Wenn Arzneimittel Nerven schädigen |
Die pathophysiologischen Mechanismen der DIPN sind vielfältig und noch nicht vollständig erforscht (3). Häufig werden die Mitochondrien geschädigt, die für die Energieversorgung der Neuronen wichtig sind. Einige Zytostatika wie Cisplatin und Paclitaxel sowie Antibiotika wie Linezolid greifen die mitochondriale DNA an oder beeinträchtigen die Atmungskette. Das führt zu einem Energiemangel in den Axonen und zur axonalen Degeneration.
Arzneistoffe können auch direkt oder über Metabolite die Bildung reaktiver Sauerstoffspezies fördern, die zelluläre Membranen, Proteine und DNA schädigen. Vincristin löst beispielsweise oxidativen Stress in peripheren Nerven aus, ebenso einige antiretrovirale Substanzen der älteren Generation.
Vinca-Alkaloide und Taxane wirken auf die Mikrotubuli, die für den axonalen Transport gebraucht werden und der Zelle Stabilität verleihen. Die Störung des Mikrotubuli-Netzwerks führt zu einem »Stau« von Organellen und Neurotransmittern. Eine axonale Degeneration, vor allem der sensiblen Nervenfasern, ist die Folge.
Andere Zytostatika wie Cisplatin verursachen DNA-Addukte, die zur Apoptose führen können. Auch Immunmodulatoren wie Thalidomid zeigen neurotoxische Wirkungen durch apoptotische Mechanismen.
Manche Arzneimittel lösen Immunreaktionen aus, die sich gegen Strukturen des peripheren Nervensystems richten. Zytostatika mit endotheltoxischen Eigenschaften können Mikroangiopathien verursachen, die die periphere Nervenversorgung stören.
Für die Behandlung einer arzneimittelinduzierten Polyneuropathie ist eine sorgfältige Diagnostik wichtig, um andere Ursachen für die Nervenschäden auszuschließen (2, 4) (Tabelle 2). Hier ist zum Beispiel an Diabetes mellitus zu denken, da Nervenschäden entstehen, wenn die Blutzuckerwerte langfristig schlecht eingestellt sind.
Subtyp der PNP | Beschreibung, Pathophysiologie | Klinisches Bild, Symptome | Interventionen |
---|---|---|---|
diabetisch | häufigste Form weltweitMikroangiopathie, gestörter Mitochondrienstoffwechsel | distal-symmetrische sensible PNP, Schmerzen, Parästhesien, selten motorisch, autonome Symptome | Lebensstil, optimale Diabeteseinstellung, Schmerztherapie, Fußpflege |
Alkohol-assoziiert | bis zu 66 Prozent der Personen mit chronischem Alkoholismustoxische Wirkung von Ethanol/Acetaldehyd, Mangelernährung (vor allem B-Vitamine), oxidativer Stress | sensible Ausfälle, Schmerzen, später Paresen, vegetative Symptome | Abstinenz, Ernährungstherapie, eventuell B-Vitamin-Substitution |
Chemotherapie-induziert | häufig zum Beispiel bei Oxaliplatin, Vincristin, Taxanen, BortezomibNeurotoxizität vermittelt durch verschiedene Mechanismen | Schmerzen, sensible Ausfälle, motorisch bei schweren Formen, Coasting-Phänomen | Dosisanpassung, Absetzen der Substanz, symptomatisch |
toxisch (nicht chemotherapeutisch) | Medikamente, zum Beispiel Isoniazid, Umweltgifte, zum Beispiel Schwermetalle | sensomotorische Ausfälle, meist distal, Schmerzen, vegetative Symptome | Exposition beenden, symptomatische Therapie |
Vitaminmangel-/Hypervitaminose-induziert | häufig bei Mangelernährung, Morbus Parkinson, B12-Mangel, B6-Überdosierung | Parästhesien, Ataxie, sensible Defizite | Substitution, Absetzen überdosierter Vitamine |
Guillain-Barré-Syndrom | akute Autoimmunreaktion, meist postinfektiös | akut aufsteigende Paresen, Areflexie, autonome Störungen, respiratorische Insuffizienz möglich | Immunglobuline, Plasmapherese, eventuell intensivmedizinische Behandlung |
Übermäßiger Alkoholkonsum ist als mögliche Ursache ebenfalls zu bedenken, da Alkohol direkt Nervengewebe schädigen kann. Durch häufigen Konsum können zudem Mangelzustände entstehen, die die Nervenfunktion beeinträchtigen und das Risiko weiter erhöhen.
Den Blutzucker gut im Blick zu behalten, lohnt sich immer – und auch für die Nerven. / © Shutterstock/Halfpoint
Autoimmunerkrankungen wie Guillain-Barré-Syndrom, Sjögren-Syndrom, Zöliakie, rheumatoide Arthritis oder systemischer Lupus erythematodes können ebenfalls zu Nervenschäden führen, wenn das Immunsystem körpereigene Strukturen angreift.
Bakterielle oder virale Infektionen wie Lyme-Borreliose, Gürtelrose, Hepatitis B oder C sowie eine HIV-Infektion betreffen gelegentlich auch die peripheren Nerven.
Einige Polyneuropathien sind genetisch bedingt. Dazu zählt beispielsweise die Charcot-Marie-Tooth-Erkrankung. Bei chronischen Nierenerkrankungen ist das Risiko für eine urämische Neuropathie hoch.
Neben Grunderkrankungen spielen auch Ernährungsdefizite eine Rolle, zum Beispiel ein Mangel an den Vitaminen B1, B12 und E oder ein Überschuss an Vitamin B6. Diese Mikronährstoffe braucht der Körper für den Aufbau und die Erhaltung gesunder Nervenzellen.
Eine Exposition gegenüber Giftstoffen wie Arsen, Blei, Quecksilber oder Thallium kann eine sogenannte toxische Neuropathie hervorrufen (Tabelle 2).