Ginkgo biloba zur Demenzprävention |
25.01.2016 15:55 Uhr |
Von Judith Günther und Iris Hinneburg / An einer Demenz zu erkranken, gehört für viele Menschen zu den großen Schrecken des Alterns. Mittel, die eine wirksame Prävention versprechen, sind deshalb sehr populär. In der Werbung werden Ginkgo-biloba-Präparate als vorbeugende Maßnahme angepriesen. Wie steht es um die Evidenz?
Nach Angaben der Deutschen Alzheimer Gesellschaft sind derzeit in Deutschland etwa 1,5 Millionen Menschen von einer Demenz betroffen. Da ein höheres Alter als einer der wichtigsten Risikofaktoren gilt, gehen Experten davon aus, dass die Anzahl der Erkrankten aufgrund der demografischen Entwicklung in den nächsten Jahren weiter zunehmen wird.
Viele ältere Menschen haben bei den ersten Anzeichen von Vergesslichkeit Sorge, an einer Demenz zu erkranken.
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Gleichzeitig steigt die Furcht vor der Erkrankung, die im fortgeschrittenen Stadium zu Orientierungslosigkeit, Persönlichkeitsverfall und Pflegebedürftigkeit führt. Das zeigt auch das Beispiel des Schauspielers Gunter Sachs: Er nahm sich das Leben, weil er zunehmende Gedächtnisprobleme bemerkt hatte und vermutete, an einer Demenz erkrankt zu sein.
Insofern gibt es vor allem in der älteren Bevölkerung ein großes Interesse an präventiven Maßnahmen. Dabei stehen Mittel im Fokus, denen eine positive Wirkung auf die Gedächtnisleistung zugeschrieben wird. So lässt sich auch erklären, dass vornehmlich im Internet Ginkgo-biloba-Präparate zur Demenzprävention beworben werden, obwohl in Deutschland verfügbare Fertigarzneimittel für diese Indikation nicht zugelassen sind. Können diese Präparate tatsächlich das Auftreten einer Demenz verhindern?
Kriterien für die Literatursuche
Die Suche nach der besten verfügbaren Evidenz für diese Beratungsfrage konzentrierte sich auf Studienteilnehmer aus der Allgemeinbevölkerung. Spezielle Populationen mit besonderen Risiken, etwa mit Schizophrenie oder Multipler Sklerose, wurden nicht berücksichtigt.
Eingeschlossen wurden ausschließlich Studien, die als Endpunkt das Eintreten einer Demenz untersuchten. Zwar gibt es zahlreiche Untersuchungen, die als Endpunkt Veränderungen in den kognitiven Fähigkeiten erheben. Dazu wird häufig eine Vielzahl an Fragebögen und Bewertungsskalen verwendet, etwa der MMSE (Mini Mental State Examination). Diese Instrumente messen relativ zuverlässig die Entwicklung der kognitiven Fähigkeiten bei Demenzpatienten. Jedoch ist es unter Experten umstritten, ob sie sich auch für Studien eignen, die Maßnahmen zur Demenzprävention untersuchen. Zudem ist bisher nicht ausreichend nachgewiesen, dass Interventionen, die eine Verschlechterung der kognitiven Fähigkeiten aufhalten können, tatsächlich auch die Entstehung einer Demenz verhindern oder verzögern. Bei wiederholten Messungen im Verlauf einer Studie ist außerdem zu beachten, dass es bei vielen der verwendeten Tests Lern- beziehungsweise Übungseffekte gibt, die die Ergebnisse verzerren (1).
