Hilfe im Kampf gegen die Kilos |
14.05.2014 09:59 Uhr |
Von Annette Mende, Berlin / Kinder können grausam sein, und um auf dem Schulhof gehänselt zu werden, reicht es oft schon, die falschen Klamotten anzuhaben. Wer sich das vor Augen führt, kann ermessen, wie sehr adipöse Kinder und Jugendliche mit Ausgrenzung und Stigmatisierung zu kämpfen haben. Abzunehmen schaffen sie aber ohne Unterstützung so gut wie nie.
Adipöse Kinder und Jugendliche sind an ihren Speckrollen selbst schuld, denn sie bewegen sich zu wenig und essen falsch und zu viel . Dieses Vorurteil ist genauso gängig wie falsch, machte Professor Dr. Martin Wabitsch bei einem Workshop des Kompetenznetzes Adipositas in Berlin deutlich. »Kein Kind entscheidet sich freiwillig dafür, übergewichtig zu sein.« Im Gegenteil: Die Betroffenen leiden stark unter ihrem Äußeren und wollen wirklich abnehmen. »Doch trotz aller Anstrengungen steigt das Gewicht häufig kontinuierlich an«, berichtete der Leiter der Sektion Pädiatrische Endokrinologie der Universitätsklinik Ulm von seinen Erfahrungen aus der Praxis.
Diät und Sport, die allgemein als Garanten für eine erfolgreiche Gewichtsreduktion angesehen werden, sind bei extrem adipösen Kindern und Jugendlichen wenig erfolgreich. Wabitsch zitierte eine Metaanalyse, die 2008 im »Journal of Clinical Endocrinology & Metabolism« erschien (doi: 10.1210/jc.2006-2409). Demnach sind pharmakologische, diätetische und auf körperliche Bewegung zielende Interventionen zwar durchaus erfolgreich, die Auswirkungen auf den Body-Mass-Index (BMI) aber nur marginal. »Der Aufwand ist enorm, der Effekt leider gering«, fasste Wabitsch zusammen.
Zum Scheitern verurteilt
Etwa 200 000 14- bis 21-Jährige in Deutschland liegen über der 99,5. Gewichtsperzentile Gleichaltriger und gelten damit als extrem adipös (lesen Sie dazu auch Adipositas: Dicke Probleme). Ein Langzeiterfolg sei mit steigendem BMI und zunehmendem Alter wesentlich schwieriger erreichbar beziehungsweise gar nicht mehr möglich. Es gebe keine Hinweise auf eine deutliche langfristige Gewichtsreduktion bei Jugendlichen mit extremer Adipositas unter konventioneller Verhaltenstherapie. Das gelte auch für die in Deutschland besonders beliebte Betreuung in Rehakliniken. Die Erfolgsaussichten seien so schlecht, dass sich sogar die Frage stelle, ob es ethisch vertretbar sei, Betroffenen eine solche Therapie überhaupt anzubieten.
Doch warum scheitern adipöse Jugendliche so häufig, wenn sie versuchen abzunehmen? »Das Körpergewicht wird durch ein biologisches Kontrollsystem reguliert, dessen Schlüsselfaktor das Leptin aus dem Fettgewebe ist«, erklärte Wabitsch. Wenn man zunehme, gebe es Gegenregulationsmechanismen, wenn man abnehme ebenso. Änderungen des Körpergewichts seien nur durch substanzielle Umstellung der Lebensgewohnheiten möglich. »Und das liegt nicht allein in der Verantwortung der Betroffenen selbst, sondern hängt auch von ihren Familien und den allgemeinen Bedingungen ab, unter denen sie aufwachsen«, so Wabitsch.
