität Freiburg tätig. Sie habilitierte sich 1994 im Fach Pharmakologie und Toxikologie und folgte 1995 einem Ruf auf den Lehrstuhl Pharmakologie für Naturwissenschaftler am Institut für Pharmazie der Universität Leipzig. Von 2002 bis 2009 war Professor Nieber Geschäftsführende Direktorin des Instituts. Zu ihren Arbeitsgebieten zählen Untersuchungen zur protektiven Rolle von Purinen im ZNS und im Gastrointestinalsystem sowie die pharmakologische Testung neuer Wirkstoffe.
Professor Dr. Karen Nieber
Universität Leipzig
Institut für Pharmazie, Pharmakologie für Naturwissenschaftler
Talstraße 33
04103 Leipzig