Tübinger Trumpfkarten |
06.05.2014 15:27 Uhr |
Von Sven Siebenand, Tübingen / Alle pharmazeutischen Disziplinen sind in Tübingen unter einem Dach vereint. Full House also. Das ist nicht nur beim Pokern eine gute und Erfolg versprechende Konstellation. Die PZ konnte bei einem Besuch im Pharmazeutischen Institut einen Blick in die Karten werfen und sich ein Bild davon machen, welche anderen Trümpfe man dort in den Händen hält.
Mit der Aufnahme von mindestens 140 Studenten pro Jahr gehört Tübingen zu den Hochschulstandorten mit den meisten Pharmaziestudenten in Deutschland. Momentan werden die rund 700 Studenten von elf Professoren und 80 Doktoranden betreut. Die Bilanz der Abschlüsse für das Studienjahr 2012/13 weist 100 Staatsexamen, 29 Pharmazie-Diplome und 26 Promotionen aus.
Kurze Wege, Gruppendynamik und Flurfunk: Professor Dr. Stefan Laufer hält es für einen großen Vorteil, dass alle fünf Teildisziplinen der Pharmazie in Tübingen unter einem Dach räumlich vereint sind. Das sichere auch eine hohe Integration der Fächer bei der interdisziplinären Ausbildung. Ein Beispiel dafür sei, dass die Vorlesungen in den Fächern Pharmazeutische Chemie und Pharmakologie über vier Semester aufeinander abgestimmt sind. Auch habe es sich bewährt, dass die Fächer Pharmakologie und Klinische Pharmazie bewusst unter einem Lehrstuhl zusammengefasst wurden. Der Inhaber des Lehrstuhls, Professor Dr. Peter Ruth, ist der Meinung, dass Klinische Pharmazie auf Pharmakologie aufbaut. »Der Überlappungsbereich zwischen den beiden Disziplinen ist so groß, dass eine Trennung zur Zersplitterung von Ressourcen führen würde«, fügt Laufer hinzu.
<typohead type="2" class="balken">Universität Tübingen</typohead type="2">
Die Eberhard Karls Universität Tübingen wurde 1477 gegründet und gehört somit zu den ältesten Universitäten Europas. Auf die rund 86 000 Einwohner der Stadt kommen etwa 28 500 Studenten aus dem In- und Ausland. Rund 450 Professoren und mehr als 4000 Wissenschaftler lehren und forschen an den insgesamt sieben Fakultäten der Universität. Das Pharmazeutische Institut bildet gemeinsam mit dem Interfakultären Institut für Biochemie den Fachbereich Pharmazie und Biochemie. Dieser ist in der mathematisch-naturwissenschaftlichen Fakultät beheimatet. Derzeit sind rund 700 Pharmaziestudenten an der Uni eingeschrieben.
Im Fach Klinische Pharmazie liegt Ruth zufolge der Fokus auf den großen relevanten Volkskrankheiten. Besonders hebt er die gemeinsamen Unterrichtseinheiten im Krankenhaus mit angehenden Medizinern hervor, die im achten Semester stattfinden. Regelmäßig würden seine Kollegen aus der Medizin die Pharmaziestudenten loben. Die angehenden Apotheker seien interessierter am Thema, respektvoller im Umgang mit den Patienten und gäben zudem auf Nachfragen häufig eine sehr gute Antwort.
Die Tübinger Professoren legen weniger Wert auf das Simulieren von Beratungsgesprächen, als das an anderen Unis der Fall ist. »Das gehört in den dritten Ausbildungsabschnitt«, argumentiert Laufer. Das Studium sei so schon überfrachtet und dürfe nicht mit noch mehr Stoff gefüllt werden. Professor Dr. Harald Groß vom Fach Pharmazeutische Biologie räumt aber ein, dass er in seiner Vorlesung immer wieder Fragen aus der Apothekenpraxis mit einfließen lässt. Insgesamt sind sich die Professoren jedoch einig, dass sie anstelle von Beratungsthemen in der Lehre mehr Wert auf einen hohen Forschungsbezug legen.
