Nasses Erwachen im Kinderzimmer |
08.01.2007 13:49 Uhr |
Nasses Erwachen im Kinderzimmer
Von Sabine Schellerer
Schon immer ist es bekannt und doch stets missverstanden und verpönt: das nächtliche Bettnässen. Dabei handelt es nicht, wie vielfach angenommen, um Bosheit, Schlamperei oder »weggedrückte Tränen« als vielmehr um ein ernstes Gesundheitsproblem, dem sich die Geplagten schutzlos ausgeliefert sehen. Beratung tut not.
Inzwischen hat die Weltgesundheitsorganisation das nächtliche Problem als psychiatrische Diagnose nach ICD-10 eingestuft. Wenngleich die Definition der WHO in vielen Punkten nicht mehr zeitgemäß ist, zeigt sie doch, dass Experten das Problem heute ernst nehmen.
Nacht für Nacht passiert es in Tausenden von Kinderzimmern: Das Bett wird ungewollt nass, es »schwimmt«. 600.000 Sprösslinge über fünf Jahre sind allein in Deutschland betroffen. Die Prävalenz ist auf der ganzen Welt etwa gleich. Die Statistik spricht von knapp 16 Prozent der Fünfjährigen, rund 10 Prozent der Siebenjährigen, gut 7 Prozent der Achtjährigen, 2,5 Prozent der Zehnjährigen und ein bis zwei Prozent der Jugendlichen. Selbst etwa ein Prozent der Erwachsenen haben Probleme mit der Blasenkontrolle im Schlaf (1).
Interessanterweise passiert das Malheur mehr Jungen als Mädchen und zwar im Verhältnis 1,5 bis 2 zu 1. Angesichts solcher Zahlen wundert es kaum, dass die Enuresis direkt hinter Asthma die zweithäufigste Gesundheitsstörung im Kindesalter ist. Dabei kommt es wesentlich öfter vor, dass das nasse Unglück nachts widerfährt als tagsüber (Enuresis nocturna versus E. diurna) (2).
Enuresis bezeichnet eine normale vollständige Blasenentleerung am falschen Platz und zur falschen Zeit. Dagegen ist eine Harninkontinenz gekennzeichnet durch einen ungewollten Harnabgang mit Blasendysfunktion. Diese kann strukturell, neurogen oder funktionell bedingt sein (7).
Was später einmal wie selbstverständlich abläuft, zählt zu einer der bedeutendesten sozialen Fertigkeiten, die ein Kleinkind mehr oder weniger mühevoll erlernen muss (3): die Blase zu kontrollieren.
Etwa vier Jahre dauert es, bis die perfekte Koordination dieses Speicherorgans heranreift. In den ersten sechs Lebensmonaten kontrollieren subkortikale und unwillkürliche Mechanismen das ballonartige Organ; ist es voll, entleert es sich von selbst. So lassen junge Säuglinge alle ein bis zwei Stunden etwa 30 ml Urin ab. Im Alter von sechs Monaten bis zu einem Jahr werden die Miktionen seltener und betragen dann bis zu 60 ml.
Blasenkontrolle wie im Schlaf
Zwischen einem und zwei Jahren nimmt das Kind zunehmend bewusst wahr, wenn es pressiert und ist langsam in der Lage, den Harndrang zu verbalisieren. Doch obwohl die Entleerung nun koordiniert erfolgt und Volumina bis zu 100 ml erreicht, ist der Detrusor nach wie vor instabil und kontrahiert sich von selbst. Erst zwischen zwei und vier Jahren reift die bewusste willkürliche Kontrolle heran; jetzt kann das Kind Miktionen hinauszögern oder von selbst initiieren (4, 5).
Die Blase ist ein Hohlorgan aus glatter Muskulatur (Detrusor), in dem Urin gespeichert wird. Die Kontinenz zwischen den Miktionen erreichen drei Schließmuskelgruppen: der interne Sphinkter urethrae, der externe Sphinkter urethrae und der Beckenboden mit seinen verschiedenen trichterförmig nach unten gewölbten Skelettmuskeln.