GEM-Studie (2) | GuidAge-Studie (3) | |
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Teilnehmer | Geplant: 3000 Studienteilnehmer; eingeschlossen 2587 Teilnehmer mit normaler Kognition und 482 mit MCI; Alter bei Studienbeginn durchschnittlich 79 Jahre; durchgeführt in den USA | Geplant 2800 Studienteilnehmer; eingeschlossen 2854 Teilnehmer mit subjektiven Gedächtnisproblemen; Alter bei Studienbeginn durchschnittlich 76 Jahre; durchgeführt in Frankreich |
Intervention | Ginkgo-Extrakt (EGb761) 2 x 120 mg/Tag versus Placebo | Ginkgo-Extrakt (EGb761) 2 x 120 mg/Tag versus Placebo |
Laufzeit (Median) | 6,1 Jahre | 5,0 Jahre |
Primärer Endpunkt | Auftreten einer Demenz | Auftreten einer Demenz |
Ergebnis Wirksamkeit | HR 1,12 (95% KI 0,94 - 1,33), statistisch nicht signifikant | HR 0,84 (95% KI 0,60 - 1,18), statistisch nicht signifikant |
Ergebnis Nebenwirkungen | Kein statistisch signifikanter Unterschied zu Placebo | Kein statistisch signifikanter Unterschied zu Placebo |
Interpretation für die Praxis | Die Einnahme von Ginkgo-Extrakt konnte in der Studie das Auftreten einer Demenz im Vergleich zu Placebo nicht verhindern. | Die Einnahme von Ginkgo-Extrakt konnte in der Studie das Auftreten einer Demenz im Vergleich zu Placebo nicht verhindern. |
Kein Beleg für präventive Wirkung
Bei der Literaturrecherche ließen sich zwar systematische Übersichtsarbeiten identifizieren, doch gab es bei allen methodische oder inhaltliche Einschränkungen. Daher wurde die Literatursuche auf einzelne randomisierte kontrollierte Studien (RCT) ausgedehnt. Nach den Einschlusskriterien fanden sich dabei drei Studien, die einer Qualitätsbewertung unterzogen wurden. Dabei musste eine der Studien ausgeschlossen werden, da die Patientenrelevanz des Endpunktes nicht eindeutig war.
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Bei den verbliebenen beiden Studien (2, 3) handelt es sich um zwei große RCT mit jeweils rund 3000 Teilnehmern (Tabelle). Details zur Literatursuche und der Qualitätsbewertung sind in der Online-Ausgabe der Pharmazeutischen Zeitung hinterlegt.
In den beiden Studien sind die Teilnehmer durchschnittlich 76 beziehungsweise 79 Jahre alt. Die US-amerikanische GEM-Studie schloss vorwiegend kognitiv gesunde Teilnehmer ein (2). Jeder Sechste litt jedoch an leichten kognitiven Einschränkungen (mild cognitive impairment, MCI). An der französischen GuidAge-Studie dagegen nahmen nur Patienten teil, die bei ihrem Hausarzt spontan über subjektive Gedächtnisstörungen geklagt hatten (3). Die Studienteilnehmer sind also typischen Apothekenkunden sehr ähnlich. In beiden Studien kam ein definierter Ginkgo-biloba-Extrakt in hoher Dosierung im Vergleich zu Placebo zum Einsatz. Dieser Extrakt ist auch in deutschen Fertigarzneimitteln enthalten.
Beobachtet wurden die Teilnehmer über relativ lange Zeiträume: Im Mittel etwas mehr als sechs Jahre in der GEM-Studie und fünf Jahre in der GuidAge-Studie (2, 3). Beide Studien verliefen jedoch enttäuschend: Es ließ sich nicht nachweisen, dass die Einnahme von Ginkgo-biloba-Extrakt das Auftreten einer Demenz statistisch signifikant verzögert beziehungsweise verhindert. Die Nebenwirkungsrate lag in beiden Studien auf Placebo-Niveau.
Absolute Risikoreduktion (ARR)
Unterschied der Ereignisraten in Behandlungs- und Kontrollgruppe (Differenz). Beispiel: In der Behandlungsgruppe ist bei 10 Prozent der Patienten ein Herzinfarkt aufgetreten, in der Kontrollgruppe bei 15 Prozent. Die absolute Risikoreduktion durch die Behandlung beträgt 5 Prozentpunkte (15 Prozent – 10 Prozent).
Hazard Ratio (HR)
In Studien, in denen als Zielgröße die Zeit bis zu einem bestimmten Ereignis bestimmt wird (etwa Todesfall oder Auftreten einer Demenz), wird mithilfe des Hazard Ratio das Verhältnis der Ergebnisse in zwei Gruppen beschrieben. Das Hazard Ratio lässt sich wie ein relatives Risiko interpretieren, auch wenn es rechnerisch nicht ganz identisch damit ist.