Der Lehrstuhl Pharmazeutische Chemie/Medizinische Chemie (Professor Dr. Stefan Laufer) entwickelt Arzneistoffkandidaten und pharmakologische Tools für die Gebiete Entzündung und Autoimmunität. Molekulare Targets sind Cyclooxygenasen, Lipoxygenasen, MAP-Kinasen, Transkriptionsfaktoren und Zytokine. Die Pharmazeutische Analytik und Bioanalytik (Professor Dr. Michael Lämmerhofer) beschäftigt sich methodisch mit der Entwicklung von funktionalisierten mikro- und nanopartikulären sowie monolithischen Trennmaterialien für verschiedene analytische und präparative Anwendungen. Professor Dr. Frank M. Böckler, Pharmazeutische Chemie/Molecular Drug Design, befasst sich mit der Rückfaltung von mutierten p53-Protein, dem sogenannten Wächter des Genoms, mithilfe chemischer Verbindungen. Ein zentrales Ziel des Lehrstuhls für Pharmazeutische Biologie (Professor Dr. Lutz Heide, Professor Dr. Harald Groß und Juniorprofessor Dr. Leonard Kaysser) ist die Entwicklung neuer bioaktiver Naturstoffe (Antibiotika und Zytostatika) mit Methoden der mikrobiellen Gentechnik und der kombinatorischen Biosynthese. Die Kernkompetenz des Lehrstuhls für Pharmazeutische Technologie (Professor Dr. Rolf Daniels) liegt in der Arzneiformen-Entwicklung mit dem Schwerpunkt in der physikalisch-chemischen und biopharmazeutischen Charakterisierung sowie der Prozessentwicklung. Besondere Schwerpunkte sind dabei die Entwicklung lipidbasierter Delivery-Systeme für die kontrollierte Freisetzung von Problemarzneistoffen. Der Lehrstuhl für Pharmakologie, Toxikologie und Klinische Pharmazie (Professor Dr. Peter Ruth) fokussiert sich auf die Etablierung verschiedener transgener und Knock-out-Tiermodelle. Besonderes Augenmerk liegt auch auf der Bearbeitung von Ca2+- und Na+-aktivierten Kaliumkanälen sowie cGMP-Effektorproteinen. Professor Dr. Gisela Drews vom gleichen Lehrstuhl beschäftigt sich mit der Entstehung von Typ-2-Diabetes, genauer gesagt mit der Stimulus-Sekretions-Kopplung in pankreatischen Insulin-sezernierenden Betazellen. Dabei geht es um die Suche neuer Drug Targets für die Diabetestherapie.
Von Annette Mende / In den USA ist ab sofort die erste Immuntherapie verfügbar, die sich genmanipulierter menschlicher T-Zellen bedient. Die Arzneimittelbehörde FDA erteilte Tisagenlecleucel (Kymriah™ von Novartis) die Zulassung zur Behandlung von Patienten bis 25 Jahren mit einer bestimmten Form der akuten lymphatischen Leukämie (ALL).
Das Besondere an Kymriah ist, dass jede Dosis für einen bestimmten Patienten individuell angefertigt wird. Diesem werden dazu zunächst T-Zellen entnommen, die dann so genmanipuliert werden, dass sie einen chimären Antigenrezeptor (CAR) bilden, der spezifisch für das Oberflächenantigen CD19 ist. Nach der Rückinfusion der CAR-T-Zellen attackieren diese im Körper des Patienten Leukämiezellen, die CD19 exprimieren.
Alternatives Prüfungsverfahren
Anders als an den meisten anderen Universitäten in Deutschland besteht in Tübingen die Chance, das Erste Staatsexamen nicht im Zuge der Multiple-Choice-Prüfungen, sondern in einem alternativen Prüfungsverfahren zu absolvieren. Dabei werden alle scheinpflichtigen Vorlesungen und Seminare des Grundstudiums benotet und gehen – gewichtet nach Semesterwochenstunden – in die Endnote zum Ersten Staatsexamen ein. Wie Professor Dr. Rolf Daniels informiert, konnte man mit dem alternativen Prüfungsverfahren bisher sehr gute Erfahrungen sammeln. Die Prüfungen könnten auf diese Weise stärker auf aktuelle Studieninhalte abgestimmt werden. Laufer kann dem nur zustimmen. Im Rahmen des »abstrakten Fragenkatalogs« würden auch uralte Fragen im Rahmen der MC-Klausuren verwendet. »Wir prüfen, was wir lehren«, sagt Laufer. Die Noten hätten sich zudem verbessert und der Wechsel zum alternativen Prüfungsverfahren habe sich studienzeitverkürzend ausgewirkt.