Die neuronale Steuerung ist komplex und umfasst parasympathische, sympathische und somatische Innervationen. Das zentrale Nervensystem koordiniert die Innervation der Blase im sogenannten Miktionszentrum, im frontalen Kortex und im Hypothalamus. Bei der reifen autonomen Blasenregulation erhalten Neurone im sakralen Spinalmark afferente Signale der Blase, antworten auf Dehnung oder Kontraktion und projizieren zum Blasenzentrum, das wiederum vom Kortex moduliert wird. Mediale exzitatorische Neurone des pontinen Zentrums bewirken eine Aktivierung des Parasympatikus mit folgender Blasenkontraktion, laterale inhibitorische Neurone eine Blasenrelaxation und Sphinkterkontraktion. Typisch für eine reife Blasenfunktion ist ein langsamer Druckanstieg ohne Kontraktion während der Blasenfüllung und eine koordinierte Entleerung.
Fachleute definieren eine Enuresis nocturna als wiederholtes unwillkürliches Einnässen ab einem Alter von fünf Jahren, wenn organische Grunderkrankungen und medizinische Ursachen ausgeschlossen wurden, sich tagsüber keine vergleichbaren Vorfälle ereignen und auch die Blase sonst normal funktioniert. Nach klinischen Erfahrungen scheint es sinnvoll, erst dann von einer Enuresis nocturna zu sprechen, wenn das Problem mindestens über drei Monate hinweg einmal pro Woche auftritt (1); in anderen Quellen geben Autoren Häufigkeiten mit zweimal pro Woche (DSM-IV) bis einmal pro Monat (ICD-10-Forschungskriterien) ebenfalls über drei Monate hinweg an.
Ein einmaliges Einnässen nach einem Umzug oder einem aufregenden Kindergeburtstag reicht für die Diagnose nicht aus. Auch wenn ein bockiges Kleines willkürlich einnässt, ist der Begriff Enuresis fehl am Platz.
Wie schwerwiegend das feuchte Ärgernis ist, machen die AWMF-Leitlinien (7) an der Häufigkeit der nassen Nächte/Tage pro Woche, der durchschnittlichen Häufigkeit des Einnässens pro Nacht, der Einnässmenge und der subjektiven Beeinträchtigung des Kindes fest.
Drei Viertel der jungen Patienten quält ein persistierendes Einnässen; sie sind niemals wirklich trocken gewesen. Hier spricht der Experte von einer primären Enuresis. War ein Knirps hingegen bereits mindestens sechs Monate lang trocken und macht dann erneut ins Bett, handelt es sich um eine sekundäre Enuresis. In diesem Fall spielen vermutlich psychische Ursachen die Hauptrolle, denn das Kind reagiert mit dem erneuten Einnässen oft auf gravierende Veränderungen in seinem Leben. Psychische Ursachen spielen dagegen bei der primären Enuresis nur eine untergeordnete Rolle.
Reifestörungen im ZNS
Eine Fülle empirischer Untersuchungen zeichnet heute ein zunehmend differenzierteres Bild dessen, was sich beim Einnässen abspielt und warum es überhaupt so weit kommt. Ganz sicher fehl am Platz sind Einschätzungen wie »die Blase weint«. Drei medizinische Fachrichtungen beschäftigen sich mit der Enuresis: Kinderurologen, Pädiater und Kinderpsychiater.
In puncto Pathophysiologie und Ätiologie liegt vieles noch im Dunklen. Lange Zeit mussten die Seele oder eine allzu strikte Sauberkeitserziehung als Erklärungen herhalten. Heute ist man schlauer. Viel geht auf das Konto der Erbmasse. Lediglich 15 Prozent der Kinder sind mit ihrem Leiden allein in der Familie. Bei 60 bis 80 Prozent der jungen Patienten stößt man in der Familienchronik auf ähnliche Vorfälle, besonders bei Verwandten ersten Grades. Schlimm sieht es für Sprösslinge betroffener Eltern aus: 44 Prozent nässen ein, wenn ein Elternteil in jungen Jahren selbst damit zu kämpfen hatte, und sogar 77 Prozent, wenn Vater und Mutter betroffen waren. Auch die Zwillingsforschung spricht von hoher Übereinstimmung, gerade bei eineiigen Geschwistern. Der Erbgang verläuft meist autosomal-dominant mit einer 90-prozentigen Penetranz. Experten lokalisierten mehrere Gendefekte auf verschiedenen Chromosomen (8q, 12q, 13q, 22q) (8, 1).
