Stufenbasiert therapieren |
Kerstin A. Gräfe |
30.10.2019 08:00 Uhr |
Erste Anzeichen einer Neuropathie machen sich oft in den Füßen bemerkbar und können mit den entsprechenden Untersuchungsmethoden erkannt werden. / Foto: Adobe Stock/Elnur
Neuropathische Schmerzen gehen auf eine Schädigung von Nervenbahnen oder zentralen, schmerzverarbeitenden Zentren zurück. »3 bis 5 Prozent der Bevölkerung leiden unter diesen Schmerzen, sei es in Folge einer Gürtelrose, Diabetes oder eines Schlaganfalls«, so Professor Dr. Christian Maihöfner vom Klinikum Fürth in einer Pressemitteilung der Deutschen Schmerzgesellschaft. Der Neurologe hat die Erarbeitung der S2k-Leitlinie »Diagnose und nicht interventionelle Therapie neuropathischer Schmerzen» federführend betreut.
Es ist eine therapeutische Herausforderung, dass bei neuropathischen Schmerzen trotz medikamentöser Therapie oft keine Schmerzfreiheit erreicht werden kann. Bei allen medikamentösen Optionen gibt es einen Teil der Patienten, der nur unzureichend auf die Therapie anspricht oder an nicht tolerierbaren Nebenwirkungen leidet. Vor diesem Hintergrund betonen die Leitlinien-Autoren, dass die Möglichkeiten einer heilenden oder kausalen Therapie ausgeschöpft werden sollten. »Bei Nervenschmerzen, die infolge einer diabetischen Neuropathie auftreten, muss versucht werden, den Diabetes optimal einzustellen«, nennt Maihöfner ein Beispiel.
Die Therapieziele müssen mit dem Patienten realistisch erörtert werden. Auch über potenzielle Nebenwirkungen muss mit Blick auf die Adhärenz vorab aufgeklärt werden. Des Weiteren sollte der Patient darüber informiert werden, dass die Wirkung erst nach Eindosierung und Erreichen einer wirksamen Dosis und mit zeitlicher Verzögerung einsetzt, um ein frühzeitiges Absetzen von potenziell wirksamen Präparaten zu vermeiden.
Was kann mit Medikamenten erreicht werden? Als realistische Therapieziele nennt die Leitlinie eine Schmerzreduktion um 30 Prozent. Außerdem geht es um die Verbesserung der Schlaf- und Lebensqualität, den Erhalt der sozialen Fähigkeiten und der Arbeitsfähigkeit. Mittel der ersten Wahl sind Antikonvulsiva mit Wirkung auf neuronale Calciumkanäle wie Gabapentin und Pregabalin. Beide Wirkstoffe binden mit hoher Affinität an die α2δ-Untereinheit der spannungsabhängigen Calciumkanäle auf peripheren und zentralen nozizeptiven Neuronen und reduzieren dadurch den aktivierenden Calciumeinstrom.
Ebenfalls als Mittel der ersten Wahl gelten tri- und tetrazyklische Antidepressiva, die in der Behandlung neuropathischer Schmerzen seit Jahren etabliert sind. Die Leitlinie führt hier Amitriptylin, Nortriptylin, Clomipramin und Imipramin auf. Sie binden an Noradrenalin- und Serotonin (5-HT)-Transporter. Dadurch wird die Wiederaufnahme dieser Neurotransmitter gehemmt, was zu einer erhöhten Konzentration der Substanzen im synaptischen Spalt führt. Trizyklische Antidepressiva haben keine direkten antinozizeptiven Eigenschaften. Sie sind auch wirksam bei Patienten, die keine Depressionen haben. Der Effekt auf die neuropathischen Schmerzen scheine früher und mit geringeren Dosierungen einzutreten als der Effekt auf die Depression, so die Leitlinien-Autoren.
Auch der selektive Serotonin-/Noradrenalin-Wiederaufnahme-Hemmer Duloxetin kann als erste Wahl eingesetzt werden. Die Analgesie wird durch die präsynaptische Wiederaufnahme-Hemmung der Neurotransmitter Serotonin und Noradrenalin und somit einer Verstärkung der schmerzhemmenden Bahnsysteme erklärt. Dabei handelt es sich allerdings um einen Off-Label-Use. Zugelassen ist Duloxetin zur Behandlung der diabetischen Neuropathie, Polyneuropathie, depressiver Erkrankungen sowie generalisierter Angststörung.
Topische Therapien wie Lidocain-5-Prozent- und Capsaicin-8-Prozent-Pflaster werden als zweite Wahl eingeordnet. Sie sollten bevorzugt bei fokalen Nervenläsionen einsetzt werden.
Opioide sind wirksam, wobei aber die Nebenwirkungen und das Abhängigkeitspotenzial beachtet werden sollten. Hochpotente Opioide sowie das niederpotente Opioid Tramadol, das zusätzlich über eine Noradrelanin- und Serotonin-Wiederaufnahme-Hemmung auf die endogene Schmerzhemmung wirkt, können als Medikamente der dritten Wahl empfohlen werden. Auch Botulinumtoxin hat bei lokalen neuropathischen Schmerzen eine Wirksamkeit gezeigt (dritte Wahl, Off-Label-Use).
Carbamazepin und Oxcarbazepin können für neuropathische Schmerzen aufgrund der geringen Evidenz und der häufigen Nebenwirkungen nicht generell empfohlen, jedoch im Einzelfall erwogen werden. Für die Trigeminusneuralgie ist Carbamazepin jedoch weiterhin Mittel der ersten Wahl; das Krankheitsbild hat eine eigene Leitlinie. Keine generelle Empfehlung gibt es aufgrund unzureichender Daten auch für Lamotrigin, obwohl es Hinweise aus kleineren Einzelstudien auf einen Effekt bei der HIV-Neuropathie und bei zentralen Schmerzen gibt.
Die Leitlinie geht auch auf den Einsatz von Cannabinoiden ein, die seit 2017 mittels Betäubungsmittelrezept verordnet werden können. Laut Leitlinie können Cannabinoide zur Therapie neuropathischer Schmerzen jeglicher Ursache nicht empfohlen werden, da ihr Effekt eher gering ausgeprägt ist und die Nebenwirkungsrate hoch ist. Nur in Einzelfällen könne bei Versagen anderer Schmerztherapien der Einsatz von Cannabinoiden als Off-Label-Therapie im Rahmen eines multimodalen Schmerztherapiekonzepts erwogen werden.
Die Autoren verweisen darauf, dass Kombinationstherapien sinnvoll sein können, da dadurch die Einzeldosen reduziert werden können und synergistische Effekte möglich sind. Die neue Leitlinie ist bis zum April 2024 gültig.