Jasmin Wolf, Pharmaziestudentin aus der Fachschaft in Tübingen, kann bestätigen, dass die meisten Studenten mit der Abkehr von MC-Prüfungen gut leben können. Nur wenige Studenten würden freiwillig das andere Prüfungsverfahren wählen. Apropos Studenten: Der Zusammenhalt untereinander sei sehr groß. In der Fachschaft Pharmazie gebe es rund 25 Mitstreiter, vom ersten bis zum achten Semester sei alles vertreten. Das ermögliche einen schnellen und guten Kontakt zu allen Semestern.
Neuer Masterstudiengang stark nachgefragt
Besonders stolz sind die Tübinger Professoren auf den neuen Masterstudiengang »Pharmaceutical Sciences & Technologies«, der im Wintersemester 2013/14 erstmals startete. Daniels erklärt, dass in Tübingen schon seit Langem die Möglichkeit zur Anfertigung einer Diplomarbeit bestand. Da das Diplom aber ein Auslaufmodell sei, habe man sich Gedanken über eine Alternative gemacht. Das sei die Geburtsstunde des neuen Studiengangs gewesen.
Das Profil des Studiengangs leitet sich aus der Erkenntnis ab, dass Entwicklung, Herstellung und Anwendung von Arzneimitteln ein Forschungs- und Wirtschaftsfeld ist, das einer zunehmenden Interdisziplinarität unterliegt. Durch die Möglichkeit, auch Fächer außerhalb der Pharmazie einzubinden, sollen Spezialisten ausgebildet werden, deren Kompetenz an der Schnittstelle moderner Techniken zur Pharmazie, etwa molekulare Medizin, Informatik, Genetik, Psychologie, Mathematik/Statistik, Materialwissenschaft, angesiedelt ist und die daher fächerübergreifend in der Arzneimittelentwicklung, -produktion und -anwendung neue Wege eröffnen können.
Der Studiengang richtet sich an Pharmazeuten mit abgeschlossenem Studium und dem Wunsch auf wissenschaftliche Vertiefung oder Spezialisierung sowie Absolventen eines Studiums mit biomedizinischem/naturwissenschaftlichem Inhalt, zum Beispiel Chemie, Biologie, Biochemie, Bioinformatik, Molekularmedizin, und internationale Studierende mit äquivalentem Abschluss. Für Pharmazeuten dauert das Studium zwei Semester und endet mit dem Erstellen einer Masterarbeit.
Wie Daniels erklärt, ist die Nachfrage für den Studiengang sehr groß. Etwa die Hälfte die Teilnehmer seien Pharmazeuten. »Bei den Quereinsteigern fehlt es oft an chemischen Grundkenntnissen«, nennt Daniels einen Vorteil für Pharmazeuten. Schließlich brauche man auch im Fach Technologie ein Substanzverständnis. Absolventen des Studiengangs qualifizieren sich Laufer zufolge für einen Arbeitsplatz in der pharmazeutischen Industrie. Zudem könne der zulassungsbeschränkte Studiengang ein Einstieg in eine Promotion sein und sich für Studenten eignen, die ins Ausland gehen wollen, da ein Masterabschluss dort im Gegensatz zu Diplom und Staatsexamen be- und anerkannt sei.
Forschungs- und anwendungsorientierte Ziele
Daniels und Laufer fassen die Ausrichtung der Tübinger Pharmazie mit folgenden Schlagworten zusammen: starke Forschungsorientierung, hoher translationaler Ansatz und Ausrichtung auf arzneimittelrelevante, anwendungsorientierte Grundlagenforschung. Alle Pharmazieprofessoren sind stark mit den Naturwissenschaften und der Medizin vernetzt. Ein Beispiel dafür ist die Einbindung des Pharmazeutischen Instituts in das Interfakultäre Zentrum für Pharmakogenomik und Arzneimittelforschung (ICEPHA), gemeinsam mit dem Institut für Pharmakologie und Toxikologie der Medizinischen Fakultät und der Klinischen Pharmakologie sowie mit dem Margarete Fischer-Bosch Institut für Klinische Pharmakologie und dem Robert Bosch-Krankenhaus in Stuttgart. Wichtigstes Forschungsziel des ICEPHA ist es, die Zusammenhänge zwischen dem Erbgut, der individuellen Disposition für Erkrankungen und den Wirkmechanismen von Medikamenten aufzuklären.