Zur Pathogenese existiert eine Reihe interessanter Hypothesen. Neurobiologen gehen davon aus, dass auf dem Boden einer genetischen Disposition bestimmte Bereiche des Zentralnervensystems unvollständig reifen. Dieses Defizit retardiert die Reflexmiktion auf der Stufe einer frühkindlichen Entwicklung. Zwei mögliche Funktionsstörungen können in diesem Zusammenhang das nächtliche Unglück auslösen. So kann der Mechanismus im pontinen Miktionszentrum im Hirnstamm, der den Blasenentleerungsreflex adäquat unterdrücken soll, fehlschlagen oder der Patient wacht nicht auf, obwohl die Blase randvoll ist; diese Störung muss man im Locus coeruleus suchen. Beide Zentren liegen anatomisch nah beieinander und sind funktionell verbunden.
Dass sich Einnässer nur mit Mühe aufwecken lassen, berichten viele Eltern; standardisierte Weckversuche bestätigen dies. So ließen sich nur neun Prozent einnässender junger Probanden mit Lautstärken bis 120 Dezibel aus dem Schlaf reißen (1). Schlafuntersuchungen, auch solche mit EEG-Ableitungen, bescheinigen den Patienten eine unauffällige Schlafarchitektur; das Einnässen kann grundsätzlich in jedem Non-REM-Stadium auftreten und zwar meist im ersten Drittel der Nacht, wenn man von Haus aus tiefer schläft, selten hingegen in einer Traumphase (REM). Während in den oberen Schichten der Hirnrinde nichts Besonderes abläuft, fanden Wissenschaftler bei der Untersuchung des Hirnstamms, wo sich die Zentren für die Blasenkontrolle befinden, deutliche Auffälligkeiten, die sie klar als Reifeverzögerung ansahen (4).
Einen weiteren Hinweis auf eine Reifestörung des zentralen Nervensystems lieferte erst kürzlich eine Studie (10). Danach fallen bestimmte motorische Fähigkeiten wie rasch aufeinanderfolgende Hand- oder Fingerübungen einnässenden Kindern ungleich schwerer als ihren gesunden Altersgenossen. Die Forscher folgern, dass die Reifestörung wohl weiter reicht als bislang angenommen. Möglicherweise seien sogar Bereiche über den Hirnstamm hinaus bis hin zu den motorischen Schaltkreisen in der Hirnrinde und angeschlossenen kortikalen Arealen beeinträchtigt.
Im Gegensatz zur Enuresis diurna ist die Liste an organischen Störungen bei der nächtlichen Form nicht allzu lang. Dennoch ist eine genaue Untersuchung nötig. Bei den neurogenen Störungen sind zum Beispiel eine Blasenfunktionsstörung bei Spina bifida zu nennen oder ein »Tethered Cord Syndrome«, das durch ein unter Spannung stehendes Filum terminale im Sakralmark bedingt ist. Strukturelle Störungen betreffen die Harnröhrenklappen; Fehlanlagen wie ektop mündende Urether bedingen ein Harnträufeln. Andere Ursachen sind mitunter ein Diabetes mellitus, Diabetes insipidus oder eine Polyurie durch progrediente Niereninsuffizienz, ganz selten ein Harnwegsinfekt (13).
Hormone aus dem Takt
Das antidiuretische Hormon ADH (Vasopressin) steuert den Wasserhaushalt im Organismus und spielt in puncto Blasenfüllung eine wichtige Rolle. Produziert wird das Hormon in einem circadianen Rhythmus von der Hirnanhangdrüse (Hypophyse). Nachts schüttet die Hypophyse mehr Vasopressin aus, das die Harnbildung zurückdrängt. Nicht so beim Enuretiker; hier ist die physiologische Rhythmik gestört und auch während der nächtlichen Ruhepause halten sich die ADH-Spiegel in Grenzen. Folglich läuft die Blase nachts randvoll und zwar mit verhältnismäßig niederosmolarem Urin (Polyurie) (9).
Das Ganze hat nichts mit einem Vasopressin-Mangel zu tun (1). Außerdem trifft die ADH-Hypothese nicht bei allen Betroffenen zu und reicht nie als alleinige Ursache aus. Auch Aldosteron und Angiotensin II scheinen bei enuretischen Kindern aus dem Takt zu geraten, wie eine neue dänische Studie an 15 bettnässenden und zehn gesunden Kindern zeigte (19).