Kohortenstudie
Kohortenstudien sind prospektive (nach vorne blickende) Beobachtungsstudien mit einer Kontrollgruppe. Die Patienten werden allerdings nicht randomisiert zwischen der Behandlungs- und der Kontrollgruppe aufgeteilt. Ob unbekannte Risikofaktoren für den Untersuchungsgegenstand in den Behandlungsgruppen gleich häufig vertreten sind, bleibt damit unklar. Daher gibt es bei Kohortenstudien immer eine Restunsicherheit, ob die Ausgangsbedingungen in den Gruppen tatsächlich gleich sind.
Konfidenzintervall
Eine Studie umfasst immer nur eine »Stichprobe« aus der »Grundgesamtheit« aller vergleichbaren Patienten. Die Effektgröße aus einer Studie, etwa ein relatives Risiko, ist daher ein Wert, der selbst bei einem unverzerrten Studiendesign durch Zufallseffekte vom »wahren Wert« für die Grundgesamtheit abweichen kann. Das Konfidenzintervall leitet sich aus den Daten für die Studie ab und wird durch die Anzahl der Teilnehmer, die Streuung der Messwerte sowie die Annahme einer bestimmten Verteilung der Daten in der Grundgesamtheit bestimmt. Es beschreibt einen »Vertrauensbereich«, in dem der »wahre« Wert für die Grundgesamtheit mit einer bestimmten Wahrscheinlichkeit erwartet werden kann. Üblicherweise wird für diese Wahrscheinlichkeit 95 Prozent angenommen und entsprechend ein 95%-Konfidenzintervall angegeben (auch als 95%-KI oder 95%-CI bezeichnet).
Number needed to treat (NNT)
Die Number needed to treat beschreibt in üblichen Studiendesigns, wie viele Patienten mit dem neuen statt mit der Standardtherapie oder Placebo behandelt werden müssen, damit ein Patient mehr profitiert. Sie lässt sich aus der absoluten Risikoreduktion berechnen: NNT = 1/ARR. Beispiel: In der Behandlungsgruppe ist bei 10 Prozent der Patienten ein Herzinfarkt aufgetreten, in der Kontrollgruppe bei 15 Prozent. Die absolute Risikoreduktion durch die Behandlung beträgt 5 Prozentpunkte (15 Prozent – 10 Prozent, also 0,05). Die NNT liegt dann bei 1/0,05 = 20. Im Beispiel müssten also 20 Patienten mit dem neuen Mittel statt der Therapie in der Kontrollgruppe behandelt werden, um einen Herzinfarkt mehr zu vermeiden.
Relatives Risiko (RR)
Verhältnis der Ereignisraten in Behandlungs- und Kontrollgruppe (Quotient). Beispiel: In der Behandlungsgruppe ist bei 10 Prozent der Patienten ein Herzinfarkt aufgetreten, in der Kontrollgruppe bei 15 Prozent. Das relative Risiko beträgt für die Behandlungsgruppe 0,67 (10 Prozent/15 Prozent, also 67 Prozent) bezogen auf die Kontrollgruppe. Ein relatives Risiko unter 1 bedeutet, dass das Risiko in der Behandlungsgruppe gesenkt wird, ein relatives Risiko über 1, dass das Risiko in der Behandlungsgruppe im Vergleich zur Kontrollgruppe erhöht ist.
Statistisch signifikant
In einer Überlegenheitsstudie wird ein Unterschied zwischen Behandlungs- und Kontrollgruppe als statistisch signifikant bezeichnet, wenn auf der Basis eines statistischen Tests die Wahrscheinlichkeit unter 5 Prozent (< 0,05) liegt, dass der gefundene Unterschied nur durch zufällige Effekte zustande gekommen ist und in Wirklichkeit nicht existiert. Dass ein Unterschied statistisch signifikant ist, heißt aber nicht automatisch, dass die Größe des Unterschieds auch für den Patienten von Bedeutung (relevant) ist.
Subgruppenanalyse
Subgruppenanalysen untersuchen, ob sich das Ergebnis der Studie unterscheidet, wenn man nur bestimmte Probanden aus dem gesamten Studienkollektiv betrachtet, etwa im Hinblick auf das Alter oder das Krankheitsstadium. Allerdings können sich bei Subgruppenanalysen leicht falsch-positive Befunde ergeben, wenn die statistische Datenanalyse nicht angepasst wird.
