Mehr als dicke Beine |
Ein Lipödem ist viel häufiger als vermutet. Betroffene Frauen demonstrierten im Oktober 2016 in Essen für die Akzeptanz dieser Fettverteilungsstörung. / Foto: Imagoi Images/Funke Foto Services
»Du bist einfach nur zu dick« oder »Treib mehr Sport, dann geht das schon weg!« Solche und ähnliche Ratschläge müssen sich Lipödem-Patientinnen oft anhören. Charakteristisch für das Lipödem sind ausladende Hüften und stämmige Beine, aber ein im Vergleich dazu schlanker Oberkörper.
Anders als es die Bezeichnung vermuten lässt, ist ein Lipödem keine Flüssigkeitsansammlung im Gewebe. Vielmehr handelt es sich um eine krankhafte disproportionale Vermehrung des Unterhautfettgewebes. Dabei bilden sich knotenartige Strukturen, die wie starke Cellulite aussehen. Im Unterschied zur sogenannten Orangenhaut ist das Gewebe sehr druckempfindlich und schmerzhaft. Schon bei einem leichten Stoß können sich ausgeprägte Hämatome bilden.
Anfangs betrifft die Fettverteilungsstörung vor allem die Oberschenkel: Es entstehen die typischen »Reiterhosen«. Später nehmen bei vielen Frauen auch die Unterschenkel an Umfang zu. Dadurch wirken die Beine oft wie Säulen. Bei etwa einem Drittel sind auch die Arme betroffen. Hände und Füße bleiben aber fast immer ausgespart.
Das Lipödem tritt praktisch ausschließlich bei Frauen auf. Bei Männern finden sich vereinzelt Beschreibungen eines ähnlichen Erkrankungsbilds bei schweren Hormonstörungen wie dem Hypogonadismus, bei Leberzirrhose oder nach Hormonbehandlungen. Zur Prävalenz liegen kaum verlässliche Daten aus großen Studien vor. In der Literatur wird die Häufigkeit meist auf 10 Prozent der weiblichen Bevölkerung beziffert. Je nach untersuchtem Kollektiv und den angesetzten Diagnosekriterien ergaben sich in manchen Studien deutlich geringere Zahlen.
Im Jahr 1940 haben die beiden US-amerikanischen Mediziner Edgar Van Nuys Allen und Edgar Alphonso Hines das Lipödem erstmals beschrieben. Gelegentlich bezeichnen es Mediziner deshalb auch als Allen-Hines-Syndrom. Lange Zeit fand die krankhafte Fettverteilungsstörung wenig Beachtung. Bis zur korrekten Diagnosestellung dauerte es oft Jahrzehnte – wenn überhaupt einer der konsultierten Ärzte an ein Lipödem dachte. Erst 2017 erhielt die Krankheit einen eigenen Diagnoseschlüssel im ICD-10-Code.
Spezifische laborchemische oder apparative Befunde für das Lipödem gibt es nicht. Die Diagnose erfolgt in der Regel in einer fachärztlichen Praxis für Lymphologie, Phlebologie oder Angiologie und basiert vor allem auf dem klinischen Erscheinungsbild. Allerdings ist die Abgrenzung zur Adipositas oft schwierig, weil mindestens die Hälfte der Patientinnen zusätzlich übergewichtig ist.
Wichtige Leitsymptome sind der Druckschmerz und die Hämatomneigung. Beide fehlen bei reiner Fettleibigkeit. Eine ähnlich disproportional auftretende Zunahme des Unterhautfettgewebes an den Hüften und Oberschenkeln wie beim Lipödem findet sich bei der Lipohypertrophie. Aber auch diese Fettvermehrungsstörung ist nicht schmerzhaft. Beim Lymphödem hingegen handelt es sich nicht um eine Ansammlung von Fettgewebe, sondern von Lymphflüssigkeit in den Zellzwischenräumen (Kasten). Im Gegensatz zum Lipödem tritt es meist nicht symmetrisch an beiden Körperhälften auf und der Fuß oder die Hand auf der betroffenen Seite zeigt ebenfalls Schwellungen.
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Ein Lymphödem entsteht durch den Rückstau von eiweißreicher Gewebeflüssigkeit im Zwischenzellraum, wenn das Lymphsystem den Abtransport nicht mehr bewältigt. Ursache ist häufig eine Schädigung der Lymphgefäße, zum Beispiel durch Operation oder Strahlenbehandlung nach einer Krebserkrankung. Auch starkes Übergewicht und Bewegungsarmut können ein sekundäres Lymphödem fördern – dies gilt heute als Hauptgrund dafür, dass es manchmal mit dem Lipödem vergesellschaftet auftritt.