Viele junge Patienten leiden zugleich an einer obstruktiven Schlafapnoe mit starkem Schnarchen und vergrößerten Rachenmandeln (12). Nach Entfernung der Gaumen- oder Rachenmandel (Tonsillektomie oder Adenoidektomie) verschwindet die Enuresis oft wie von selbst (21). Bei einer Schlafapnoe spielt wohl zudem eine erhöhte Produktion von atrialem natriuretischen Peptid (ANP) mit. Das Hormon wirkt unter anderem an der Niere. Über eine Hemmung der renalen Na+/K+-ATPase vermindert es die Natriumrückgewinnung und führt damit zu einer erhöhten Natriumausscheidung. Da Natrium osmotisch aktiv ist, folgt Wasser nach, was wiederum die Harnmenge erhöht (11).
Ob eine reduzierte Blasenkapazität mit im Spiel ist, diskutieren Fachleute kontrovers. Nach neuesten Erkenntnissen erscheint dies bei einer monosymptomatischen Enuresis nocturna eher unwahrscheinlich. Ebenso stufen Forscher die Hypothese einer erhöhten renalen Calcium-ausscheidung als wenig plausibel ein (18).
Psychisch belastet
Im Alltag fallen einige Patienten durch merkwürdige Verhaltensweisen auf. Die Rate auffälliger Sprösslinge ist im Vergleich zu gesunden Altergenossen etwa zwei- bis vierfach erhöht. Allerdings besagt die Statistik auch, dass sich die meisten Einnässer vollkommen normal verhalten. Und wer genau beobachtet, sieht, dass sich viele Auffälligkeiten erst im Zuge einer Enuresis entwickelt haben und nicht umgekehrt.
Eine komorbide psychische Erkrankung tritt meist bei der sekundären Form zutage. Hier finden Ärzte eine signifikant höhere Rate von kinderpsychiatrischen ICD-10-Diagnosen (75 Prozent im Vergleich zu 19,5 Prozent bei einer primären Enuresis nocturna) (4). Während bei Kindern mit primärer Enuresis überwiegend expansive Störungen wie Störungen im Sozialverhalten oder ein hyperkinetisches Syndrom zu Buche schlagen, machen Kasuistiken deutlich, dass bei der sekundären Form emotionale Störungen vorherrschen. Diese Kinder müssen auch vermehrt belastende Lebensereignisse verarbeiten, an vorderster Front Scheidung oder Trennung der Eltern, Geburt eines Geschwisterkindes, aber auch Disharmonien zwischen Vater und Mutter, psychische Störungen eines Elternteils und eine inadäquate, verzerrte intrafamiliäre Kommunikation.
Mit Verständnis zum Ziel
Repräsentative Studien bescheinigen Bettnässern ein signifikant niedrigeres Selbstwertgefühl. Der Leidensdruck macht manchem Patienten und seiner Familie den Alltag zur Hölle. Zwei Drittel der Eltern fühlen sich stark belastet.
Kinder, die dazu angehalten werden, ihre Gefühle aufs Papier zu bringen, zeichnen sich selbst traurig. Direkt gefragt nennen sieben von zehn Betroffenen griffige Nachteile. Sie leiden beispielsweise darunter, nie bei Freunden übernachten zu können. Schulausflüge seien ein Graus, man schäme sich, sei verärgert, fühle sich anders und versuche, das Problem um jeden Preis zu verheimlichen.
Das Problem selbst ist altbekannt und seit jeher gibt es eine Fülle von Therapievorschlägen. Schon 1552 v. Chr. schlägt das ägyptische Papyrus Ebers vor, dem nassen Ärgernis mit Wacholderbeeren in warmen Bier aufgelöst zu Leibe zu rücken. Der Italiener Paulus Bagellardus (1472) widmet der Enuresis in dem wohl ersten Buch zur Kinderheilkunde ein ganzes Kapitel (6). Seine skurrilen Ratschläge reichen von lebendig gekochten Mäusen über Einläufe bis hin zu harten körperlichen Strafen. Ganz schlimm wird es im 19. Jahrhundert. Hier interpretierte man Einnässen als willentliche Bosheit des Kindes, die man wie das Onanieren mit harten Strafen und sadistischen Maßnahmen bedachte. Erst im 20. Jahrhundert beginnen Experten, der Enuresis empirisch auf den Grund zu gehen. Doch auch heute noch schlagen sich viele Familien alleine mit den nassen Nächten herum und wissen nicht, dass und wo sie Rat und Hilfe finden können. Ein einfühlsames Gespräch in der Apotheke kann dann den Weg zum Kinderarzt oder zu einer Selbsthilfegruppe weisen.
