Die Gefahr des rein sachlichen Blickes |
02.05.2018 10:55 Uhr |
Gesundheitsdaten auszumessen birgt Chancen, aber auch die Gefahr, dass ein gefährlich rationaler Blick auf den Menschen entsteht. Das gab der Soziologe Professor Dr. Stefan Selke von der Hochschule Furtwangen beim Wirtschaftsforum des Deutschen Apothekerverbands in Potsdam zu bedenken.
Immer mehr Menschen gäben – etwa über Apps – freiwillig Gesundheits- und andere Daten preis, erklärte Selke und stellte Beispiele vor, wie etwa Krankenkassen diese nutzen: Zum Beispiel, indem Versicherte, die jeden Tag eine bestimmte Anzahl Schritte gehen und dies über ein spezielles Programm nachweisen, geringere Beiträge zahlen müssen.
Das Leben verliert seinen Reiz, wenn auf alles Angenehme verzichtet wird, nur weil es ungesund ist, gibt der Soziologe Stefan Selke zu bedenken.
In der Türkei seien solche und ähnliche Apps bereits Pflicht, in China besitze gar jeder Bürger einen bestimmten »Sozialkredit«, erzählte der Professor. Je nach gesellschaftlichem und politischem Verhalten sowie finanzieller Bonität erwirbt er eine bestimmte Punktzahl, die etwa bei der Job- und Partnersuche angegeben wird.
Hier werde der Mensch auf eine bloße Zahl reduziert, kritisierte Selke. Seine Persönlichkeit spiele keine Rolle mehr, er habe keine Chance, sein Leben selbst und anders zu entwerfen. Der Soziologe hält das für gefährlich, denn Studien hätten gezeigt, dass wir uns Menschen gegenüber weniger empathisch verhalten, wenn wir sie nicht mehr als Individuen wahrnehmen.
Angst und Misstrauen, etwa dem eigenen Körper gegenüber, sei zutiefst menschlich. In Zeiten von Krieg und Terror beruhige es, sich auf etwas zurückzuziehen, das beherrschbar erscheint, erklärte Selke. Deshalb stürzten sich Menschen auf Daten, um etwa ihren naturgemäß störanfälligen Körper zu optimieren.
Letztlich führe dies jedoch zu noch mehr Unsicherheit, sagte er. So hätten etwa Studien ergeben, das Eltern, die die Vitalwerte ihrer Babys mit Geräten überwachen, nicht beruhigter sind, sondern sich im Gegenteil sogar noch unsicherer fühlen.
Problematisch beurteilt Selke auch die Tatsache, dass datenaufzeichnende Geräte von Verantwortung entbinden. Ein harmloses Beispiel seien spezielle Socken für Demenzkranke, die einen Alarm auslösen, wenn der Patient aufsteht und weglaufen will. Sie ersetzen einen Menschen, der auf den Patienten aufpasst. Extremstes Beispiel für das Abgeben von Verantwortung seien Kriegsdrohnen, die per Software moralische Entscheidungen treffen sollen, etwa ob ein Mensch getötet wird oder nicht.
Solidargemeinschaft in Gefahr
Selke plädierte dafür, den rein sachlichen und zahlengesteuerten Blick auf den Menschen kritisch zu sehen. »Wenn nur noch das Rationale zählt, geht etwas verloren«, sagte er. Die Fähigkeit zu irrationalem Verhalten sei schließlich ein Merkmal, das den Menschen vom Tier unterscheide. Das Leben verliere seinen Reiz, wenn etwa auf alles Angenehme verzichtet wird, nur weil es ungesund ist, merkte Selke an.
Auch sei es problematisch, wenn hier ein Schuldbegriff ins Spiel kommt und die Solidargemeinschaft nicht mehr für Patienten einstehen will, die vermeintlich selbstverschuldet krank geworden sind.
Selke riet, neben Zahlen und Daten weiter auf die menschliche Urteilskraft und die Kraft der Empathie zu vertrauen. Und hier zog der Professor den Bogen zu den Apothekern: Selbstüberwachung stoße überall da an Grenzen, wo der Blick eines erfahrenen Menschen nötig sei, erklärte er. Wenn jedes Jahr mehr Menschen an Arzneimittelnebenwirkungen sterben als bei Verkehrsunfällen, werde etwa deutlich, wie wichtig und notwendig das persönliche Gespräch mit dem Apotheker sei. Self Tracking könne den Blick eines vernunftbegabten Menschen niemals ersetzen. /