Steckbrief Sildenafil |
Annette Rößler |
27.03.2023 09:00 Uhr |
Aufgrund der prägnanten Farbe der Tabletten wurde Viagra® mitunter auch als »das blaue Wunder« bezeichnet. / Foto: Adobe Stock/jopix.de
Was sind die Einsatzgebiete von Sildenafil?
Sildenafil wird zur Behandlung von erwachsenen Männern mit erektiler Dysfunktion (ED) angewendet. Darunter versteht man die Unfähigkeit, eine für einen befriedigenden Geschlechtsverkehr ausreichende Erektion zu erreichen oder aufrechtzuerhalten. Sildenafil kann die Fähigkeit zur Erektion wiederherstellen, eine Erektion tritt aber auch unter Sildenafil nur bei sexueller Stimulation ein.
Bei pulmonaler arterieller Hypertonie (PAH) ist Sildenafil zugelassen zur Behandlung von erwachsenen und pädiatrischen Patienten ab einem Jahr. Die PAH zeichnet sich durch einen Anstieg des Blutdrucks im Lungenkreislauf aus, der häufig mit einer Verengung der Lungengefäße einhergeht.
Wie wirkt Sildenafil?
Sildenafil war der erste zugelassene selektive Hemmstoff der Phosphodiesterase Typ 5 (PDE5). Diese Isoform des Enzyms Phosphodiesterase kommt in Thrombozyten, im Schwellkörper (Corpus cavernosum) des Penis sowie in Lungengefäßen vor, in anderen Körpergeweben dagegen kaum. Die Phosphodiesterase baut cyclisches Guanosinmonophosphat (cGMP) ab, das als intrazellulärer Botenstoff stark gefäßerweiternd wirkt.
Im Schwellkörper kommt es bei sexueller Erregung zur Freisetzung von Stickstoffmonoxid (NO); dieses aktiviert die Guanylatcyclase, was wiederum einen Anstieg der cGMP-Konzentration im Cytosol bewirkt. Die daraus resultierende Gefäßerweiterung (Erektion) wird durch die Hemmung des Abbaus von cGMP verstärkt. Bei PAH werden durch die PDE5-Hemmung selektiv die Gefäße der Lunge geweitet und es kommt nur zu einer geringen Vasodilatation in der Peripherie.
Wie wird Sildenafil dosiert?
Bei ED sollten 50 mg Sildenafil ungefähr eine Stunde vor dem Geschlechtsverkehr eingenommen werden. Entsprechend der Wirksamkeit und Verträglichkeit kann die Dosis auf maximal 100 mg erhöht oder auf 25 mg verringert werden. Die Einnahme darf nicht häufiger als einmal täglich erfolgen. Wird Sildenafil zusammen mit einer Mahlzeit eingenommen, kann das den Wirkeintritt verzögern.
Bei PAH beträgt die empfohlene Dosis für Erwachsene sowie Kinder und Jugendliche mit einem Körpergewicht über 20 kg dreimal täglich 20 mg. Kinder mit einem Körpergewicht ≤ 20 kg sollten dreimal täglich 10 mg erhalten.
Es gibt kein Präparat, das in beiden Indikationen zugelassen ist. Bei ED sind Tabletten verfügbar (Viagra® und Generika), bei PAH Tabletten (Revatio® und Generika) sowie ein Pulver zur Herstellung einer Suspension zum Einnehmen und eine Injektionslösung.
Welche Nebenwirkungen kann Sildenafil haben?
Sildenafil hemmt die PDE5 zwar deutlich stärker als andere Phosphodiesterasen und gilt deshalb als selektiver PDE5-Hemmer. In geringerem Ausmaß werden aber auch andere Isoformen des Enzyms gehemmt, wodurch sich bestimmte Nebenwirkungen erklären lassen. So steckt eine Hemmung der PDE6, die am Phototransduktionsprozess in der Retina beteiligt ist, wohl hinter Veränderungen des Farbsehens, Sehstörungen und verschwommenem Sehen, die als häufige Nebenwirkungen von Sildenafil und anderen PDE5-Hemmern beschrieben sind. Kopfschmerzen, Flush, Hitzewallungen und Schwindel (cave Verkehrstüchtigkeit!) als ebenfalls häufige beziehungsweise sehr häufige Nebenwirkungen von Sildenafil kommen wohl durch eine Gefäßerweiterung außerhalb der Zielorgane Penis beziehungsweise Lunge zustande. Generell sind Nebenwirkungen beim Einsatz von Sildenafil als PAH-Medikament vermutlich wegen der Dauermedikation häufiger als bei ED.