Die Studienlage zur Evidenz der heutigen Behandlungsmethoden ist schlecht. Es gibt nur wenige Quellen, die die einzelnen Behandlungsschritte miteinander vergleichen (14). Auch ist nicht eindeutig geklärt, wann eine Therapie beginnen soll (4). Orientieren sollte sich der Arzt immer am individuellen Kind und dessen Angehörigen; so ist es nicht sinnvoll, eine Therapie bei offensichtlichem Leidensdruck oder starker Belastung der Familie hinauszuzögern.
Geduld und Verständnis sind zunächst die besten Ratgeber. Grundfeste jeder Behandlung ist eine eingehende Beratung der Familie. Der Experte sollte alle Beteiligten über die Natur des Bettnässens inklusive Anatomie und Funktion der Ausscheidungsorgane aufklären und dabei auch ganz behutsam nach psychosozialen Belastungen fahnden. Viele Eltern entlastet es bereits, wenn sie erfahren, dass andere mit den gleichen Problemen kämpfen. Nie verkehrt sind praktische Tipps wie das Besorgen eines Nässeschutzes fürs Bett oder waschbarer Bettdecken. Diese Hinweise kann auch die Apotheke geben.
Die Behandlung sollte streng symptomorientiert und auf die individuellen Bedürfnisse des Kindes zugeschnitten sein. In komplizierten Fällen, etwa bei Begleiterkrankungen, gilt es, eine klare Reihenfolge einzuhalten, also eine Tagesproblematik oder begleitende Miktionsauffälligkeiten, aber auch eine Enkopresis (Einkoten) zuerst zu behandeln. Eine psychiatrische Symptomatik wie ein hyperkinetisches Syndrom erfordern zusätzlich eine gezielte Psychotherapie.
Ziel jeder Therapie ist grundsätzlich die vollständige und dauerhafte Beseitigung des Problems. Normalerweise genügt eine ambulante Behandlung; nur in Sonderfällen brauchen die Kinder eine intensivere Betreuung in der Tagesklinik oder vollstationär im Krankenhaus.
Behandeln ohne Rute
Vorwürfe, Tadel oder Strafen sind bei bettnässenden Kindern absolut fehl am Platz. Kaum ein Kind macht absichtlich ins Bett. Die meisten wollen möglichst schnell trocken werden und brauchen Unterstützung auf diesem Weg.
Am Beginn stehen einfache Maßnahmen wie ein Sonne-Wolken-Kalender, in den die Kinder regelmäßig die nassen und trockenen Nächte eintragen. Diese Protokolle sind bei den meisten Kindern beliebt und wecken Aufmerksamkeit für den anstehenden Lernschritt. Die spontane Remissionsrate bei einer Enuresis nocturna beträgt etwa 13 Prozent pro Jahr (1). Allgemeine entlastende Maßnahmen sind bei etwa jedem fünften Kind nach ein paar Wochen von Erfolg gekrönt (1). Die sogenannte Baseline-Therapie setzt auf die intensive Information und Beratung von Eltern und Kind, um Motivation und Mitarbeit zu stärken. In dieser Phase ist es besonders hilfreich, die Ursachen für das Übel zusammen mit Betroffenen und Angehörigen herauszuarbeiten und die Blasenfunktion und Pathologie der Pein zu erklären. Der Arzt wird ihnen zudem begreiflich machen, dass sie nicht allein auf weiter Flur stehen und dass weder Schuld, Unvermögen noch psychische Störungen mit im Spiel sind. Wissen und Verständnis sind unabdingbare Begleiter für eine erfolgreiche Therapie.
Für die meisten Fachleute ist die apparative Verhaltenstherapie (AVT) die effektivste Maßnahme. Dabei werden Bett oder Kind mit einem Alarmgerät in Form einer Klingelmatte oder -hose ausgerüstet. Jedes Tröpfchen auf einen Feuchtigkeitsfühler schließt einen Stromkreis und löst damit ein lästiges Klingeln aus. Dadurch wird das Kind im Moment des Einnässens oder kurz danach geweckt und geht zur Toilette (oder wird von den Eltern dorthin geschickt). Der Fühler ist sensitiv genug, um zwischen Urin oder Schweiß zu unterscheiden.
