Seit 100 Jahren bewährt |
06.12.2011 16:06 Uhr |
Von Siegfried Löffler, Kassel / Die jährlich stattfindende Richterwoche des Bundessozialgerichts zieht regelmäßig weit über 400 Wissenschaftler, Richter und Anwälte nach Kassel. Diesmal bot der 100. »Geburtstag« der Reichsversicherungsordnung (RVO) die Gelegenheit, sich kritisch mit dem letzten großen Gesetzeswerk des Deutschen Kaiserreichs zu beschäftigen.
Die Bilanz fiel positiv aus: Peter Masuch, Präsident des Bundessozialgerichts (BSG), würdigte die 1911 mit der RVO gelungene Vereinigung der sozialen Kranken-, Renten- und Unfallversicherung unter einem »gemeinsamen Dach« als wichtige Voraussetzung für die Rechtssicherheit. Wenngleich das Sozialgesetzbuch ab 1975 bis auf wenige Ausnahmen die RVO ersetzte, gelte es festzuhalten, dass die RVO mehr als ein halbes Jahrhundert lang das »sozialrechtliche Grundgesetz für die Mehrheit der Bevölkerung« war, so Masuch.
Was das materielle Sozialrecht angeht, glänzte die RVO vor hundert Jahren durchaus nicht mit einer spürbaren Anhebung des Leistungsniveaus der Bismarckschen Sozialgesetze. 1910 bezog ein durchschnittlicher Invalidenrentner weniger als 50 Pfennige täglich, eine Witwenrente belief sich 1912 auf jährlich durchschnittlich 77 Mark. Damit gewährleistete die Sozialversicherung ein Sicherungsniveau, das kaum oberhalb des Existenzminimums lag.
Am Bundessozialgericht in Kassel beschäftigte sich die Richterwoche mit der RVO.
Foto: imago/wolterfoto
Bedeutung erlangte die RVO eher dadurch, dass mit der Schaffung der Hinterbliebenenversorgung auch die Familien von 16 Millionen Rentenversicherten einbezogen wurden und die Zahl der Krankenversicherten um über ein Drittel anwuchs.
Im Bereich der Gesetzlichen Krankenversicherung hatte der erste Entwurf der RVO die Einführung der paritätischen Finanzierung durch hälftige Beiträge von Arbeitgebern und Arbeitnehmern, wie bereits in der Gesetzlichen Rentenversicherung, vorgesehen. Zunächst blieb es aber bei der Drittelfinanzierung, das heißt ein Drittel brachten die Arbeitgeber auf, während die Arbeitnehmer zwei Drittel zahlen mussten. Der Durchbruch gelang erst nach heftigen Diskussionen durch das Sozialversicherungsanpassungsgesetz von 1949.
Der Bundesminister für Gesundheit, Daniel Bahr, erinnerte zum Auftakt der BSG-Richterwoche daran, dass das deutsche Gesundheitswesen nach wie vor im internationalen Vergleich als vorbildlich gelte, was Zuverlässigkeit und Anspruchsgerechtigkeit angehe.
Mehr Eigenverantwortung
Bahr ließ jedoch keinen Zweifel daran, dass es auch bei der Krankenversicherung eine »starke Säule der Eigenverantwortung« geben müsse. Dazu gehöre das Bemühen, auf mehr Bewegung und gesunde Ernährung zu achten. Selbstverständlich müssten auch künftig alle Bürger Zugang zu medizinischen Maßnahmen haben, die »erforderlich und ausreichend« seien. Es gehe angesichts begrenzter Ressourcen aber mehr denn je um Ausgewogenheit zwischen Eigenverantwortung und Solidarität. Selbstverständlich müsse sich bei schweren Krankheitsfällen weiterhin die Solidarität bewähren, sagte Bahr. /