Welche Kontraindikationen gibt es?
Sildenafil darf bei Patienten mit schwerer Leberinsuffizienz, Hypotonie (Blutdruck < 90/50 mmHg), kürzlich erlittenem Schlaganfall oder Herzinfarkt sowie mit bekannter erblich bedingter degenerativer Retinaerkrankung nicht eingesetzt werden. Ebenfalls kontraindiziert ist der PDE5-Hemmer bei Patienten, die aufgrund einer nicht arteriitischen anterioren ischämischen Optikusneuropathie (NAION) ihre Sehkraft auf einem Auge verloren haben. Bei dieser Erkrankung kommt es zu einer akuten einseitigen Sehverschlechterung, für die eine vaskuläre Minderversorgung als Ursache angenommen wird.
Eine ED kann das erste Anzeichen einer kardiovaskulären Erkrankung sein. Daher soll ein Arzt vor der Verordnung von Sildenafil prüfen, ob der Erektionsstörung eine solche Erkrankung zugrunde liegt, und diese gegebenenfalls adäquat behandeln. Bei Patienten, für die Sex aufgrund einer bestehenden schweren Herz-Kreislauf-Erkrankung eine zu große Belastung darstellen würde, ist Sildenafil nicht anzuwenden.
Bei Patienten mit Blutungsstörungen oder aktiven peptischen Ulzera sollte die Anwendung nur nach sorgfältiger Nutzen-Risiko-Abwägung erfolgen.
Mit welchen anderen Arzneistoffen kann Sildenafil wechselwirken?
PDE5-Hemmer potenzieren die blutdrucksenkende Wirkung von Nitraten und dürfen daher nicht mit diesen zusammen angewendet werden. Gleiches gilt für die Kombination mit Riociguat (Adempas®), einem Stimulator der löslichen Guanylatcyclase, oder mit anderen PDE5-Hemmern. Die gleichzeitige Anwendung mit Vericiguat (Verquvo®) wird nicht empfohlen.
Sildenafil wird über die CYP-Enzyme 3A4 (Hauptweg) und 2C9 (Nebenweg) abgebaut. Der Wirkstoff darf deshalb nicht zusammen mit starken CYP3A4-Hemmern wie Ritonavir angewendet werden. Bei ED kann die gleichzeitige Anwendung mit anderen Inhibitoren dieser Enzyme in einer Anfangsdosis von 25 mg Sildenafil in Erwägung gezogen werden.
Bei Patienten, die gleichzeitig Alphablocker wie Doxazosin erhalten, kann es unter Sildenafil zu einem starken Blutdruckabfall kommen. Die Anwendung soll daher mit Vorsicht erfolgen.
Was ist in Schwangerschaft und Stillzeit zu beachten?
Bei schwangeren Frauen mit PAH sollte Sildenafil nicht angewendet werden, es sei denn, eine Anwendung ist dringend erforderlich. In der Stillzeit sollten verschreibende Ärzte den klinischen Bedarf der Mutter für eine Anwendung von Sildenafil und mögliche nachteilige Auswirkungen auf den gestillten Säugling sorgfältig gegeneinander abwägen.
Seit wann gibt es Sildenafil?
Ältere Männer stehen, seitdem es Viagra gibt, verstärkt unter Druck, »immer können« zu müssen: So lautet ein Vorwurf von Kritikern am Marketing von Pfizer. / Foto: Adobe Stock/sebra
Sildenafil wurde vom US-Unternehmen Pfizer entwickelt. Dort waren Mitarbeiter Mitte der 1980er-Jahre auf der Suche nach Substanzen, die bei Patienten mit Angina pectoris den Abbau von NO verlangsamen und so die gefäßerweiternde Wirkung verlängern. Es wurden mehrere neuartige Pyrazolopyrimidine als PDE5-Hemmer synthetisiert, darunter UK-9248 (Sildenafil). Diese Substanz erwies sich zwar in folgenden klinischen Studien bei Angina pectoris nur als mäßig wirksam, vereinzelt berichteten männliche Studienteilnehmer aber über Erektionen als Nebenwirkungen, ohne dass man dem bei Pfizer zunächst große Bedeutung beimaß. Stutzig geworden sein soll man erst, als die männlichen Probanden ihre Prüfmedikamente am Ende der Studie nicht zurückgaben – im Gegensatz zu den weiblichen Probanden. Sildenafil wurde bei ED erprobt und erhielt in dieser Indikation schließlich im März 1998 die US-Zulassung; die Zulassung in der EU folgte im September desselben Jahres.