Keiner weiß genau, wie das Prinzip funktioniert. Der Alarm scheint soziale und motivationale Faktoren miteinander zu koppeln (4). Man vermutet, dass hier ein komplexes Lernprogramm abläuft. Vermutlich spielt ein konditioniertes Vermeidungsverhalten des Kindes auf den aversiven Stimulus »Klingeln« genauso eine Rolle wie eine Retention und Erweiterung der funktionellen Blasenkapazität. Machen die Anwender alles richtig, belohnt sie eine hohe Erfolgsquote; Kinder mit Alarm werden 13-mal wahrscheinlicher trocken als ihre Altersgenossen ohne diese Maßnahme (16). Einer Cochrane-Metaanalyse zufolge blieb etwa die Hälfte der kleinen Probanden auch nach der Alarm-Ära dauerhaft frei von nächtlichem Nass, während diesen Erfolg nur ein einziges Kind in der Kontrollgruppe schaffte (15).
Flüssigkeitsrestriktion: Mit Sicherheit sollten Kinder abends keine koffeinhaltigen Getränke zu sich nehmen. Ansonsten bedeutet das Verwehren von Flüssigkeit nur eine Quälerei, hat aber keinen positiven Effekt.
Wecken: Empirische Untersuchungen konnten zeigen, dass nächtliches Wecken zwar die Einnässfrequenz reduziert, aber keine bleibende Trockenheit erreicht.
Blasentraining: Bei echter Enuresis nocturna nicht indiziert, da es sich nicht um eine Blasenfunktionsstörung handelt. Es besteht sogar die Gefahr, dass man dem Kind eine Dyskoordination antrainiert.
Selbstmedikation: Wenig effizient sind Teemischungen, Sitzbäder, Salben am Bauch, Einreiben der Oberschenkelinnenseiten mit Johanniskrautöl, pflanzliche und homöopathische Mittel.
Medikamente: Benzodiazepine, Phenobarbital, Anticholinergika oder Dibenzyran sind nicht effektiv und kontraindiziert. Oxybutynin lohnt sich nur, wenn eine Inkontinenz aufgrund einer Detrusorüberaktivität vorliegt, ist aber keine primäre Option bei einer primären monosymptomatischen Enuresis nocturna. Zudem ist der Nutzen nicht hinreichend belegt bei gleichzeitiger Gefahr schwerer Nebenwirkungen (20).
Belohnungen: Prinzipiell ist gegen Belohnung nichts einzuwenden. Wichtig ist, dass Mitarbeit und Motivation mit kleinen Verstärkern belohnt werden und nicht die Trockenheit an sich, denn bei Misserfolgen ist Frustration des Kindes sonst groß.
Strafen: Strafen, sichtliche Enttäuschung der Eltern bei Misserfolg oder Bloßstellen vor anderen schwächen das Selbstvertrauen des Patienten. Dies ist nicht nur sinnlos und kontraproduktiv, sondern erniedrigt das Kind.
nach (1, 4)
Zur Dauer der AVT gibt es verschiedene Ansichten. Als Anfangserfolg gelten 14 trockene Nächte in Folge. Die Alarmtherapie wird meist über mindestens acht bis zehn, maximal 16 Wochen durchgeführt. Von einem kompletten Erfolg spricht man, wenn kein Rückfall (zwei nasse Nächte pro Woche) innerhalb von zwei Jahren eintritt (7).
Gekoppelt mit einem sogenannten Verstärker schneidet eine AVT hinsichtlich der Rückfallquote noch besser ab. Hier empfehlen Experten das Arousal-Training (das Kind erhält eine Belohnung, wenn es aufsteht und aktiv kooperiert), das Dry-Bed-Training, ein effektives, aber aufwendiges und komplexes Trainingsprogramm, oder die Kombination der AVT mit Desmopressin (7).
Medikamente helfen schnell
Arzneimittel, an erster Stelle Desmopressin, sind indiziert, wenn andere Methoden nicht greifen, bei familiären oder sonstigen Belastungen, die eine aufwendige AVT erschweren, oder wenn schneller Erfolg nötig ist, zum Beispiel vor Schulausflügen oder Übernachtung bei Freunden. Zwar wirken die Medikamente meist recht gut (70 Prozent Responder), doch kehrt die Symptomatik nach Absetzen der Medikation meist unverändert zurück.
