Mehr als dicke Beine |
Durch das in den letzten Jahren enorm gestiegene mediale Interesse komme es heute nicht mehr oft vor, dass ein Lipödem übersehen wird, sagt Dr. Gabriele Faerber vom Hamburger Zentrum für Gefäßmedizin im Gespräch mit der PZ: »Die Zeit bis zur Diagnose hat sich deutlich verkürzt, die Dunkelziffer ist gesunken.« Auch in der Wissenschaft erlebe das Lipödem einen Boom: Etwa 50 Prozent aller Publikationen zum Thema stammen aus den letzten fünf bis zehn Jahren.
Auch deshalb benötigt die zuletzt 2015 aktualisierte S1-Leitlinie »Lipödem« dringend ein Update, für das Faerber als Koordinatorin der Leitlinienkommission berufen wurde. Die Fertigstellung ist für Oktober 2023 geplant. Derzeit läuft die redaktionelle Überarbeitung. Die formale Konsensfindung der Expertengruppe, die für die höhere Entwicklungsstufe S2k notwendig ist, erfolgt voraussichtlich im Sommer.
Schätzungsweise jede zehnte Frau leidet unter einem Lipödem – glücklicherweise nicht immer so ausgeprägt wie auf dem Foto. / Foto: Imago Images/brennweiteffm
»In manchen Aspekten hat sich die Sichtweise erheblich gewandelt«, betont die Phlebologin. Ändern soll sich etwa die Lehrmeinung, dass das Lipödem eine chronisch-progrediente Erkrankung sei. In internationalen Publikationen wird das Lipödem anhand des Erscheinungsbilds in drei Schweregrade eingeteilt: vom Stadium I mit glatter Hautoberfläche bis hin zu großknotigen Veränderungen mit deformierenden Fettdepots in Stadium III. Zum einen orientiere sich diese Klassifikation rein an morphologischen Kriterien, die nicht zwangsläufig mit der Schmerzhaftigkeit korrelieren, kritisiert die Expertin. »Außerdem ist die Progression von einem Stadium in das nächste kein Naturgesetz.« Das Fortschreiten der Erkrankung hänge vielmehr von verschiedenen Faktoren ab – vor allem vom Gewichtsverlauf: Adipositas verschlimmert das Lipödem.
Nach wie vor wisse man über die pathophysiologischen Zusammenhänge nicht viel, auch wenn in den letzten Jahren einige hochkarätige Studien zu einzelnen Teilaspekten veröffentlicht wurden, wie Faerber betont. Klar ist, dass das Lipödem im engeren Sinn keine Ödemerkrankung mit freier Flüssigkeit im Gewebe darstellt. Die Umfangsvermehrung ist vielmehr eine Folge der Hyperplasie (Zunahme der Zellzahl) und Hypertrophie (Zunahme des Zellvolumens) der Fettzellen. Bei bis zu 60 Prozent der Patientinnen findet sich eine familiäre Häufung des Lipödems, was ein autosomal-dominantes Vererbungsmuster vermuten lässt.
Vieles spricht dafür, dass entzündliche Prozesse in der Pathogenese eine wesentliche Rolle spielen. Mehrere Arbeitsgruppen wiesen im Lipödem-Gewebe eine erhöhte Konzentration von Makrophagen und proinflammatorischen Zytokinen nach. »Auch Adipositas und chronische Inflammation gehen Hand in Hand«, erklärt die Gefäß- und Ernährungsmedizinerin. Nicht geklärt sei bisher, ob die Entzündungsvorgänge ursächlich für das Lipödem oder eine Folge anderer körperlicher Veränderungen sind.
Fettleibigkeit verstärkt nachweislich nicht nur die Symptomatik des Lipödems. Durch starke Gewichtszunahme könne aus einer jahrelang bestehenden asymptomatischen Lipohypertrophie ein schmerzhaftes Lipödem entstehen.
Adipositas und Lipödem gehen oft Hand in Hand, sind aber eigenständige Erkrankungen. / Foto: Adobe Stock/Racle Fotodesign
In beiden Fällen lässt sich die Entwicklung durch Gewichtsreduktion wieder umkehren. Eine Schlüsselfunktion nimmt dabei vermutlich das Insulin ein. Adipositas fördert die Insulinresistenz und die Ausschüttung von Insulin aus der Bauchspeicheldrüse. Beides trägt dazu bei, das Fettgewebe weiter zu vermehren und chronische Entzündungsprozesse am Laufen zu halten.
Schon lange bekannt ist, dass das Lipödem bevorzugt in hormonellen Umstellungsphasen auftritt oder sich verschlechtert: nach der Pubertät, nach einer Schwangerschaft, im Klimakterium oder nach der Menopause. »Eine große Rolle scheint dabei Estradiol zu spielen«, erklärt Faerber. Denn diese Lebensabschnitte sind gekennzeichnet durch anovulatorische Zyklen, also eine geringere Produktion von Progesteron im Gelbkörper. Dadurch kommt es zu einer relativen Estrogendominanz. Estradiol fördert bekanntlich die typisch weibliche Fetteinlagerung an Hüften, Po und Oberschenkeln – die beim Lipödem ins Extreme verstärkt wird.
Hier kommt wieder Insulin ins Spiel. Insulin aktiviert das Enzym Aromatase, das im subkutanen Fettgewebe die Umwandlung von Testosteron in Estradiol katalysiert. Übergewicht verschärft also die Estrogendominanz. In der Menopause, wenn die Eierstöcke die Hormonproduktion eingestellt haben, sind die Fettdepots der Hauptbildungsort für Estradiol.