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Psychische Gesundheit

Erst schlaflos, dann krank

09.12.2015  09:21 Uhr

Von Annette Mende, Berlin / Psychisch Kranke leiden sehr häufig unter chronischer Schlaflosigkeit, und zwar schon lange, bevor sich erste psychische Symptome zeigen. Die Insomnie frühzeitig zu behandeln, könnte daher möglicherweise der Manifestation etwa von Depressionen vorbeugen.

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Dies ist ein Beitrag aus unserem Archiv. Aktuelle Informationen zum Thema finden Sie auf unserer Themenseite Schlaflosigkeit.

Wie eng Schlaf und Stimmung miteinander verknüpft sind, weiß jeder, den schon einmal nach einer schlaflosen Nacht Müdigkeit, Gereiztheit und Konzentrationsschwäche plagten. Bei den meisten Menschen renkt sich das wieder ein, sobald sie ausgeschlafen sind. Bestehen jedoch während mindestens eines Monats mindestens drei Mal pro Woche Ein- oder Durchschlafstörungen oder eine schlechte Schlafqualität, ist die Schlaflosigkeit chronisch und hat selbst Krankheitswert.

»Etwa 7 Prozent der Bevölkerung in Deutschland leiden an chronischer Insomnie«, sagte Professor Dr. Dieter Riemann vom Universitätsklinikum Freiburg beim Kongress der Deutschen Gesellschaft für Psychiatrie und Psychotherapie, Psychosomatik und Nervenheilkunde (DGPPN) in Berlin. Typisch für Insomniker ist das endlose Gedankenkreisen, das sie sich – gefühlt – stundenlang im Bett wälzen lässt. Dieser Eindruck ist jedoch meist falsch, wie Riemann bei Untersuchungen von Patienten im Schlaflabor feststellte: »Die Schlafzeit ist zwar signifikant verringert, aber im Schnitt lediglich um 25 Minuten. Wenn man die Patienten fragt, überschätzen sie diese Zeitspanne. Sie glauben, dass sie 90 bis 100 Minuten wach gelegen haben«, berichtete der Psychologe.

 

Gestörte Mikrostruktur

 

Die Erklärung für diesen Widerspruch: Die Mikrostruktur des Schlafs ist gestört. »Schlechte Schläfer sind über­erregbar, sie haben sehr viele sehr kurze Wachzeiten, insbesondere während des REM-Schlafs«, erklärte Riemann. Der REM-Schlaf, benannt nach den typischen schnellen Augenbewegungen (rapid eye movements), ist die Schlafphase, die bezogen auf die Gehirnaktivität dem Wachzustand am ähnlichsten ist. Während des REM-Schlafs träumt der Mensch intensiv und verarbeitet so Emotionen, die er am Tag erlebt hat. Bei Insomnikern sei der Schlaf kein stabiler Zustand, sondern »ein Oszillieren zwischen Schlaf und sehr kurzen Wachzuständen«, verglich Riemann. Dadurch erlebten die Patienten den REM-Schlaf nicht als Träumen, sondern als Grübeln.

 

Die Veranlagung, auf Stress mit Insomnie zu reagieren, ist zumindest teilweise genetisch beziehungsweise epigenetisch verankert. Ist man dann erst einmal um den Schlaf gebracht, wird dieser Zustand durch verschiedene Faktoren aufrechterhalten. Der wichtigste ist dabei die Verlängerung der Bettzeit. Klar: Wer schlecht schläft und folglich müde ist, legt sich abends früher ins Bett. Das ist aber grundfalsch, wie Riemann erklärte: »Wenn der Patient nicht direkt einschlafen kann, perpetuiert das die Insomnie.« Stattdessen sei, so paradox es klingen mag, Schlafrestriktion indiziert. Betroffene müssen so lange wie möglich wach bleiben, um den Schlafdruck zu erhöhen und so nach dem Zubettgehen sofort einschlafen zu können.

 

Verkürzte REM-Latenz

 

Menschen mit psychischen Erkrankungen schlafen meistens schlecht. So sind etwa bei depressiven Patienten die Tiefschlafphasen verkürzt und die Schlafkontinuität gestört. Zudem kommt es viel schneller als bei Gesunden nach dem Einschlafen zur ersten REM-Phase (Abbildung). Man spricht von einer verkürzten REM-Latenz oder auch einer REM-Schlaf-Dysregulation. Trizyklische Antidepressiva und MAO-Hemmer unterdrücken den REM-Schlaf, mit Cholinergika wie Galantamin lässt er sich experimentell induzieren.