Trennschärfe
Die Trennschärfe (Power) einer Studie beschreibt die Fähigkeit, einen vorhandenen Unterschied auch als solchen zu erkennen. Die Trennschärfe wird wesentlich mit der Fallzahlberechnung festgelegt. Deshalb ist bei klinischen Studien eine sorgfältige Fallzahlplanung notwendig. Dabei muss unter anderem der erwartete Unterschied zwischen der Behandlungs- und der Kontrollgruppe sowie die Variabilität der Ergebnisse zwischen den einzelnen Probanden berücksichtigt werden.
Wie zuverlässig ist die Evidenz?
Beide Studien sind von hoher methodischer Qualität. Deshalb ist es unwahrscheinlich, dass die negativen Studienergebnisse durch eine systematische Verzerrung zustande kommen. Allerdings entwickelten in der GuidAge- Studie weniger Patienten eine Demenz als in der Studienplanung angenommen. Mit der ursprünglich geplanten Teilnehmerzahl hätte eine relative Risikoreduktion bei der Demenz- Entstehung von 25 Prozent durch Ginkgo im Vergleich zu Placebo sicher entdeckt werden können. Wegen der geringeren Anzahl an Demenz-Erkrankten nach fünf Behandlungsjahren fehlte der GuidAge-Studie zum Zeitpunkt der Datenanalyse jedoch die nötige Trennschärfe. Deshalb kann statistisch nicht belegt werden, ob ein Unterschied tatsächlich nicht vorhanden ist oder der Unterschied nur nicht nachgewiesen werden konnte.
In der GEM-Studie dagegen war eine ausreichende Trennschärfe vorhanden, um die postulierte relative Risikoreduktion von 30 Prozent zu entdecken. Allerdings ließ sich eine Risikoreduktion in dieser Größenordnung nicht zeigen.
Geringerer Effekt möglich?
Rein statistisch betrachtet lässt sich für beide Studien nicht ausschließen, dass der Ginkgo-biloba-Extrakt eventuell doch einen präventiven Effekt hat, die Größenordnung jedoch niedriger liegt als die angenommene Risikoreduktion von 25 beziehungsweise 30 Prozent. Dann muss man allerdings kritisch hinterfragen, ob in diesem Fall der Therapieaufwand und der zu erwartende Nutzen noch in einem ausgewogenen Verhältnis stehen.
Wo hört normale Vergesslichkeit auf, wo fängt Demenz an? Die Diagnose ist sehr schwierig, da vor allem die Anfangssymptome normalen Alterserscheinungen ähneln.
Foto: Shutterstock/Image Point Fr
Wie groß im besten Fall eine solche Risikoreduktion sein könnte, lässt sich anhand der Fallzahlberechnung in den Studien abschätzen. Die Annahmen dafür haben die Forscher aus vorhergehenden Untersuchungen abgeleitet: In der GuidAge-Studie gingen die Autoren davon aus, dass sich ohne Intervention pro Jahr bei 5 Prozent der Teilnehmer eine Demenz entwickeln würde (Basisrisiko in der Placebo-Gruppe). Bei einer angenommenen relativen Risikoreduktion von 25 Prozent über die Laufzeit der Studie würde sich dann eine absolute Risikoreduktion von 1,25 Prozent ergeben. Das entspricht einer Number needed to treat (NNT) von 80, wenn der Ginkgo-Extrakt fünf Jahre lang eingenommen wird. In der GEM-Studie gingen die Forscher von einem Basisrisiko von 4 Prozent pro Jahr und einer relativen Risikoreduktion von 30 Prozent aus. Das würde einer absoluten Risikoreduktion von 1,2 Prozent und einer NNT von 84 bei einer Einnahme über sechs Jahre entsprechen.
