Pharmazeutische Zeitung online
Deprescribing

Wenn weniger mehr ist

21.11.2017  15:11 Uhr

Von Iris Hinneburg / Können ältere multimorbide Patienten verordnete Arzneimittel einfach weglassen? Die Kunst des »Deprescribing« soll sie von Mitteln befreien, die ihnen mehr schaden als nützen. Trotz einiger systematischer Untersuchungen bestehen noch viele Forschungslücken zum Patientennutzen und zur konkreten Umsetzung.

Wer unter mehreren chronischen Erkrankungen leidet, muss meist viele Arzneimittel einnehmen. Betroffen sind in der Regel ältere Patienten. Sie sind oft besonders empfänglich für Neben­wirkungen, etwa durch anticholinerge oder sedierende Effekte. Auch Gebrechlichkeit oder eine nachlassende Nierenfunktion gelten als Risikofaktoren für unerwünschte Arzneimittelwirkungen (UAW). Begünstigt werden diese durch Interaktionen der Medikamente sowie Wechselwirkungen mit Grunderkrankungen, die bei der Verordnung nicht immer ausreichend bedacht werden, vor allem wenn mehrere Ärzte beteiligt sind.

Hinzu kommt, dass sich der Nutzen von präventiven Medikamenten im Lauf des Lebens verändern kann. Unter Umständen tritt die vorbeugende Wirkung erst zu einem Zeitpunkt ein, den der Patient aus Altersgründen voraussichtlich nicht mehr erlebt.

 

In der Summe können Arzneimittel dann mehr Schaden als Nutzen anrichten und geriatrische Syndrome verstärken. Probleme wie Stürze, Verwirrtheit oder Inkontinenz beeinträchtigen die Lebensqualität der Patienten erheblich und können zu Knochenbrüchen, Krankenhausaufenthalten und Pflegebedürftigkeit führen (1).

 

In den letzten Jahren hat sich der Blick auf Verordnungen für Menschen mit mehreren Erkrankungen gewandelt. Ging es früher eher um die Frage, welches weitere Arzneimittel hilfreich sein könnte, steht inzwischen auch die Last im Fokus, die eine Arzneitherapie für die Betroffenen bedeuten kann. Steht dieser Belastung kein entsprechender Nutzen gegenüber, wird zunehmend häufiger das Schlagwort »Deprescribing«, das heißt die Zurücknahme einer oder mehrerer Verord­nungen, ins Spiel gebracht.

 

Anlässe nicht verpassen

 

In der Literatur werden Situationen diskutiert, in denen Arzt und Patient gemeinsam die Medikation bewerten und bei Bedarf über ein Absetzen nachdenken sollten. Die hausärztliche Leit­linie Multimedikation empfiehlt, bei Patienten mit Multimedikation, das heißt etwa mit mindestens fünf Arzneimitteln und/oder mindestens drei chro­nischen Erkrankungen, grundsätzlich ­einmal im Jahr die medikamentöse Behand­lung vollständig zu erfassen und zu bewerten (1). Das gilt besonders dann, wenn der Patient Arzneimittel mit hohem Interaktionspotenzial oder einer engen therapeutischen Breite erhält. Daneben kann es auch akute Anlässe zum Deprescribing geben (2, 3),

 

  • wenn Symptome auftreten, die möglicher­weise eine Nebenwirkung eines Medikaments sind (Kasten),
  • wenn es dem Patienten schwerfällt, die Medikamente wie verordnet einzunehmen oder
  • wenn sich die Behandlungs­prioritäten verändern, beispielsweise wenn eine weitere schwere ­Erkrankung hinzukommt, die die Lebens­dauer begrenzt,
  • wenn der Patient aus dem Krankenhaus entlassen wird oder den Arzt wechselt.