Desmopressin ist ein synthetisches Strukturanalogon des antidiuretischen Hormons ADH und wird als Antidiuretikum zum Beispiel bei Diabetes insipidus und Enuresis eingesetzt. Das Vasopressin-Analogon erhöht wie ADH die Wasserrückresorption aus dem Primärharn und reduziert dadurch die Endharnbildung. Wissenschaftler wiesen das Hormon ADH in mehreren Hirnregionen nach und beschrieben seine Funktion als Neurotransmitter. 3H-markiertes Desmopressin selbst tauchte zum großen Teil in Niere und Darm auf, aber auch zu etwa fünf Prozent in der Adenohypophyse. Andere Forscher entdeckten den Stoff nach nasaler Gabe im Liquor cerebrospinalis.
Etwa vier Wochen dauert es, bis sich die individuelle Dosis für den Patienten herausgestellt hat; im Mittel sind dies 0,2 bis 0,4 mg peroral oder 10 bis 40 µg nasal am Abend. Bei Erreichen von Trockenheit setzt man die Therapie weitere vier bis acht Wochen lang mit der niedrigsten erforderlichen Dosierung fort. Ein erster Absetzversuch lohnt sich nach etwa zwölf Wochen. Bei vielen Kindern scheint die intranasale Applikation besser anzuschlagen, ist aber weniger beliebt. Die Wirkung tritt sehr schnell nach der Applikation ein.
Nur selten haben die Patienten mit Nebenwirkungen zu kämpfen, schlimmstenfalls aber mit einer gefürchteten Hyponatriämie mit Wasserintoxikation. Daher darf in der Beratung keinesfalls der Hinweis fehlen, dass die Kinder ab einer Stunde vor bis acht Stunden nach der Anwendung von Desmopressin nur bei quälendem Durst trinken dürfen. Auch eine übermäßige Aufnahme von Flüssigkeit während der Behandlung (Achtung: Schwimmsport; hier besteht die Gefahr, dass die jungen Patienten viel Wasser schlucken) ist gefährlich. Bei Erbrechen und Durchfall muss man die Anwendung solange unterbrechen, bis der Flüssigkeitshaushalt wieder im Lot ist, außerdem bei Kopfschmerzen, Gewichtszunahme, Krämpfen und selbstverständlich Koma. Dies sind alles Anzeichen einer Wasserretention mit oder ohne Hyponatriämie (17).
Imipramin (und andere trizyklische Antidepressiva) haben einen eindeutigen antidiuretischen Effekt, wohl unter anderem durch Vasopressin-Freisetzung. Weitere postulierte Mechanismen sind der Einfluss auf Schlaftiefe und Erweckbarkeit sowie modulierende Effekte auf die Innervation der Blase (5). Imipramin wirkt meist schon in der ersten Woche. Dennoch halten sich Mediziner mit der Verordnung eher zurück, wurden doch neben Halluzinationen und Alpträumen auch ernste kardiale Probleme sogar mit Todesfolge beschrieben. Erforderlich sind eine genaue körperliche Untersuchung mit Familienanamnese vor der Verordnung und mindestens drei EKG-Ableitungen (vor und während der Aufsättigungsphase und während des Steady-States).
Wer es sich früher leicht gemacht hat, muss umdenken. Eine Enuresis nocturna hat mit unterdrückten Tränen oder einer reinen Blasenfunktionsstörung nichts zu tun, sondern ist ein kompliziertes Krankheitsbild, bei dem mannigfaltige somatische und psychische Faktoren ineinandergreifen. Dies macht die Therapie nicht leicht. Vielmehr brauchen Patient und Angehörige viel Zeit, gepaart mit Geduld, Motivation und Compliance. Dann aber hat das Kind gute Chancen, dauerhaft trocken zu werden.
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Sabine Schellerer studierte in München Pharmazie und erhielt 1993 ihre Approbation. Von 1994 bis 2000 arbeitete sie am Institut für Rechtsmedizin der Universität München an ihrer Promotion und war während dieser Zeit auch in öffentlichen Apotheken tätig. Anschließend absolvierte sie eine Ausbildung zur Fachzeitschriftenredakteurin sowie Praktika in mehreren Verlagen. Seit Mitte 2002 ist Dr. Schellerer freiberuflich als Wissenschafts- und Medizinjournalistin tätig. Derzeit lebt und arbeitet sie in Kuala Lumpur.
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