Da sich ein Effekt in dieser Größenordnung jedoch nicht nachweisen ließ, müsste ein eventuell doch vorhandener Nutzen geringer sein. Dann müssten im besten Fall also mindestens 81 Menschen über fünf Jahre beziehungsweise mindestens 85 Menschen über sechs Jahre Ginkgo biloba statt Placebo einnehmen, um einen Fall von Demenz mehr zu verhindern. Die anderen würden nicht davon profitieren: Entweder, weil sie trotz der Einnahme eine Demenz entwickeln oder auch ohne die Einnahme nicht an Demenz erkranken. Im schlechtesten Fall könnte aber auch gar kein Patient profitieren, wenn es in Wirklichkeit doch keinen Unterschied zwischen Ginkgo biloba und Placebo gibt. Ob ein Patient unter diesen Umständen bereit wäre, sich auf eine dauerhafte Einnahme eines Mittels einzulassen, das er noch dazu selbst finanzieren muss, ist zumindest fraglich.
Welche Rolle spielt die Adhärenz?
Könnte möglicherweise eine schlechte Therapietreue der Patienten einen vorhandenen Effekt des Ginkgo-biloba-Extrakts verwässert haben? Adhärenz ist besonders bei langfristigen Therapieregimen ein kritischer Faktor. Aus diesem Grund haben beide Studien der Therapietreue besondere Aufmerksamkeit geschenkt.
In beiden Studien bewerteten die Forscher die Adhärenz anhand der Medikamente, die die Patienten zu den Untersuchungszeitpunkten wieder mit zum Studienzentrum brachten. Dazu verglichen sie die Anzahl der tatsächlich eingenommenen Medikamente mit der Anzahl, die bei korrekter Einnahme verbraucht worden wäre. In der GEM-Studie gab es darüber hinaus ein spezielles Gremium, das sich mit Fragen der Adhärenz beschäftigte und das Studienpersonal zu entsprechenden Maßnahmen beriet. In dieser Studie nahmen am Ende der fünfjährigen Studienlaufzeit rund 60 Prozent der in der Studie verbliebenen Teilnehmer noch ihre Medikamente ein. Dabei gab es keine wesentlichen Unterschiede im Hinblick auf die Adhärenz zwischen der Ginkgo- und der Placebogruppe. Gleiches galt auch für die GuidAge-Studie, allerdings war dort die Therapietreue mit jeweils 95 Prozent deutlich besser. Für die GuidAge-Studie spielt die Frage nach einer besseren Adhärenz deshalb vermutlich keine Rolle. Ob sich das Ergebnis der GEM-Studie mit einer höheren Therapietreue verbessert hätte, lässt sich nicht verlässlich abschätzen.
Hilft eine längere Einnahme?
Ebenfalls ist zu bedenken, ob die Dauer der Einnahme das Ergebnis der Studien möglicherweise beeinflusst haben könnte. Diese Frage wurde in der GuidAge-Studie untersucht. In der Studie nahmen die Patienten zwischen 2,9 und 5,1 Jahren (im Median 5,0 Jahre) die Studienmedikation ein. Eine separate Auswertung der Patienten, die mindestens vier Jahre lang Ginkgo beziehungsweise Placebo eingenommen hatten, konnte rein rechnerisch einen signifikanten Effekt zugunsten von Ginkgo nachweisen.
Allerdings ist dieser Befund aus mehreren Gründen nicht glaubwürdig: So handelt es sich bei dieser Auswertung um eine Subgruppenanalyse, die zwar vorab geplant worden war, aber nur zur Erkundung der Studienergebnisse durchgeführt wurde (explorative Auswertung). Da keine statistischen Vorsichtsmaßnahmen zur Vermeidung falsch signifikanter Ergebnisse getroffen wurden, kann es sich auch um einen zufälligen Befund handeln. Die Autoren mahnen deshalb zu Recht an, dieses Ergebnis nicht überzubewerten. Hinzu kommt, dass das positive Ergebnis bei längerer Einnahme hauptsächlich durch einen plötzlichen und starken Anstieg der Demenzfälle in der Placebogruppe am Studienende beeinflusst wird. Für dieses Phänomen können die Autoren keine plausible Erklärung liefern. Deshalb darf man die Ergebnisse dieser Subgruppenanalyse nicht als Nutzenbeleg werten.