Zudem ist das Pharmazeutische Institut im Rahmen des Deutschen Zentrums für Infektionsforschung (DZIF) mit der Medizinischen Fakultät und dem Fachbereich Biologie vernetzt. Das Bundesministerium für Bildung und Forschung bezahlt über das DZIF unter anderem eine komplette Juniorprofessur in der Pharmazeutischen Biologie. Ferner sind Arbeitsgruppen des Pharmazeutischen Instituts in den Sonderforschungsbereich (SFB) 766 »Bakterielle Zellhülle« und den SFB 773 »Chemoresistenz solider Tumoren« eingebunden. Gemeinsam mit der Biochemie besteht zudem eine DFG-Forschergruppe »cGMP Signaling in Cell Growth and Survival«.
Auch an internationalen Kontakten mangelt es in Tübingen nicht. So ist das Pharmazeutische Institut am Aufbau der Deutschen Universität in Kairo maßgeblich beteiligt. Ein regelmäßiger Austausch im Postgraduiertenbereich findet mit verschiedenen brasilianischen Universitäten statt. Im Rahmen des Erasmus-Programms gibt es Vereinbarungen zwischen dem Pharmazeutischen Institut in Tübingen und den entsprechenden Fachbereichen mehrerer ausländischer Partnerhochschulen.
Kooperation mit der Kammer
Last but not least sind auch die Weiterbildungsangebote hervorzuheben, die die akademische Lehre des Instituts mit der beruflichen Fort- und Weiterbildung vernetzen. Konkrete Angebote finden sich in Form des Zertifikatskurses Clinical Pharmacy, der in Kooperation mit der Deutschen Gesellschaft für Klinische Pharmazie (DGKPha), dem Bundesverband deutscher Krankenhausapotheker (ADKA) sowie der Landesapothekerkammer (LAK) Baden-Württemberg stattfindet, sowie der Möglichkeit, sich zum Fachapotheker in den Gebieten Pharmazeutische Analytik oder Pharmazeutische Technologie weiterzubilden.
Die LAK weist zudem auf die Zusammenarbeit bei der Durchführung von Weiterbildungsseminaren hin. So werde das Seminar »Arzneimittelherstellung in der Apotheke« in Kooperation mit Daniels’ Arbeitskreis angeboten. Im Rahmen des jährlich stattfindenden Professorengesprächs trifft sich die Kammer darüber hinaus mit den Hochschullehrern aller pharmazeutischen Fachrichtungen der drei baden-württembergischen Universitäten. Hierbei werden wichtige Belange der universitären und praktischen Ausbildung angehender Apotheker besprochen. Jeweils ein Vertreter der drei Unis ist sogar stimmberechtigtes Mitglied der Vertreterversammlung der LAK. /
In der Reihe »Hochschulporträt« stellt die PZ die Hochschulstandorte des Fachs Pharmazie in Deutschland vor. Welche bereits erschienen sind sehen Sie in unserer Rubrik Zum Thema unter Hochschulporträts.
Foto: Fotolia/Juan Gärtner
Kymriah darf eingesetzt werden bei Patienten mit refraktärer oder rezidivierter B-Vorläufer-ALL. Diese sehr schwere, akut lebensbedrohliche Form der ALL betrifft schätzungsweise 15 bis 20 Prozent der Patienten. Wirksamkeit und Sicherheit des neuen Medikaments wurden in einer offenen Multicenterstudie gezeigt, in der 83 Prozent der 63 Teilnehmer innerhalb von drei Monaten eine Remission erreichten.
Potenziell tödliche Nebenwirkungen sind Zytokinsturm und Neurotoxizitäten. Da sich die Überaktivierung des Immunsystems im Rahmen eines Zytokinsturms mit Interleukin-6-Antikörpern wie Tocilizumab (RoActemra®) begrenzen lässt, sprach die FDA gleichzeitig mit der Kymriah-Zulassung eine entsprechende Zulassungserweiterung für Tocilizumab aus. Um die maximale Sicherheit der Patienten zu gewährleisten, darf Kymriah nur in zertifizierten Kliniken und unter Aufsicht von eigens geschultem Personal gegeben werden. /