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Pandemie-Prognose

Drei Szenarien zum weiteren Verlauf

Es ist die Frage, die sich aktuell jeder stellt: Wie wird sich die pandemische Lage weiterentwickeln? Mit Sicherheit kann das niemand sagen. Trotzdem wagen Experten eine Prognose.
Carolin Lang
15.05.2020  13:00 Uhr

Die Lockerung der Maßnahmen gegen die Ausbreitung des Coronavirus signalisiere in keiner Weise das Ende der Krise, betonte die Weltgesundheitsorganisation (WHO) vergangenen Mittwoch. Die Rückkehr in eine Art Normalität sei ein langer Weg, erklärte der WHO-Nothilfekoordinator Michael Ryan gegenüber der Deutschen Presseagentur (dpa). Doch wie lang ist dieser Weg?

Mehrere Experten des Center for Infectious Disease Research and Policy (CIDRAP) an der University of Minnesota in Minneapolis haben Szenarien für eine mögliche weitere Entwicklung der Coronavirus-Pandemie ausgearbeitet. Die Prognose bezieht sich dabei hauptsächlich auf die nördliche Hemisphäre. Die Experten-Gruppe hält vergangene Grippepandemien als am besten dafür geeignet, Rückschlüsse auf die heutige Situation zu ziehen. Denn auch wenn sich Corona- und Influenzaviren stark unterscheiden, so ließen sich doch einige Gemeinsamkeiten zwischen der Covid-19- und der Influenzapandemie feststellen. Die Epidemiologie von SARS-CoV-2 unterscheide sich stark von anderen Coronaviren wie SARS-CoV-1 und MERS-CoV, weshalb sich diese Erreger nicht als Vergleichsmodel eignen, so die Autoren.

Die Wissenschaftler machen deutlich, dass der weitere Pandemie-Verlauf noch immer nicht eindeutig vorhersehbar ist. Trotzdem versuchen sie aus vergangenen Ereignissen zu lernen und arbeiteten drei Szenarien für eine potenzielle weitere Entwicklung aus. Alle schließen an die Covid-19-Welle im Frühjahr 2020 an.

Gipfel und Täler

Im ersten Szenario folgt eine Reihe kleinerer Wellen. Diese werden sich konsistent über den Sommer und dann über weitere ein bis zwei Jahre erstrecken und irgendwann im Jahr 2021 allmählich abklingen. Das Ausmaß kann geografisch unterschiedlich sein und davon abhängen, welche Eindämmungsmaßnahmen jeweils getroffen werden. Abhängig von der Höhe der Wellenspitzen könnte dieses Szenario eine periodische Wiedereinführung und anschließende Lockerung von Maßnahmen über die nächsten ein bis zwei Jahre erfordern.

Höhepunkt im Herbst

In Szenario Nummer 2 folgen eine größere Welle im Herbst oder Winter 2020 sowie eine oder mehrere kleine weitere Wellen im Jahr 2021. Hier wären verstärkt Maßnahmen im Herbst nötig, um die Ausbreitung der Infektion einzudämmen und zu verhindern, dass die Gesundheitssysteme überfordert sind. Dieses Muster orientiert sich an dem der Spanischen Grippe in den Jahren 1918 und 1919.

Langsames Brennen

Im dritten und letzten Szenario folgt dem Peak im Frühjahr 2020 ein kontinuierliches Auftreten von Fällen ohne klares Muster. Das initiale Hoch wird dabei in diesem Modell nicht wieder erreicht. Lokale Unterschiede sind auch hier möglich. Während dieses dritte Muster bei früheren Grippepandemien nicht beobachtet wurde, bleibe es bei Covid-19 eine Möglichkeit, so die Forscher. Dieses Szenario würde voraussichtlich keine strengeren Maßnahmen erfordern, wäre aber weiterhin mit Fällen und Todesfällen verbunden.

Unabhängig davon, welches Szenario eintrete, müsse man auf mindestens 18 bis 24 Monate geografisch unterschiedlich stark ausgeprägter Krankheitsaktivität vorbereitet sein, schlussfolgern die Autoren.

Eine andere Perspektive

In einer anderen Publikation im Fachjournal »Science« prognostizieren US-amerikanische Wissenschaftler wiederkehrende winterliche Ausbrüche von SARS-CoV-2 (DOI: 10.1126/science.abb5793). Die Gruppe um Dr. Stephen M. Kissler von der Harvard T.H. Chan School of Public Health geht davon aus, dass, um eine Überlastung des Gesundheitssystems zu verhindern, bis 2022 verlängerte oder intermittierende soziale Distanzierungsmaßnahmen nötig sein könnten.

Ihre Prognose basiert auf Daten zur Saisonalität, Immunität und Kreuzimmunität von anderen Vertretern aus der Familie der Coronaviren. HCoV-OC43 und -HKU1 sind weltweit endemisch vorkommende Erreger, die häufig Verursacher von leichten respiratorischen Infektionen sind.

Ein wichtiger Aspekt zur Einschätzung des weiteren Verlaufs seien ausreichende Kenntnisse zur Immunität. Daher seien Längsschnittstudien dringend erforderlich, um das Ausmaß und die Dauer der Immunität gegen SARS-CoV-2 zu bestimmen, so die Autoren. Die Gesamtinzidenz von Infektionen bis 2025 werde entscheidend von der Dauer der Immunität und, in geringerem Maße, von der Kreuzimmunität zwischen HCoV-OC43/-HKU1 und SARS-CoV-2 abhängen. Selbst im Falle einer scheinbaren Eliminierung sollte die Überwachung von SARS-CoV-2 aufrechterhalten werden, da ein Wiederaufflammen von Ausbrüchen auch 2024 noch möglich sein könne.

»Es kann sein, dass es nie mehr verschwindet«

Nothilfekoordinator Ryan von der WHO zeigte sich gegenüber dpa skeptisch, dass das neue Coronavirus nach der rasanten Ausbreitung rund um den Globus noch eliminiert werden könne. Um SARS-CoV-2 effektiv auszurotten, müssten verschiedene Voraussetzungen erfüllt sein: Ein hocheffektiver Impfstoff müsse gefunden werden, er müsse im ausreichenden Maß hergestellt und in aller Welt verteilt werden. Außerdem müssten die Menschen dazu bereit sein, sich impfen zu lassen. Jeder einzelne dieser Schritte sei dabei voller Herausforderungen. Mit den richtigen Maßnahmen zur Erkennung von Infizierten, der Isolierung von möglicherweise Angesteckten und effektiven Behandlung von Patienten könne das Virus aber unter Kontrolle gehalten werden, betonte die WHO-Expertin Maria van Kerkhove.

Das Europa-Büro der WHO ruft die Europäer zu weiterer Wachsamkeit im Kampf gegen die Corona-Krise auf. Es gebe keinen Raum für Selbstgefälligkeit, sagte WHO-Regionaldirektor Dr. Hans Kluge. Die Regierungen und Behörden müssten ein offenes Ohr für ihre Bevölkerungen behalten, die Bürger weiter verantwortungsvoll handeln und sich an die Maßnahmen halten. »Jeder von uns prägt die Geschichte dieser Pandemie«, sagte er.

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