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Gesund altern

Was steckt in der Pipeline?

Immer mehr Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler befassen sich intensiv mit dem Studium der Physiologie des Alterns – auch mit dem Ziel, Prozesse, die das Altern beschleunigen, pharmakologisch zu modulieren. Welche Ansätze sind vielversprechend?
Theo Dingermann
14.08.2022  08:00 Uhr

Im letzten Jahrhundert ist die Lebenserwartung in großen Teilen der Welt drastisch gestiegen. Allerdings fühlen sich Menschen im Schnitt nur während der ersten Hälfte des Lebens gesund. Während der anderen Lebenshälfte plagen sie mehr oder weniger ausgeprägte gesundheitliche Einschränkungen. Das galt vor 100 Jahren, als die Lebenserwartung noch bei etwa 54 Jahren lag, ebenso wie heute, wo die Menschen im Schnitt 73 Jahre alt werden (1).

Altern gilt als größtes Risiko für den fortschreitenden Verlust der physiologischen Integrität. Chronische Krankheiten wie Osteoporose, Typ-2-Diabetes, Demenz und Krebs betreffen vor allem ältere und alte Menschen. Und sie treten selten isoliert auf. Vielmehr steigt das Risiko für Multimorbiditäten nach dem 70. Lebensjahr exponenziell. Das physische Altern selbst wird derzeit nicht als pathologischer Prozess angesehen. Doch es wird immer klarer, dass viele »Alterskrankheiten« übergeordnet reguliert werden.

Dem versuchen gerontowissenschaftlich geleitete Therapieansätze Rechnung zu tragen. Ihr Ziel ist es, den Beginn und das Fortschreiten mehrerer chronischer Erkrankungen zu verzögern, indem grundlegende biologische Wege des Alterns beeinflusst werden.

Merkmale des Alterns

In einem in »Cell« im Jahr 2013 publizierten Übersichtsartikel werden neun prominente Merkmale definiert, die den fortschreitenden Verlust der physischen Integrität während eines Alterungsprozesses charakterisieren (2). Aus pharmazeutischer Sicht sind diese »Hallmarks« (Kennzeichen) deshalb so interessant, da hier potenzielle pharmakologische Angriffspunkte zu finden sein könnten, über die sich Alterungsprozesse vielleicht modulieren lassen. Im Einzelnen sind dies:

► Zunehmende genomische Instabilität

Im Lauf eines durchschnittlich 80-jährigen Lebens reichern sich in der DNA Fehler an, die durch äußere physikalische oder chemische Stressoren ebenso wie durch innere Mechanismen wie Kopierfehler induziert werden. Vor allem lässt mit zunehmendem Alter die Fähigkeit nach, die genomische Instabilität durch Reparatur auszugleichen beziehungsweise zu kontrollieren. Zur genomischen Instabilität tragen auch Defekte der Zellkernarchitektur bei; besonders betroffen sind beispielsweise Komponenten der wichtigen Kernhülle.

► Allmählicher Telomerverschleiß

Die Telomere, also die Enden der einzelnen Chromosomen, werden natürlicherweise mit jeder Zellteilung kürzer. Erreichen sie eine bestimmte Mindestlänge, können sich Zellen nicht mehr teilen. Damit verlieren sie ihre Funktionen und sterben ab.

► Verlust der Proteostase

Unter Proteostase wird das Gleichgewicht der Strukturdynamik der Proteine im Körper verstanden. Bekanntlich ist für die korrekte Funktion eines Proteins eine einzigartige dreidimensionale Struktur (Tertiärstruktur) verantwortlich. Diese ist jedoch teilweise recht locker nur durch schwache Wechselwirkungen zwischen einzelnen Strukturregionen stabilisiert. Daher verfügen alle Zellen über Kontrollmechanismen, um die Stabilität und Funktionalität ihrer Proteome und somit die Proteostase zu erhalten. Dazu gehören Mechanismen zur Stabilisierung korrekt gefalteter Proteine, beispielsweise durch Hilfsproteine wie Chaperone, und zum Abbau von Proteinen durch das Proteasom oder das Lysosom. Diese Prozesse sollen sicherstellen, dass die Strukturen fehlgefalteter Polypeptide korrigiert oder irreparabel denaturierte Proteine vollständig abgebaut und entfernt werden.

Mit zunehmendem Alter arbeiten die Kontrollmechanismen weniger aktiv und zuverlässig, weshalb das Risiko gerade auch für neurodegenerative Erkrankungen so steil ansteigt, da hier beispielsweise mit den Alzheimer-Plaques falsch gefaltete Proteine eine besondere pathologische Bedeutung haben.

► Gestörte Nährstoffsensitivität

Die somatotrope Achse bei Säugetieren besteht aus dem Wachstumshormon (GH), das vom Hypophysenvorderlappen produziert wird, und seinem sekundären Vermittler, dem Insulin-ähnlichen Wachstumsfaktor (IGF-1), der als Reaktion auf eine GH-Ausschüttung von vielen Zelltypen produziert wird. Der intrazelluläre Signalweg von IGF-1 ist identisch mit dem von Insulin, das die Zellen über das Vorhandensein von Glucose informiert. Zu den Zielen dieses in der Evolution sehr gut konservierten Signalwegs gehören bestimmte Transkriptionsfaktoren und die mTOR-Komplexe, von denen man annimmt, dass sie maßgeblich am Alterungsprozess beteiligt und in fast allen Modellorganismen, die in der Altersforschung eingesetzt werden, konserviert sind (2).