Schritt für Schritt vorgehen

 

Das Ziel des Deprescribing ist es, Multimedikation zu reduzieren und patientenrelevante Endpunkte zu verbessern. Der komplexe systematische Prozess verläuft in mehreren Schritten. Er beginnt mit einer Aufstellung der Medikation, danach folgt eine Bewertung des Gesamtrisikos und der einzelnen Arzneimittel. Dieses Vorgehen mündet in eine gemeinsame Entscheidung zum Beibehalten, Reduzieren oder Absetzen bestimmter Medikamente oder dem Ausweichen auf Alternativen sowie der weiteren Überwachung des Patienten (2, 3, 4).

 

Der erste Schritt sollte eine komplette Bestandsaufnahme sein: Welche Arzneimittel nimmt der Patient ein? Dazu gehören neben der verordneten Bedarfs- und Dauermedikation auch OTC-Arzneimittel und Nahrungsergänzungsmittel aus diversen Bezugsquellen. Sinnvoll ist zudem, die Therapietreue zu erfragen.

 

Das Gesamtrisiko lässt sich sowohl an den Eigenschaften der Arzneimittel als auch an denen des Patienten festmachen. Nimmt er eine Vielzahl an Arznei­mitteln ein und sind darunter Medikamente mit besonderem Risikoprofil? Ist der Patient hochbetagt, kogni­tiv eingeschränkt und/oder leidet an mehreren chronischen Erkrankungen? Stammen die verordneten Arzneimittel von verschiedenen Ärzten?

Achtung: Nebenwirkungen

Unspezifische Symptome können mögliche Hinweise auf unerwünschte Arzneimittel­wirkungen sein (1). Dazu gehören:

 

  • trockener Mund
  • Abgeschlagenheit, Müdigkeit, Schläfrigkeit oder reduzierte Wachsamkeit, Schlafstörungen
  • Schwäche
  • Bewegungsstörung, Tremor, Stürze
  • Verstopfung, Durchfall, ungewollter Harnverlust, Appetitlosigkeit, Übelkeit
  • Hautausschlag, Juckreiz
  • Depression oder mangelndes Interesse an den üblichen Aktivitäten
  • Verwirrtheit (zeitweise oder dauerhaft)
  • Halluzinationen
  • Angst und Aufregung
  • Nachlassen des sexuellen Interesses
  • Schwindel
  • Ohrgeräusche

Individuelle Betrachtungen

 

Bei der Bewertung der Arzneimitteltherapie steht die Situation des Patienten an erster Stelle (Grafik). Welche Therapieziele sind sinnvoll? Sind präven­tive Maßnahmen in Anbetracht der voraussichtlichen Lebenserwartung wünschenswert oder steht die Linderung von Symptomen im Mittelpunkt? Belasten ein komplexes Medikations­regime oder unerwünschte Arzneimittelwirkungen die Lebensqualität des Patienten?

 

Ein Gespräch über diese Fragen stellt die Weichen für das weitere Vorgehen. Dabei ist es wichtig, dass der Patient seine individuellen Wünsche, Bedürfnisse und Präferenzen in den Prozess einbringen kann.

 

Für jedes Medikament sollte der Arzt Nutzen und Risiken für den Patienten kritisch hinterfragen (Tabelle 1):

 

  • Besteht die Indikation noch, für die das Arzneimittel ursprünglich ­verordnet wurde?
  • Hilft das Mittel dem Patienten ­tatsächlich?
  • Erfolgte die Verordnung eventuell zur Behandlung anderer UAW?
  • Verursacht das Medikament Nebenwirkungen, die den Patienten ­belasten oder möglicherweise zu Folge­komplikationen wie Stürzen führen können (Kasten)?
  • Hat sich die Situation des Patienten seit der ursprünglichen Verordnung verändert, sodass die Nutzen-Risiko-Bilanz anders ausfällt, etwa bei einer fortschreitenden Niereninsuffizienz?
  • Gibt es besser verträgliche thera­peutische Alternativen, eventuell auch nicht-medikamentöse Maßnahmen?

