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Spanische Grippe

Die fast vergessene Pandemie

Auf die Frage nach der größten Katastrophe des 20. Jahrhunderts lautet die Antwort meistens nicht: die Spanische Grippe. Das überrascht vor dem Hintergrund, dass der Epidemie vor hundert Jahren weltweit 50 bis 100 Millionen Menschen zum Opfer fielen und damit mehr Tote hinterließ, als die Schlachten des Ersten und Zweiten Weltkriegs zusammen.
Ulrike Abel-Wanek
27.09.2018  00:00 Uhr

Im Frühjahr 1918 mehren sich in Europa die Hinweise auf eine außergewöhnliche Grippewelle. Viele Menschen erkranken an heftigen Atemwegserkrankungen und Lungenentzündungen – darunter zahlreiche junge Soldaten. Ende Mai ist in einer Zeitung von 200 000 Infizierten allein in Spanien zu lesen – auch der spanische König Alfonso XIII ist erkrankt.

Während in kriegsführenden Ländern die beunruhigenden Pressemeldungen der Zensur unterliegen und sich der Fokus der Berichterstattung auf das Kriegsgeschehen konzentriert, berichten Journalisten aus dem neutralen Land der iberischen Halbinsel ausführlich über eine beängstigend epidemisch verlaufende neue Influenza. Schon bald ist aufgrund dieser Veröffentlichungen von der »spanischen Krankheit« die Rede, die als Spanische Grippe in die Geschichte einging, obwohl das Pyrenäenland sehr wahrscheinlich nicht der Ursprungsort der Seuche ist. Tatsächlich grassierte die Infektion im Juni 1918 schon fast überall. In den nordafrikanischen Mittelmeerstaaten ebenso wie in Portugal, Italien und Griechenland. In England, Schottland und Wales, Frankreich, Deutschland und Osteuropa. Innerhalb kurzer Zeit zieht sie um den ganzen Globus – von Kuba bis nach Indien, von Amerika zu den Philippinen.

Die Seuche infizierte damals jeden dritten Erdbewohner, insgesamt rund 500 Millionen Menschen. »Menschenschicksale, verkürzt zu nackten Ziffern« , schreibt der Mediziner Harald Salfellner in seinem Buch Die »Spanische Grippe« über die Seuche, die 2,5 bis 5 Prozent der Weltbevölkerung tötete. Eine Spannweite, die zeigt, wie vage die Erkenntnisse auch heute noch sind.

Hundert Jahre nach ihrem Ausbruch lässt sich immer noch nicht mit Bestimmtheit sagen, wie und wo die Spanische Grippe ins Rollen kam und wann das Pandemie auslösende Influenza-Virus vom Typ H1N1 von vermutlich Vögeln auf die menschliche Population überging und sich dort explosionsartig verbreitete. Ohne Zweifel tragen aber kriegerische Konflikte durch Hunger, Angst, Entwurzelung und mangelnde Hygiene dazu bei, die menschliche Infektanfälligkeit zu steigern. Hinzu kommen Truppentransporte und Flüchtlingsströme, die Keime jeder Art über die ganze Welt verteilen.

Es kursierten 1918 viele Spekulationen über den Herkunftsort der Katastrophe. Aus China, so hieß es, wäre die Grippe gekommen. Militärische Hilfskräfte hätten sie von dort in Europa eingeschleppt. Auch Russland stand im Verdacht. Schon 1889/90 hatte die Russische Grippe etwa eine Million Todesopfer gefordert.

Masseninfektionskrankheiten waren im 19. Jahrhundert durch die industrielle Revolution und wachsende Metropolen als Brutstätten von Krankheitskeimen auf dem Vormarsch. Bereits 1830 brach eine Influenza-Pandemie aus, die – vom Schweregrad, nicht von der Ausdehnung – mit der Spanischen Grippe vergleichbar gewesen sein soll, schreibt die Wissenschaftsautorin Laura Spinney in ihrem Buch »1918 – Die Welt im Fieber«.

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