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Nocebo-Effekt

Statin-Nebenwirkungen sind oft nur Einbildung

Statine haben ein schlechtes Image. In vielen Beiträgen auch in Publikumsmedien wird meist mehr über die Nebenwirkungen der Blutfettsenker berichtet als über ihre positiven Effekte. Entsprechend hoch ist der Nocebo-Effekt, wie eine aktuelle Untersuchung zeigt.
Annette Rößler
18.11.2020  15:00 Uhr

Ist von Statinen die Rede, werden die Nebenwirkungen der Blutfettsenker meist in einem Atemzug genannt. Nicht nur Ärzte und Apotheker, auch die meisten Patienten wissen, dass es unter der Einnahme der HMG-CoA-Reduktase-Hemmer zu Schäden der Skelettmuskulatur kommen kann, schlimmstenfalls zur Rhabdomyolyse. Die Fokussierung auf die Nebenwirkungen der Statine schürt aus Sicht vieler Experten den Nocebo-Effekt, also eine negative Erwartungshaltung des Patienten gegenüber dem Medikament, die zu einem Anstieg der Häufigkeit von Nebenwirkungen führt. Und tatsächlich konnte gezeigt werden, dass etwa Myopathien unter Statinen nur häufiger als unter Placebo auftreten, wenn der Patient weiß, dass er ein Statin einnimmt.

Einen weiteren Beleg für den Nocebo-Effekt von Statinen liefert nun eine Forschergruppe um Frances Wood und Dr. James Howard von Imperial College London. In einem Brief an die Herausgeber des Fachjournals »New England Journal of Medicine« berichten die Wissenschaftler von einem Experiment, das sie mit 60 Patienten gemacht haben, die in der Vergangenheit eine Statin-Therapie aufgrund von Nebenwirkungen abgebrochen hatten. Jeder Teilnehmer bekam jeweils vier Fläschchen mit Atorvastatin-Tabletten in einer Dosis von 20 mg, mit Placebo-Tabletten und ohne jeden Inhalt. Im folgenden Jahr sollten die Probanden jeden Monat eines der Fläschchen verwenden, und zwar in einer zufällig festgelegten Reihenfolge. Währenddessen gaben sie täglich in eine Smartphone-App ein, ob sie Nebenwirkungen hatten, und bewerteten die Intensität der Symptome auf einer Skala von 0 (keine Symptome) bis 100 (schlimmste vorstellbare Symptome).

Die Auswertung zeigte, dass 90 Prozent Nebenwirkungen unter Statin-Verum auch unter Placebo auftraten. Die durchschnittliche Symptomintensität lag bei 8,0 in den tablettenfreien Monaten, 15,4 in den Placebo-Monaten und 16,3 in den Atorvastatin-Monaten. »Unsere Studie legt nahe, dass die Nebenwirkungen der Statine, die Patienten angeben, nicht durch die Statine selbst verursacht werden, sondern durch den Vorgang des Tablettenschluckens«, kommentiert Howard in einer Pressemitteilung. Einige der berichteten Symptome ließen sich auch mit den typischen Beschwerden des Älterwerdens erklären. Statine seien wichtige Medikamente für Patienten mit kardiovaskulärem Risiko. Um sie dazu zu motivieren, ihre Medikation weiter einzunehmen, sollten Ärzte den Nocebo-Effekt offen ansprechen.

Dass dies eine erfolgversprechende Strategie ist, zeigt ein weiteres Ergebnis der Studie: Sechs Monate nach dem Ende der Intervention hatte die Hälfte der Teilnehmer wieder mit einer Statin-Therapie begonnen und vier weitere Probanden planten dies. Die Erfahrung, dass die von ihnen erlebten Nebenwirkungen in nahezu demselben Ausmaß auch unter Placebo aufgetreten waren, hatte bei den Patienten, die ja alle zuvor bereits einmal eine Statin-Therapie abgebrochen hatten, offenbar ein Umdenken ausgelöst.

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