PZ / Der vorliegende Beitrag befasst sich ausschließlich mit der Fragestellung zur Evidenzlage von Ginkgo biloba zur Prävention von Demenz. Davon abzugrenzen ist die Datenlage zur Therapie. Hier sieht der Status quo folgendermaßen aus: In die kürzlich revidierte S3-Leitlinie »Demenzen« von der DGN und der DGPPN wurde ein definierter Ginkgo- biloba-Spezialextrakt aufgenommen. Dort heißt es: »Es gibt Hinweise für die Wirksamkeit von Ginkgo Biloba EGb 761 auf die Kognition bei Patienten mit leichter bis mittelgradiger Alzheimer-Demenz oder vaskulärer Demenz und nicht-psychotischen Verhaltenssymptomen. Eine Behandlung kann erwogen werden.«
Kommt die Prävention zu spät?
Bei beiden Studien lässt sich jedoch nicht ausschließen, dass die Intervention für die Teilnehmer zu spät kam. So diskutieren Experten, dass das optimale Zeitfenster für Maßnahmen zur Primärprävention einer Demenz eher im mittleren als im späteren Lebensalter liegt. Allerdings fehlen bisher Studien, aus denen sich dieses Zeitfenster verlässlich ableiten ließe (4).
Nach den Erfahrungen in den beiden Langzeitstudien ist es außerdem fraglich, ob gesunde Menschen solche primärpräventiven Maßnahmen tatsächlich über einen sehr langen Zeitraum, unter Umständen sogar über Jahrzehnte, durchhalten würden. Die GEM-Studie konnte durch intensive Betreuung der Teilnehmer erreichen, dass nur rund 6 Prozent im Verlauf der Studie die Teilnahme verweigerten. In der GuidAge-Studie waren es dagegen rund 26 Prozent. Im »richtigen« Leben würden diese Werte vermutlich noch deutlich höher liegen.
In klinischen Studien, die ein solches primärpräventives Szenario untersuchen wollen, käme erschwerend hinzu, dass sich bei jüngeren Menschen zu Beginn der Studie voraussichtlich nur sehr wenige Demenzfälle entwickeln. Zudem muss bedacht werden, dass bei langen Laufzeiten erfahrungsgemäß auch mehr Teilnehmer die Studie vorzeitig abbrechen. Um eine ausreichende Trennschärfe zu erreichen, müssten derartige Studien also sehr viele Teilnehmer einschließen und diese über lange Zeiträume untersuchen (4).
Falsches Studiendesign?
Wegen der beschriebenen grundsätzlichen Schwierigkeiten von klinischen Studien für präventive Fragestellungen bei Demenz wird häufig argumentiert, dass langfristige Beobachtungsstudien ein besseres Messinstrument sein könnten. Im Kontext der Demenzprävention mit Ginkgo biloba wird in diesem Zusammenhang in der Regel die PAQUID-Studie zitiert. Die französische Kohortenstudie untersuchte über einen Zeitraum von 20 Jahren den Zusammenhang zwischen verschiedenen Risikofaktoren wie Bildung, Rauchen oder Ernährungszustand und der Abnahme kognitiver Fähigkeiten beziehungsweise dem Auftreten einer Demenz. In einer der Datenanalysen untersuchten die Forscher den Einfluss von Ginkgo-biloba-Extrakt auf die kognitiven Fähigkeiten (5). Dabei verschlechterten sich die kognitiven Fähigkeiten in der Gruppe, die Ginkgo-biloba-Extrakt einnahm, weniger als in den Gruppen, die Piracetam oder keins der beiden Mittel einnahmen.
Ob sich dadurch jedoch ein präventiver Effekt im Hinblick auf eine Demenz für Ginkgo verlässlich ableiten lässt, ist aus mehreren Gründen fraglich. Zum einen ist unklar, ob die Abnahme der kognitiven Fähigkeiten tatsächlich das Auftreten einer Demenz sicher vorhersagen kann. Zum anderen besteht bei Beobachtungsstudien wegen der fehlenden Randomisierung immer die Gefahr, dass sich die untersuchten Gruppen in unbekannten, aber relevanten Eigenschaften unterscheiden, die Einfluss auf das Ergebnis haben. So könnte etwa die selbst gewählte Einnahme eines Ginkgo-Präparates ein Indikator für ein generell höheres Gesundheitsbewusstsein sein. Dann hätten die Teilnehmer in der Ginkgo-Gruppe einen unfairen Vorteil gegenüber den anderen Probanden. Damit wäre es dann unklar, ob die unterschiedlichen Ergebnisse in den Gruppen tatsächlich durch einen Nutzen von Ginkgo zustande kommen oder durch die ungleichen Ausgangsbedingungen. Die PAQUID-Studie lässt sich deshalb nicht als zuverlässiger Beleg für die Demenzprävention durch Ginkgo werten.
