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Tumorschmerztherapie

Von Stufe zu Stufe

25.01.2008  14:14 Uhr

Tumorschmerztherapie

Von Stufe zu Stufe

Von Bettina Sauer, Berlin

 

Zur Therapie von Tumorschmerzen ist das WHO-Stufenschema immer noch aktuell. Um die richtigen Analgetika und Co-Analgetika auszuwählen, müssen Ärzte eine gründliche Schmerzdiagnostik vornehmen und den Therapieerfolg regelmäßig überprüfen.

 

Etwa 400.000 Menschen erkranken jährlich in Deutschland an einem Tumorleiden. Im Frühstadium empfinden bis zu 50 Prozent der Patienten behandlungsbedürftige Schmerzen, in der Endphase sogar bis zu 95 Prozent. Cicely Saunders, die 1967 in London das erste Hospiz gründete und damit auch austherapierten Krebspatienten eine angemessene Analgesie ermöglichen wollte, prägte für den Tumorschmerz den Begriff »total pain«. Er umfasse eine körperliche, psychische, soziale und spirituelle Dimension. Viele Krebskranke verknüpften ihn mit der Bedrohung durch den Tod.

 

Deshalb lindert eine therapeutische Schmerzkontrolle längst nicht nur körperliches Leid. »Mit ihrer Hilfe können Patienten ein Gefühl von Sicherheit, Geborgenheit und Lebensqualität erlangen, oft auch psychosoziale und spirituelle Probleme leichter bewältigen«, sagte Dr. Maja Falckenberg, Anästhesistin und Schmerztherapeutin aus Hamburg. Sie referierte im Januar in Berlin beim Interdisziplinären Forum der Bundesärztekammer, die dem Themenfeld eine ganze Vortragsreihe widmete. »Theoretisch könnten 90 Prozent aller Tumorpatienten erfolgreich schmerztherapeutisch behandelt werden«, sagte Professor Dr. Raymond Voltz, Direktor der Klinik für Palliativmedizin an der Universitätsklinik in Köln. »Doch viel zu viele von ihnen sind in der Realität deutlich unterversorgt.« So mangele es oft an einer gründlichen Schmerzdiagnostik, die ein Gespräch zur Krankengeschichte und eine klinische Untersuchung umfasst. »Ohne sie lässt sich keine Schmerztherapie einleiten, die sich gezielt gegen die individuellen Symptome richtet.« Zudem forderte die American Pain Society 2005 in ihrer Leitlinie zur Behandlung von Tumorschmerzen, den Erfolg der gewählten Therapie und das Auftreten von Nebenwirkungen regelmäßig zu überprüfen. »Selbst das stärkste Opioid wirkt nicht automatisch«, sagte Voltz. »Möglicherweise müssen Ärzte es anders dosieren, auswechseln oder die Therapie anderweitig umstellen.«

 

Tumor strapaziert sein Umfeld

 

In vielen Fällen verursachen ein Tumor oder seine Metastasen in der Umgebung entzündliche Gewebsschäden. Dabei schütten Krebs-, beziehungsweise angegriffene oder zerstörte Körperzellen Zytokine, Prostaglandine, Bradykinine und weitere Botenstoffe aus. Diese aktivieren Schmerzrezeptoren (Nozizeptoren), die den Reiz über Nervenbahnen zum Rückenmark und von dort ins Gehirn weiterleiten. Zwei Studien aus den 1990er-Jahren zufolge berichtet etwa jeder dritte Tumorpatient von Knochen- oder Weichteilschmerzen. Letztere betreffen das Bindegewebe und die Skelettmuskulatur. Seltener führen Krebserkrankungen zu krampfartigen Schmerzen der glatten Muskulatur der Eingeweide (viszeraler Schmerz) oder belasten das Nervengewebe. Diesen neuropathischen Schmerz vergleichen Patienten mit einem »Brennen«, »elektrischen Schlägen« oder »schmerzhafter Kälte«, wie Voltz ausführte. Im gleichen Bereich trete oft ein Kribbeln, Pieksen, Taubheitsgefühl oder Juckreiz auf. Zurückzuführen seien die Symptome vermutlich auf ein verändertes Vorkommen von Natriumkanälen und damit verbundene Spontanaktivitäten der Nervenfasern. Häufig treten verschiedene Schmerzformen kombiniert auf, etwa 20 Prozent der Tumorpatienten leiden zudem unter therapiebedingten Schmerzen. So kommt es unter Bestrahlung mitunter zu Hautschäden, unter Chemotherapien zu Infektionen.