► Mitochondriale Dysfunktion

Wenn Zellen und der Organismus altern, nimmt auch die Effizienz der Atmungskette ab, wodurch der Elektronenverlust steigt und die ATP-Erzeugung abnimmt. Der Zusammenhang zwischen mitochondrialer Dysfunktion und Alterung wird seit Langem vermutet, aber die Entschlüsselung der Details ist eine große Herausforderung.

Eine mitochondriale Dysfunktion macht sich besonders in Nerven- und Muskelzellen bemerkbar, die bis zu 6000 Mitochondrien pro Zelle enthalten. Die nachlassende mitochondriale Energiebildung und eine chronische Entzündungsbereitschaft über aktivierte COX-Enzyme führen unter anderem zur Schwächung der Muskelkraft und der Ausdauer bis hin zu Muskelschwund (Sarkopenie), chronischer Infektanfälligkeit oder zum Nachlassen der Sehkraft bis zur Erblindung. Somit ist die Aufrechterhaltung der mitochondrialen Qualitätskontrolle entscheidend wichtig, um Alterungsprozessen zu begegnen. Denn mit dem Altern akkumulieren geschädigte Mitochondrien und das Gleichgewicht zwischen der Bildung neuer und der Beseitigung geschädigter Mitochondrien wird auf Kosten der Lebenserwartung gestört.

► Stammzellenerschöpfung

Mit dem Alter verlieren Stammzellen ihre Fähigkeit, sich zu teilen, mit der Konsequenz, dass diese wichtige Quelle der Zellregeneration langsam versiegt. Letztlich führt das dazu, dass aussortierte Zellen in den Geweben nicht mehr adäquat ersetzt werden können.

► Veränderte interzelluläre Kommunikation

Die Integrität der menschlichen Physiologie basiert auf einer komplexen Aufgabenverteilung. Sie ist nur dann gewährleistet, wenn zwischen den etwa 200 verschiedenen Zelltypen, in denen die Funktionsprogramme der Organe ablaufen, intensiv und korrekt »kommuniziert« wird. Kommt es zum Beispiel bei Neurotransmitter- oder elektrischen Übertragungen zu Störungen, resultieren Funktionsverluste mit teils drastischen Auswirkungen auf das physiologische Altern. Folge dieser Kommunikationsstörungen sind beispielsweise zunehmende Entzündungsreaktionen und eine abnehmende Immunüberwachung.

► Zelluläre Seneszenz

Unter der »zellulären Seneszenz« versteht man den Verlust der Teilungsfähigkeit einer Zelle, ohne dass die Zelle wirklich abstirbt und beispielsweise durch Autophagie eliminiert wird. Im Gegenteil: Die betroffenen Zellen bleiben weiter metabolisch aktiv, reagieren jedoch nicht mehr auf mitogene Stimuli. Sie sind quasi irreversibel im Zellzyklus arretiert. Das kann vorteilhaft sein, beispielsweise um eine irreparabel genetisch geschädigte Zelle aus dem Verkehr zu ziehen. Allerdings muss sichergestellt sein, dass die stillgelegten Zellen effizient ersetzt werden, was bei einem jungen Organismus möglich ist.

Im Alter werden seneszente Zellen jedoch zum Problem. Zum einen kumulieren sie wegen der verstärkt auftretenden Funktionsprobleme, zum anderen werden sie immer ineffizienter eliminiert, auch weil die Immunfunktionen schwächer werden.

Das Hauptproblem scheint jedoch nicht in der Akkumulation seneszenter Zellen per se zu liegen. Vielmehr ist es der »Seneszenz-assoziierte sekretorische Phänotyp«. Die Zellen sondern nämlich weiterhin alarmierende Botenstoffe ab und erzeugen so eine allgemein entzündliche Umgebung, die mit Alterserscheinungen wie Arteriosklerose, Lungenfibrose, Demenz und Arthritis assoziiert ist. Dieses proinflammatorische Sekretom trägt somit entscheidend zur Entstehung von Krankheiten bei, die durch eine starke Entzündung aufrechterhalten werden.

Sollte die Hypothese stimmen, dass ein Übermaß an seneszenten Zellen die Entstehung von Alterskrankheiten befördert, so sollte die gezielte Entfernung dieser Zellen eventuell sogar das Altern verzögern. Genau das zeigten Forscher in einer im Jahr 2016 in »Nature« publizierten Studie, wenn auch nur an Mäusen. Das Ergebnis war relativ eindeutig. Die Tiere, bei denen über Umwege seneszente Zellen entfernt worden waren, hatten eine um ein Viertel erhöhte mediane Lebenserwartung (3).

► Vielfältige epigenetische Veränderungen

Die Epigenetik ist charakterisiert durch Modifikationen an den Histonen, den Proteinen, um die sich der DNA-Strang windet, sowie an bestimmten Cytosin-Resten in der DNA. Die Modifikation der Histone durch Acetylierung oder Methylierung erfolgt an den N-terminalen Enden der Proteine. Je nach Art der Modifikation und der Aminosäure, die modifiziert wird, resultiert entweder eine Aktivierung oder eine Repression der Genaktivität, indem das Chromatin entweder kompaktiert oder relaxiert wird. Einen analogen Einfluss auf die Genaktivität hat auch die Methylierung der DNA, bei der eine Methylgruppe an das 5’-Kohlenstoffatom eines Cytosins, meist innerhalb eines Cytosin-phosphatidyl-Guanin (CpG)-Dinukleotids, kovalent angeheftet wird.

Bemerkenswert ist, dass sich das DNA-Methylierungsmuster im Lauf des Lebens stark ändert. Diese Anpassung ist so typisch, dass sich auf Basis des jeweiligen Methylierungsmusters erstaunlich genau das biologische Alter einer Zelle bestimmen lässt (Kasten).

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