Als »Sexpille« war Viagra aber von Anfang an umstritten. ED war zuvor eher als Lifestyleproblem denn als gesundheitliches Leiden angesehen worden; die verfügbaren Therapien waren nebenwirkungsreich, wenig wirksam und/oder invasiv. Pfizer schrieb sich auf die Fahnen, mit Viagra entscheidend zur Wiederherstellung der sexuellen Gesundheit von betroffenen Männern und ihren Partnerinnen oder Partnern beizutragen. Kritiker warfen dem Unternehmen dagegen vor, ein aggressives Marketing für Viagra zu betreiben und damit den Wunsch nach Sex zu pathologisieren, was den »Leistungsdruck« im Bett insbesondere auf ältere Männer stark erhöhe.
In Deutschland zählen Mittel zur Behandlung der sexuellen Dysfunktion zu den Lifestylemedikamenten, die von der Erstattung durch die Gesetzliche Krankenversicherung (GKV) ausgeschlossen sind. Viagra und seine seit 2013 verfügbaren Generika – Pfizer beziehungsweise sein Spin-off Viatris Pharma bietet auch selbst ein Generikum an – müssen daher auf Privatrezept verordnet werden. Dagegen sind Sildenafil-haltige Präparate zur Behandlung von Patienten mit PAH verordnungs- und erstattungsfähig.
Wie geht es weiter mit Sildenafil?
Außer bei ED und PAH könnte Sildenafil noch in weiteren Indikationen wirksam sein. In einem Übersichtsartikel in »Nature Reviews Drug Discovery« werden pulmonale Hypertonie mit zugrunde liegender COPD oder Fibrose, chronisch-thromboembolische pulmonale Hypertonie, Raynaud-Syndrom, rechts- und linksventrikuläre Hypertrophie und zerebrovaskuläre Erkrankungen als mögliche Anwendungsgebiete genannt (DOI: 10.1038/nrd2030). Allerdings erschien der Artikel schon 2006 und bislang scheint hier noch kein weiterer Durchbruch erzielt worden zu sein.
Sehr viel konkreter sind dagegen die Diskussionen um einen möglichen OTC-Switch von Sildenafil in der Indikation ED. Entsprechende Präparate sind in Großbritannien und einigen anderen Ländern bereits ohne Rezept erhältlich. In Deutschland sagte aber der Sachverständigenausschuss für Verschreibungspflicht am Bundesinstitut für Arzneimittel und Medizinprodukte (BfArM) zuletzt Anfang 2022 Nein zum OTC-Switch von Sildenafil. Dennoch gibt es im Bundesgesundheitsministerium dem Vernehmen nach Pläne, Sildenafil per Rechtsverordnung aus der Verschreibungspflicht zu entlassen, um den illegalen Onlinehandel einzudämmen.
Wie unterscheiden sich die verschiedenen PDE5-Hemmer?
Nach Sildenafil kamen mit Tadalafil (Cialis® und Generika), Vardenafil (Levitra® und Generika) und Avanafil (Spedra®) noch drei weitere PDE5-Hemmer zur Behandlung von Männern mit ED auf den Markt. Von diesen besitzt einzig Tadalafil als Adcirca® (und Generika) auch eine Zulassung bei PAH. In der Indikation ED unterscheiden sich die vier PDE5-Hemmer vor allem durch ihre Wirkdauer und die Schnelligkeit des Wirkeintritts.
Bei Sildenafil tritt die Wirkung bei Nüchterneinnahme durchschnittlich nach 60 Minuten ein und hält rund vier Stunden an. Ähnlich verhält es sich bei Vardenafil mit einer Dauer von 45 bis 90 Minuten bis zum Wirkeintritt und vier Stunden Wirkdauer. Tadalafil zeichnet sich vor allem durch eine lange Wirkdauer von 17,5 Stunden aus. Avanafil schließlich vereint einen schnellen Wirkeintritt nach 30 bis 45 Minuten mit einer langen Wirkdauer von etwa 6 bis 17 Stunden.
Strukturformel Sildenafil / Foto: Wurglics