 

Auch die aktuelle Fachliteratur empfiehlt zur Behandlung von Tumorschmerzen das Stufenschema, das  die Weltgesundheitsorganisation (WHO) 1986 erstmals veröffentlicht hat. Diese Meinung vertraten die Referenten einhellig. Die erste Stufe des WHO-Schemas bilden nicht-opioide Analgetika. »Bei geringen Schmerzzuständen wirken sie oft ausreichend«, sagte Voltz. »Bei stärkeren helfen sie, Opioide einzusparen.« Als Mittel der ersten Wahl nannte er Metamizol. Sein Wirkmechanismus ist, ähnlich wie der von Paracetamol, noch nicht vollständig geklärt. Aufgrund seiner krampflösenden Eigenschaften vermag es sogar viszerale Schmerzen zu lindern. »Agranulozytosen kommen entgegen der langjährigen Lehrmeinung nur äußerst selten vor und lassen sich durch regelmäßige Blutbildkontrollen des Patienten frühzeitig erkennen«, sagte Voltz. Allergische Reaktionen und Schocks träten meist nur bei intravenöser Gabe auf. Deutlich nebenwirkungsreicher seien Hemmer der Cyclooxygenase (COX). Unselektive Vertreter wie Acetylsalicylsäure, Diclofenac und Ibuprofen hindern die Enzyme COX-1 und -2 daran, in Reaktion auf den Tumor entzündliche Prostaglandine freizusetzen. Teils lassen sich auch schmerzstillende Mechanismen in Rückenmark und Gehirn nachweisen. Als gravierende Nebenwirkungen können sie Magengeschwüre verursachen, die Nieren schädigen sowie zu Blutungen führen. »Selektive COX-2-Hemmer  wie Celecoxib scheinen für den Magen-Darm-Trakt besser verträglich zu sein«, sagte Voltz. »Doch erhöhen sie das Risiko für Herz-Kreislauf-Vorfälle, was für  Diclofenac, Indometacin und Naproxen aber auch schon gezeigt wurde.« Sein Fazit lautete: »Ärzte sollten COX-Hemmer nur nach genauer Klärung der medizinischen Notwendigkeit, mit Vorsicht und unter Magenschutz verordnen.«

 

Starke und schwache Opioide

 

Wenn Stufe 1 des WHO-Schemas Schmerzen nicht ausreichend zu lindern vermag, sollen gemäß der Stufe 2 und 3 Opioide zum Einsatz kommen. Indem sie an spezielle Rezeptoren binden, hemmen sie in Rückenmark und Gehirn die Übertragung und Verarbeitung von Schmerzreizen. Mindestens vier Typen von Opioid-Rezeptoren (μ, κ, δ und σ) vermitteln die gruppenspezifischen Effekte wie auch die Nebenwirkungen. Dazu zählen Müdigkeit, Unaufmerksamkeit, eine mitunter suchterzeugende Euphorisierung, Mundtrockenheit, Schwitzen und Verstopfung. Letztere wird durch Opioid-Rezeptoren im Magen-Darm-Trakt vermittelt und kommt so häufig vor, dass Patienten prophylaktisch Abführmittel einnehmen sollten. Anfängliche Übelkeit und Erbrechen verlieren sich meist, wenn im Verlauf einer Opioidtherapie eine Hemmung des Brechzentrums eintritt. Vereinzelt berichten Patienten sogar von einem paradoxen Effekt, nämlich einer Schmerzzunahme durch Opioide.

 

»Opioide weisen eine unterschiedliche Bindungsstärke zu den Rezeptoren auf, wodurch sich leichte Wirkunterschiede erklären lassen«, sagte Falckenberg. Auf Stufe 2 des WHO-Schemas finden sich schwache Opioide wie Tramadol, Tilidin, Codein, Dihydrocodein. Zu den von der WHO empfohlenen starken Opioiden zählen Morphin, Fentanyl, Levomethadon, Hydromorphon, Oxycodon und Buprenorphin.

 

Falckenberg umschrieb Tumorschmerz als »einen Dauerschmerz, meist mit einzelnen Schmerzspitzen«. Als Basismedikation sollten Ärzte eine lang wirksame Opioid-Formulierung verordnen, kombiniert mit einem schnell wirksamen Präparat für den Fall akuter Schmerzen. »Eine solche Bedarfsmedikation benötigen auch Tumorpatienten mit Wunden, die normalerweise über Schmerzen beim Verbandswechsel klagen«, sagte Voltz. »Sie sollte etwa 30 Minuten vor dem Eingriff erfolgen.«

 

