Individuelle Therapieansätze |
Als Auslöser sonstiger toxischer Neuropathien kommen laut Sommer Umweltgifte wie Arsen, Blei, Quecksilber und Thallium sowie diverse Lösungsmittel und Medikamente infrage. Zu Letzteren zählen beispielsweise Antiinfektiva (Chloroquin, Dapson, Isoniazid, Metronidazol, Nitrofurantoin, Chinolone), Antirheumatika und Immunsuppressiva (Chloroquin, Colchicin, Gold, Tacrolimus), Antiarrhythmika oder Vasodilatatoren (Amiodaron, Dronedaron, Hydralazin, Propafenon), Antikonvulsiva (Phenytoin) und Psychopharmaka (Lithium).
Bedeutend für die PNP-Diagnose sind eine sorgfältige Anamnese hinsichtlich Krankheitsbeginn und -verlauf, klinische und elektrophysiologische Untersuchungen sowie Labortests (Differenzialblutbild, Elektrolyte, Leber- und Nierenwerte, Eiweißelektrophorese, HbA1c, B-Vitamin-Status).
Gegebenenfalls sind bildgebende Verfahren wie eine Nervensonografie mit hochauflösendem Ultraschall beziehungsweise MR-Neurografie, also die Darstellung gesunder oder kranker Nervenabschnitte mithilfe der Magnetresonanztomografie (MRT), sowie Nerven- und Hautbiopsien oder Gentests angezeigt. Diese Tests und Verfahren können nicht nur auf einen Diabetes mellitus, Vitaminmangel oder Alkoholabusus hinweisen, sondern auch auf Autoimmunprozesse, orthopädische Probleme wie Spinalkanalstenosen, Traumata oder Genmutationen.
Aufgrund des demografischen Wandels und somit auch der Zunahme maligner Erkrankungen werden Chemotherapie-induzierte Polyneuropathien (CIPN) immer bedeutender. Je nach Therapieregime bestehen starke Abweichungen. »Die Zahlen variieren in Abhängigkeit von den verwendeten Substanzen und Konzepten sowie der Art des Assessments zwischen 10 bis 90 oder 30 bis 40 Prozent.«
Besonders oft sind neurotoxische Beeinträchtigungen nach der Gabe von Platin-haltigen Zytostatika, Taxanen, Vinca-Alkaloiden oder Proteasomen-Inhibitoren wie Bortezomib zu beobachten. Nach der Applikation von neueren Antikörper-basierten Therapien und hier auch Checkpoint-Inhibitoren treten teilweise persistierende Strukturschäden an Spinalganglien und peripheren Nerven auf. Die Gefahr der Entstehung einer CIPN steigt bei Kombination der verschiedenen Chemotherapeutika noch zusätzlich. Der Grad der Neurotoxizität hängt zudem ab von der Menge der Einzel- und kumulativen Gesamtdosis sowie der Chemotherapie-Dauer.
Typischerweise beginnt die CIPN mit sensiblen Ausfallsymptomen sowie Schmerzen innerhalb der ersten beiden Therapiemonate. Sie kann sich stabilisieren oder zurückbilden, nachdem die Therapie abgesetzt wurde. Insbesondere Platin-, seltener auch Vincristin-basierte Therapien können zu Spätfolgen und dabei auch zum »Coasting«-Phänomen führen, sprich: Symptome können oft erst Jahre später auftreten oder stärker werden (Kasten).
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Das Coasting-Phänomen, das vorwiegend nach Gabe von Platin-Derivaten beobachtet wird, leitet sich namentlich von »Roller Coaster« (Achterbahn) ab. Nach Ende der Chemotherapie können Art und Schwere der Symptome schwanken oder auch erst Jahre später auftreten oder stärker werden. Etwa 40 Prozent der Chemotherapie-induzierten Polyneuropathien (CIPN) gehen mit chronischen Schmerzen einher, wobei nicht nur eine neuropathische, sondern auch eine vermutlich sekundäre, auf muskulärer Fehlfunktion beruhende myofasziale Komponente bestehen kann.
Das späte Auftreten von Beschwerden ist durchaus irritierend, da der zeitliche Zusammenhang zur Ursache mitunter nicht mehr gesehen wird. Zwar nimmt das medizinische Wissen zu den Spät- und Langzeitfolgen einer Chemotherapie zu. Da diese meist diffus und gezielt nicht zu therapieren sind, gelten sie trotzdem noch immer als »Stiefkind der Medizin«.
Laut Studien berichtet ein Großteil der Patient(inn)en nach einer Chemotherapie über anhaltende oder teilweise verstärkte Sensibilitätsverluste unter anderem in Füßen und Beinen. In spezifischen Untersuchungen war das Sturzrisiko fast doppelt so hoch wie bei Patienten ohne Neuropathie. Es war umso ausgeprägter, je stärker die neuropathischen Symptome waren.
Entfernung von Stolperfallen, Mobilitätshilfen und barrierefreier Umbau: Individuell angepasste Schutz- und Vorbeugemaßnahmen inklusive Physiotherapie können die Sturzgefahr und somit die Immobilitäts- und Mortalitätsraten durch Frakturen mindern.