In den vergangenen Jahren war immer wieder die Rede davon, dass die Prävalenz von Typ-2-Diabetes im Kindesalter als eine der Folgeerkrankungen von Adipositas stark gestiegen sei. Das trifft aber zumindest für Deutschland nur bedingt zu, wie Professor Dr. Wieland Kiess von der Uniklinik Leipzig beim Workshop des Kompetenznetzes Adipositas in Berlin sagte. In Asien, aber auch in den USA ist das Problem deutlich größer, so der Pädiater. Der Grund sind Ethnizitätsunterschiede: Junge Asiaten entwickeln bei Gewichtszunahme sehr schnell einen Typ-2-Diabetes, auch bei Afrikanern und Hispanics ist nur relativ wenig Übergewicht nötig, damit es zu einem Typ-2-Diabetes kommt. Bei jungen Kaukasiern steigt das Risiko für die Stoffwechselerkrankung dagegen erst, wenn sie sehr adipös sind. Daher ist in Deutschland nur etwa 1 Prozent der adipösen Kinder und Jugendlichen an Typ-2-Diabetes erkrankt. Im Erwachsenenalter sind diese Unterschiede zwischen den Ethnien nicht vorhanden.
Wie sehr sich extrem adipöse Jugendliche kasteien müssten, um den Kampf gegen ihre Kilos zu gewinnen, verdeutlichte er anhand eines Beispiels. Nach einem 2006 im Fachjournal »Pediatrics« von Y. Claire Wang und Kollegen vorgestellten Berechnungsmodell müssten Betroffene dazu täglich 1000 kcal einsparen (doi: 10.1542/peds.2006-0682). Das ist bei dem bekannten Überangebot an hochkalorischen Nahrungsmitteln in unserer Gesellschaft und angesichts der über Jahre praktizierten ungünstigen Ernährungs- beziehungsweise Lebensweise schlicht nicht machbar. »Was wir von diesen Patienten verlangen, kann man eigentlich niemandem zumuten«, resümierte Wabitsch.
Eine bessere Aussicht auf Erfolg als konventionelle Methoden zur Gewichtsreduktion hat laut Wabitsch die bariatrische Chirurgie. Diese komme auch in Deutschland mehr und mehr bei Jugendlichen zum Einsatz. Eine Auswertung des German Bariatric Surgery Registry, in dem 85 bis 90 Prozent der bariatrischen Eingriffe in Deutschland erfasst sind, ergab, dass in den letzten fünf Jahren mehr als 300 Patienten unter 21 Jahren in 68 verschiedenen Kliniken operiert wurden. 15 Prozent von ihnen waren jünger als 18 Jahre.
»Problematisch ist, dass nach einem Jahr nur noch 160 Patienten in dem Register zu finden waren. Diese Quote nahm weiter ab, je länger die Operation zurücklag«, so Wabitsch. Die Nachsorge, bei einem so weitreichenden Eingriff in jungen Jahren eigentlich essenziell, werde also sträflich vernachlässigt. Die Physiologie der Patienten verändert sich durch die Operation grundlegend und sie müssen hinterher Supplemente einnehmen, um Mangelzustände zu vermeiden. »Möglicherweise ist der Schaden, den wir durch fehlende Nachsorge anrichten, größer als der, der ohne Operation durch die Adipositas entstanden wäre«, warnte Wabitsch. So wie sie derzeit praktiziert werde, sei die bariatrische Operation daher für viele Betroffene keine Option.
Keine Entwarnung
Es sei Aufgabe der Gesellschaft, extrem adipöse Jugendliche mit ihrer selbst nicht zu verantwortenden Erkrankung anzunehmen, appellierte Wabitsch. Daneben sind angesichts der sehr begrenzten Therapiemöglichkeiten Aufklärung und bessere Ernährungs- und Bewegungsangebote wichtig, um Adipositas im Kindes- und Jugendalter vorzubeugen. Dass hier in vielen Industriestaaten in den letzten Jahren schon Erfolge erzielt werden konnten, zeigt eine Übersichtsarbeit, die Wabitsch und Kollegen kürzlich in »BioMed Central Medicine« veröffentlichten (doi: 10.1186/1741-7015-12-17). Demnach steigt die Zahl übergewichtiger Kinder, die seit den 1980er-Jahren massiv zunahm, seit dem Jahr 2000 nicht weiter an und ist sogar leicht rückläufig. Eine Entwarnung wäre angesichts dieser Trendwende allerdings verfrüht: Kinder sind heute immer noch rund dreimal so häufig übergewichtig wie vor 30 Jahren. Zudem zeigte sich die positive Entwicklung lediglich bei Kindern mit vergleichsweise geringem Übergewicht. Die extrem Adipösen in dieser Altersgruppe werden hingegen immer mehr. /