Opioide unterscheiden sich teils erheblich in ihrer Kinetik, also auch in Wirkungseintritt und -dauer. Falckenberg ergänzte: »Zudem stehen sie in einer Vielzahl von schnell und langsam wirkenden Arzneizubereitungen zur Verfügung und können in allen erdenklichen Therapiesituationen eingesetzt werden.« In Deutschland zugelassen sind retardierte und nicht-retardierte orale Darreichungsformen, Zäpfchen, Tropfen und parentale Lösungen, die sich intravenös, subkutan, intramuskulär oder auch rückenmarksnah (epidural, inthrathekal) verabreichen lassen. Mithilfe einer PCA (patient controlled analgesie)-Pumpe, einer Variante der herkömmlichen Infusion, können sich Patienten per Knopfdruck selbst die Dosis zum Erhalt der schmerzstillenden Wirkung intravenös zuführen. Das Verfahren sollte jedoch Falckenbergs Einschätzung nach nur gesichert durch eine ärztliche Rufbereitschaft stattfinden. Schließlich können Überdosierungen mit Opioiden zu lebensbedrohlichen Atemlähmungen und Kreislaufschocks führen.

 

Einsatz von Co-Analgetika

 

Retardpräparate erzeugen besonders gleichmäßige Opioidkonzentrationen im Blut und senken dadurch das Nebenwirkungsrisiko. Buprenorphin und Fentanyl stehen als transdermale therapeutische Systeme (TTS) zur Verfügung, Morphin, Oxycodon, Hydromorphon und Dihydrocodein als orale Retardpräparate. In manchen Fällen sind TTS vorzuziehen, etwa, wenn Patienten nicht gut schlucken können oder bei einer eingeschränkten Wirkstoffaufnahme aus dem Magen-Darm-Trakt. »Grundsätzlich gilt die Therapie mit oralem Morphin als Goldstandard«, sagte Falckenberg, »auch bezüglich der vergleichsweise niedrigen Therapiekosten.«

 

Auf allen drei Stufen ihres Schemas nennt die WHO auch Co-Analgetika (Adjuvanzien), die die Schmerzursache bessern helfen.  »Ärzte müssen sie als therapeutische Möglichkeit immer mit bedenken«, betonte Voltz. Glucocorticoide wie Dexamethason seien hilfreich, wenn Tumorgewebe schmerzhaften Druck auf Nervenfasern ausübe. Ansonsten sollten zur adjuvanten Behandlung neuropathischer Schmerzen  trizyklische Antidepressiva oder die Antiepileptika Gabapentin und Pregabalin zum Einsatz kommen. Sie scheinen ihre Effekte über eine Beeinflussung von Natriumkanälen zu vermitteln. Voltz bezeichnete sie auf dem Gebiet als »klare Sieger«. Er bezog sich auf zwei Übersichtsarbeiten mit ähnlichen Ergebnissen. Eine stammt von Nanna Brix Finnerup vom Dänischen Krebsforschungszentrum und erschien 2005 in »Pain«; die andere veröffentlichte Professor Dr. Giorgio Cruccu von der Universität in Rom 2007 in »Current Opinion of Neurology«. Als »klare Verlierer« ausgemacht wurden Lamotrigin, Topiramat, NMDA-Antagonisten wie Amantadin, Carbamazepin, unselektive Serotonin-Wiederaufnahme-Hemmer, Capsaicin und Lidocain.

 

Bei tumorbedingten Skelettmuskelschmerzen helfen oft Muskelrelaxantien wie Tetrazepam oder Baclofen, bei kolikartigen viszeralen Schmerzen Metamizol und Butylscopolamin. Bei Knochenschmerzen empfiehlt sich adjuvant eine einmalige, niedrig dosierte Bestrahlung. Ferner kommen Bisphosphonate wie Zoledronsäure zum Einsatz. »Sie reichern sich in den Knochen an«, umschrieb Falckenberg die Wirkweise, »und lassen knochenabbauende Osteoklasten und Tumorzellen gewissermaßen explodieren.«

 

Was Ärzte mit einer gründlichen Schmerzdiagnostik und -medikation erreichen können, veranschaulichte Voltz am Beispiel eines Patienten mit einem Leberkarzinom, das Metastasen am Halswirbelkanal ausgebildet hatte. Obwohl er hoch dosiertes transdermales Fentanyl bekam, verspürte er auf einer Skala mit 10 als Maximum Schmerzen der Stufe 9. »Er sagte uns: ´So will ich nicht mehr weiterleben!´«, erinnerte sich Voltz. Die Schmerzdiagnostik ergab Weichteil- und Knochenschmerz, zudem einen Druck des Tumorgewebes auf Nervenfasern. Also verordneten die Ärzte ergänzend zum Fentanylpflaster Metamizol, Ibuprofen unter Magenschutz und Dexamethason. Innerhalb von zwei Tagen sank die Schmerzstärke auf einen Skalenwert von zwei. Noch Wochen später sprach der Patient von »Zauberei.«

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