 

»Diese Beobachtungen aus den 70er-Jahren passten wunderbar in das damalige biologische Depressions­modell«, so Riemann. Später musste man allerdings feststellen, dass Schizophrenie-Patienten ein ähnliches Schlafmuster zeigen wie Depressive, die Veränderungen also nicht spezifisch sind für Depression. Und in der Tat: Riemanns Forschungsgruppe konnte in einer noch nicht veröffentlichten Metaanalyse zeigen, dass bei nahezu allen psychischen Erkrankungen der Schlaf in irgendeiner Weise beeinträchtigt ist. Die einzige Ausnahme bildete die Aufmerksamkeitsdefizit-Hyperaktivitätsstörung (ADHS). »Das spricht dafür, dass ADHS keine Hyper- sondern eine Hypovigilanzstörung ist, weshalb sie ja auch mit Stimulanzien gut behandelt werden kann«, sagte der Referent.

 

Erhöhtes Depressionsrisiko

 

Schlechter Schlaf scheint offenbar tatsächlich ein Prädiktor für psychische Erkrankungen zu sein. In einer weiteren Metaanalyse fanden Riemann und sein Kollege Ulrich Voderholzer, dass chronisch Schlaflose ein etwa zweifach erhöhtes Risiko haben, in den nächsten fünf Jahren an einer Depression zu erkranken (»Journal of Affective Disorders« 2003, DOI: 10.1016/S0165-0327 (02)00072-1). Ähnliches konnte unterdessen für Suchterkrankungen gezeigt werden. Der Schlafforscher sieht daher in der Insomnie eine Art »Tor zur Psychopathologie«. Die Theorie: Für Schlaflosigkeit besteht eine genetische Veranlagung, der Auslöser ist dann Stress beziehungsweise das biologische Äquivalent, eine Aktivierung der Hypothalamus-Hypophysen-Nebennierenrinden (HPA)-Achse. Dieser Zustand wird chronisch, der REM-Schlaf verändert sich und dadurch auch die Emotionalität, was letztlich in eine psychische Erkrankung wie die Depression führen kann.

Lässt sich diese Entwicklung stoppen, indem man die Schlaflosigkeit frühzeitig – verhaltenstherapeutisch – behandelt? Riemann hält das für wahrscheinlich. Eine erste Studie in Austra­lien verfolgt diesen Ansatz, und zwar per Online-Intervention zur Stress­reduktion bei Personen mit sowohl Schlaflosigkeit als auch subklinischen Depressionssymptomen. »Nach fünf Wochen Behandlung zeigte sich eine Reduktion des Depressions-Scores, die stabil war«, berichtete Riemann von den noch nicht veröffentlichten Ergebnissen (Studienprotokoll online unter DOI: 10.1186/1745-6215-15-56).

 

Bei Menschen, die bereits eine depressive Episode hinter sich haben, ist schlechter Schlaf ein frühes Anzeichen für eine erneute Verschlechterung. »Das gibt man Patienten in Remission mit auf den Weg, dass sie sich wieder vorstellen sollen, sobald sie schlecht schlafen«, sagte Riemann. Und andersherum lässt sich Schlaf auch gezielt einsetzen, um depressive Symptome zu lindern.

 

Irgendetwas geschieht nämlich während des Schlafs, das die Stimmung verschlechtert. Depressive Patienten bessern sich häufig tagsüber, aber am nächsten Morgen geht es ihnen wieder schlechter. Woran das liegt, weiß man noch nicht genau, doch macht man sich die Wirkung im Rahmen der Wachtherapie klinisch zunutze. Eine Nacht lang nicht zu schlafen, hellt die Stimmung auf (lesen Sie dazu auch Depression: Wachtherapie für gute Stimmung). »Das ist ein plötzlicher Effekt, den wir etwa bei schwer depressiven Patienten nutzen, um ihnen deutlich zu machen, dass eine Besserung möglich ist«, erklärte Riemann.

 

Bloß kein Nickerchen

 

Allerdings hält die Wirkung nicht an; schon ein kurzes Nickerchen macht sie zunichte. Da auch der Zeitraum des Nachtschlafs eine Rolle zu spielen scheint, lässt sich der Effekt durch Vorverlagern des Schlafs in manchen Fällen stabilisieren. Bei diesem auch als Phase Advance bezeichneten Vorgehen schlafen die Patienten in der ersten Nachthälfte und wachen in der zweiten. Pro Tag wird der Schlafzeitraum dann um eine Stunde wieder nach hinten verlagert. Riemann zufolge profitieren vor allem melancholische Patienten vom Schlafentzug, bei bipolarer Störung ist dagegen Vorsicht geboten: »Diese Patienten können durch den Schlafentzug von der Depression in die Manie katapultiert werden«, warnte der Psychologe. /

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