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Fazit
Bisher publizierte methodisch hochwertige Studien können nicht belegen, dass die Einnahme von Ginkgo wirksam eine Demenz verzögern oder verhindern kann. Die Untersuchungen schließen nicht aus, dass sich bei einer verbesserten Adhärenz oder bei Behandlung von Patienten im mittleren statt im höheren Alter möglicherweise doch ein Effekt zeigen könnte. Allerdings handelt es sich hierbei um Annahmen, die ihrerseits erst noch in aussagekräftigen klinischen Studien belegt werden müssen.
Wenn sich Kunden um ihre geistige Gesundheit sorgen, kann der Apotheker zwar kein nachgewiesen wirksames Mittel empfehlen, jedoch mit Beratungstipps weiterhelfen. Am aussichtsreichsten könnte es sein, bekannte Risikofaktoren für eine Demenz möglichst zu vermeiden. Dazu gehört etwa Rauchen. Präventive Effekte sollen von einer guten Schulbildung, reger geistiger und körperlicher Aktivität, guter sozialer Einbindung und einer ausgewogenen Ernährung mit reichlich Obst und Gemüse, Hülsenfrüchten und Nüssen, Olivenöl und Getreide sowie mehr Fisch statt Fleisch (mediterrane Ernährung) ausgehen. Zwar sind die Ergebnisse aus entsprechenden Studien mit erheblicher Unsicherheit behaftet und weitere Studien wären wünschenswert. In der Praxis wirken sich solche Lebensstilveränderungen jedoch auch auf weitere Bereiche der Gesundheit positiv aus, etwa im Hinblick auf Herz-Kreislauf-Erkrankungen (6, 7). Deshalb ist eine entsprechende Empfehlung trotz der Unsicherheit im Hinblick auf die Demenzprävention vermutlich sinnvoller als die Abgabe von Präparaten mit fraglicher oder nicht nachgewiesener Wirksamkeit.
Szenario
Herr Müller, ein Stammkunde, kommt in die Apotheke. Der ältere Herr ist 75 Jahre alt und soweit bei guter Gesundheit. Den Bluthochdruck hat er mit einem ACE-Hemmer gut im Griff. An diesem Tag ist er aber ungewöhnlich besorgt. Er erzählt, dass bei seinem besten Freund aus Schulzeiten eine Demenz diagnostiziert worden sei. Die Vorstellung, dass es ihn auch selbst treffen könnte, flößt ihm sichtlich Angst ein. Er fragt, ob es nicht etwas gibt, das ihn vor einer Demenz schützen kann. Wie sähe es denn zum Beispiel mit einem Ginkgo-Präparat aus, von dem er schon so viel Gutes gehört habe. /
Iris Hinneburg studierte Pharmazie an der Philipps-Universität Marburg und wurde an der Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg promoviert. Nach Tätigkeiten in Forschung und Lehre in Halle und Helsinki (Finnland) arbeitet sie heute freiberuflich als Medizinjournalistin und Fachbuchautorin. Außerdem produziert sie einen Podcast mit Themen zur evidenzbasierten Pharmazie und engagiert sich im Deutschen Netzwerk Evidenzbasierte Medizin.
Dr. Iris Hinneburg
Wegscheiderstraße 12
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Internet: www.medizinjournalistin.blogspot.com
Judith Günther studierte Pharmazie an Universität des Saarlandes in Saarbrücken und promovierte an der Universität Köln. Nach Tätigkeiten bei der gesetzlichen Krankenversicherung und dem Wissenschaftlichen Institut der AOK (WIdO) leitet sie seit 2002 bei der PharmaFacts GmbH diverse Projekte. Sie ist Fachapothekerin für Arzneimittelinformation und Mitglied des Deutschen Netzwerks für Evidenzbasierte Medizin und dort Sprecherin des Fachbereichs Evidenzbasierte Pharmazie.
Dr. Judith Günther
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Literatur