 

Hilfsmittel für die Evaluierung können etwa der Medication Appropriateness Index (MAI) sein oder Listen zur Iden­tifizierung potenziell ungeeigneter Medika­mente wie die PRISCUS- oder FORTA-Liste, die Beers- oder START/STOPP-Kriterien, die im Titelbeitrag der Pharmazeutischen Zeitung, Ausgabe 31/2017, vorgestellt wurden (1, 3, 4).

Tabelle 1: Beispiele für Situationen und Arzneistoffe, bei denen Arzt und Patient ein Deprescribing oder eine Therapieveränderung bedenken sollten; nach (20)

Kriterium Beispiel
fehlende Wirksamkeit Nicht-Ansprechen auf Antidepressiva
fehlende Indikation Protonenpumpenhemmer, der während eines Krankenhaus­aufenthalts prophylaktisch verordnet und nach der Entlassung weitergeführt wurde
unwahrscheinlicher Nutzen Statine in der Primärprävention für Patienten mit einer Lebenserwartung unter fünf Jahren

Prioritäten setzen

 

Auf dieser Basis können Arzt und Pa­tient gemeinsam entscheiden, welche Medikamente reduziert oder komplett abgesetzt werden sollen. Für jedes Arznei­mittel sollte der Arzt einen Plan erstellen, wie das Absetzen konkret ablau­fen sollte: Ist ein Ausschleichen der Dosis ratsam oder kann das Mittel abrupt abgesetzt werden?

 

Je nach Medikation und Erkrankung ist zu bedenken, dass möglicherweise Entzugssymptome, Rebound-Effekte oder die ursprünglich kontrollierten Beschwerden (wieder) auftreten können. Im Zweifelsfall ist bei längerfristiger Einnahme eine schrittweise Senkung der Dosis zu bevorzugen. Konkret gilt das beispielsweise für psychotrope Substanzen wie Benzodiazepine sowie für Antihypertonika, Glucocorticoide, Levodopa und Opioide (1).

 

Zu bedenken sind auch mögliche pharmakokinetische Auswirkungen der veränderten Medikation. So kann das Absetzen eines Enzyminduktors dazu führen, dass die Wirkspiegel anderer Arzneistoffe steigen, wenn diese über das gleiche Enzym abgebaut werden. Auch können sich beispielsweise Elektrolyt­störungen entwickeln, wenn kaliumsenkende und -erhöhende Arzneistoffe gleichzeitig verordnet waren und einer davon plötzlich abgesetzt wird (5).

 

Sinnvoll ist in der Regel, ein Medikament nach dem anderen abzusetzen und nicht mehrere gleichzeitig, damit sich mögliche unerwünschte Effekte leichter zuordnen und überwachen ­lassen. Sollen mehrere Arzneimittel abge­setzt werden, ist zu klären, mit welchem Mittel man beginnt. Infrage kommen etwa Medikamente mit dem größten Risiko und geringsten Nutzen, Mittel, die vermutlich ohne schwerwiegende Nebenwirkungen leicht abzusetzen sind, sowie diejenigen, auf die der Patient am ehesten verzichten ­würde (3).

Absetzen überwachen

 

Daher ist beim Absetzen von Medikamenten immer die gleiche Aufmerksamkeit geboten wie bei Beginn einer Pharmakotherapie. Der Patient sollte während des Absetzens und danach langfristig überwacht werden, um mögliche Nebenwirkungen oder wiederauftretende Symptome schnell erfassen zu können.

 

Für diese Kontrollen sollte der Arzt Zeitabstände und Zeiträume festlegen. Je nach Medikament kann das von einigen Tagen bis hin zu mehreren Monaten reichen. Der Patient muss auch ­wissen, welche Symptome durch das Absetzen entstehen können und wie er sich dann verhalten soll. Dazu können Selbsthilfemaßnahmen gehören, aber auch umgehende Arztbesuche.