Viel seltener als das sekundäre kommt das primäre Lymphödem vor: Es ist die Folge einer angeborenen Fehlentwicklung des Lymphsystems und macht sich bereits in der Kindheit oder Jugend bemerkbar.
Im Anfangsstadium äußert sich ein Lymphödem durch eine schmerzlose teigige Schwellung, die sich durch Hochlagern nachts wieder zurückbildet. Oft ist beim sekundären Lymphödem nur eine Körperseite betroffen, zum Beispiel bei Brustkrebs-Patientinnen der Arm auf der behandelten Seite. Erste Warnsignale sind oft ein Schwere-, Druck- oder Spannungsgefühl in einem Arm oder Bein. Manchmal sitzt Schmuck oder ein Schuh plötzlich enger als früher und nach dem Ausziehen bleiben Abdrücke zurück. Auch ein fester Druck mit dem Finger hinterlässt eine Delle.
Unbehandelt schreitet ein Lymphödem fort. Die Schwellung klingt nicht mehr durch Schonung und Hochlagern ab. Haut und Bindegewebe beginnen sich zu verhärten. Infolgedessen lässt sich über den Zehen oder Fingern keine Hautfalte mehr abheben (positives Stemmer-Zeichen). Die Flüssigkeitsansammlung im Gewebe verursacht zunehmend Schmerzen und schränkt die Beweglichkeit ein. Vor allem an den Beinen kann die Schwellung mit der Zeit enorme Ausmaße annehmen (Stadium III, auch Elephantiasis genannt).
Eine gefürchtete Komplikation ist das Erysipel, eine bakterielle Infektion der Haut. Weil die lokale Immunfunktion eingeschränkt ist, führen selbst kleinste Verletzungen oft zu einer ausgedehnten und schmerzhaften Entzündung.
Zur Sicherung der Diagnose eines Lymphödems dient die Lymphszintigrafie, die den Lymphabfluss durch radioaktive Markierung sichtbar macht. Grundpfeiler der Behandlung ist die Komplexe Physikalische Entstauungstherapie (KPE). Sie umfasst die manuelle Lymphdrainage, Bewegungsübungen, die Kompressionstherapie durch feste Bandagen und Kompressionsstrümpfe oder -ärmel sowie die Hautpflege. Medikamentöse Optionen gibt es praktisch nicht. Lediglich die hoch dosierte Gabe von Selen schien sich in kleineren Studien positiv auf das Volumen der Schwellung auszuwirken.
In den letzten Jahren wurden zudem mikrochirurgische Verfahren zur Therapie des Lymphödems entwickelt, zum Beispiel der Lymphknotentransfer oder die Ableitung von oberflächlichen Lymphgefäßen in das venöse System (lymphovenöse Anastomose).
Beide Erkrankungen können jedoch parallel bestehen. Im Lauf der Zeit entwickeln Frauen mit Lipödem gelegentlich – insbesondere wenn sie stark übergewichtig sind – zusätzlich ein sekundäres Lymphödem (Lipo-Lymphödem). Anders als beim isolierten Lipödem ist im Ultraschall dann freie Flüssigkeit im Gewebe sichtbar. Darüber hinaus kann das sogenannte Stemmer-Zeichen bei der Differenzialdiagnose helfen: Lässt sich die Haut am Zeh oder am Finger aufgrund des verhärteten Gewebes nicht mehr abheben, spricht das für ein (zusätzliches) Lymphödem.
Der BMI (Body-Mass-Index: Körpergewicht geteilt durch Quadrat der Körpergröße), der in der Medizin als Kriterium für Übergewicht und Adipositas dient, ist bei Frauen mit Lipödem nur eingeschränkt aussagekräftig: Aufgrund des lokal vermehrten Fettgewebes führt er zu einer Überschätzung des Übergewichts. Umgekehrt verhält es sich beim Taille-Hüft-Verhältnis (WHR, waist to hip ratio), das Fettleibigkeit bei einem sehr großen Hüftumfang tendenziell unterbewertet. Unabhängig vom Lipödem erlaubt der Quotient aus Taillenumfang und Körpergröße (WHtR, waist to height ratio) eine Abschätzung des körpermittenbetonten Übergewichts. Zur Verlaufskontrolle des Lipödems kann außerdem die Messung des proximalen Oberschenkelumfangs hilfreich sein.