Wenn Arzneimittel Nerven schädigen |
Periphere Neuropathien gehören zu den häufigsten dosislimitierenden Nebenwirkungen onkologischer Therapien. Ein Hauptverursacher ist das Vinca-Alkaloid Vincristin, das unter anderem ein wichtiger Bestandteil der Behandlung pädiatrischer Malignome wie der akuten lymphoblastischen Leukämie (ALL) ist.
Vincristin hemmt die Mitose, indem es die Mikrotubuli-Polymerisation stört. Was bei der Krebsbekämpfung erwünscht ist, kann im Nervensystem zum Problem werden: Bis zu 96 Prozent der behandelten Kinder entwickeln eine periphere Neuropathie, wobei schwere Verläufe bei mehr als einem Drittel auftreten.
Die Neuropathie beginnt typischerweise an den unteren Extremitäten und schreitet proximal, also in Richtung der Körpermitte, fort. Klinisch äußert sie sich durch Parästhesien, Hypästhesie gegenüber Berührung, Vibration und Temperatur, abgeschwächte Reflexe sowie teils erhebliche Schmerzen. Auch motorische und autonome Symptome wie Kraftverlust, Obstipation oder orthostatische Hypotonie können auftreten (zu autonomen Neuropathien siehe Kasten). Das Risiko steigt mit höheren Einzeldosen und kumulativer Gesamtdosis. Die Pathogenese ist nicht abschließend geklärt.
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Die autonome Neuropathie betrifft das vegetative Nervensystem, also jene Nervenbahnen, die lebenswichtige Funktionen wie Herzschlag, Blutdruckregulation und Blutzuckerhaushalt unbewusst steuern (23). Auch die Steuerung von Verdauung und Blasenfunktion, Schweißsekretion, Pupillenreaktion auf Lichtreize sowie Prozesse im Sexual- und Reproduktionssystem werden vegetativ gesteuert.
Entsprechend breit gefächert ist das klinische Bild einer autonomen Neuropathie. Die Symptome können nahezu jedes Organsystem betreffen – eine oft erhebliche Einschränkung der Lebensqualität und hohe seelische Belastung.
Besonders häufig ist das Herz-Kreislauf-System betroffen, etwa durch inadäquaten Pulsanstieg bei Belastung, dauerhafte Tachykardie in Ruhe oder orthostatische Hypotonie. Schmerzempfindungen können vermindert sein. So kann zum Beispiel ein Herzinfarkt unbemerkt bleiben.
Im Magen-Darm-Trakt führen gestörte Bewegungsabläufe zu Symptomen wie Gastroparese, Übelkeit, Erbrechen, Völlegefühl, chronische Obstipation und nächtliche Durchfälle. Auch die Blasenentleerung kann gestört sein. Unvollständige Entleerung, Harnwegsinfekte oder Inkontinenz sind die Folge.
Die Schweißdrüsen können paradox reagieren: Manche Patienten schwitzen nachts stark, aber tagsüber kaum, was das Risiko der Überhitzung erhöht.
Auch die Sexualfunktion leidet häufig. Männer entwickeln Erektions- und Ejakulationsstörungen, Frauen berichten über verminderte Erregbarkeit und Orgasmusstörungen.
Auch andere chemotherapeutische Substanzen zeigen ein neurotoxisches Potenzial. So verursachen Platinverbindungen wie Cisplatin und Oxaliplatin chronisch sensible Neuropathien mit einer Inzidenz von bis zu 40 Prozent. Charakteristisch ist das sogenannte Coasting-Phänomen. Das bedeutet, dass eine klinische Verschlechterung nach Therapieende eintritt, weil die Schädigungsprozesse fortbestehen.
Viele Tumortherapeutika haben ein neurotoxisches Potenzial. / © Getty Images/Steve Weaver, Canterbury, UK
Bortezomib und Thalidomid werden vor allem beim Multiplen Myelom eingesetzt und führen dosis- und therapiedauerabhängig zu überwiegend sensiblen Neuropathien mit Inzidenzen von bis zu 70 Prozent. Auch Taxane wie Paclitaxel und Docetaxel, die bei soliden Tumoren eingesetzt werden, führen häufig zu DIPN. Risikofaktoren sind höhere Dosierungen und die Kombination mit Platinpräparaten.
Die Risikofaktoren variieren je nach Wirkstoff: Während etwa bei Brentuximab keine klassischen Risikofaktoren identifiziert wurden, erhöhen Alter, Diabetes, Rauchen und vorbestehende Neuropathien das Risiko bei Taxanen (3, 5, 6).