 

Inzwischen gibt es einige Studien zu verschiedenen Arzneistoffen oder Arzneistoffgruppen, die das konkrete Vorgehen und die Konsequenzen beim Depre­scribing erforscht haben. Dazu gehören etwa Statine, Benzodiazepine und Protonenpumpenhemmer (PPI).

 

Statine bis zum Lebensende?

Statine gehören zu den wichtigsten Arzneimitteln zur Prävention von kardiovaskulären Ereignissen und Todesfällen und werden entsprechend häufig verordnet. Während der Stellenwert in der Sekundärprävention nach Herzinfarkt und Schlaganfall relativ eindeutig ist, wird die Größenordnung des Nutzens in der Primärprävention – also ohne vorhergehendes kardiovaskuläres Ereignis – kontrovers diskutiert (6). Das gilt besonders bei älteren Patienten (7). Deshalb kann ein Verzicht auf Statine sinnvoll sein, wenn die verbleibende Lebens­erwartung eher gering eingeschätzt wird.

 

Eine randomisierte kontrollierte Studie untersuchte das Absetzen von Statinen bei rund 380 Patienten mit ­einer begrenzten Lebenserwartung zwischen einem Monat und einem Jahr, die den Lipidsenker zuvor mindestens drei Monate lang zur primären oder sekundären Prävention eingenommen hatten (8). Die Patienten wurden nach dem Zufallsprinzip einer von zwei Gruppen zugeteilt: Eine Gruppe setzte das Statin ohne Dosisreduktion ab, die andere nahm es wie bisher ­weiter. Nach einem Jahr verglichen die Forscher unter anderem die Auswirkungen auf Sterblichkeit, kardiovas­kuläre Ereignisse und Lebens­qualität. Dabei konnten sie keine wesentlichen Unterschiede zwischen den Gruppen feststellen. Allerdings gab es relativ große Unterschiede in den Gruppen, sodass der Effekt nur unpräzise geschätzt werden konnte. Außerdem waren weder Pa­tienten noch Ärzte verblindet. Eingeschlossen wurden nur Patienten, bei denen die Ärzte das Risiko für ein kardiovaskuläres Ereignis in naher Zukunft für unwahrscheinlich hielten.

 

Diese Aspekte schränken die Aussagekraft und die Übertragbarkeit der Studie ein (9). Weitere Untersuchungen mit guter Methodik sind notwendig.

 

Säureblocker wieder loswerden

 

PPI gelten als Mittel der ersten Wahl bei der gastroösophagealen Refluxkrankheit (GERD) und bei peptischen Ulzera. Für diese Indikationen beträgt die initiale Behandlungsdauer in der Regel wenige Wochen bis Monate. Eine Dauermedikation ist meist nur bei Pa­tienten mit hohem Risiko für gastro­intestinale Blutungen, schwerer Ösophagitis oder speziellen Erkrankungen wie Barrett-Ösophagus oder Zollinger-Ellison-Syndrom vorgesehen. In der Praxis werden PPI jedoch häufig langfristig verordnet, ohne die weitere Notwendigkeit regelmäßig zu überprüfen (1, 10).

 

Obwohl Patienten eine kurzfristige PPI-Gabe meist gut vertragen, deuten Beobachtungsstudien bei Dauertherapie auf mögliche Probleme hin. So fanden Forscher in Studien statistische Zusammenhänge zwischen einer langfristigen Behandlung mit PPI und einem erhöhten Risiko für Frakturen, Infek­tionen mit Clostridium difficile oder Hypomagnesiämie (1). PPI gelten deshalb als mögliche Kandidaten, wenn die Medikamentenlast älterer Patienten reduziert werden soll. Allerdings fehlen qualitativ hochwertige Studien, die einen Effekt des Deprescribing auf patientenrelevante Endpunkte zeigen (10).

Tabelle 2: Daten zu Deprescribing-Strategien bei PPI für Studienteilnehmer mit leichter gastroösophagealer Refluxkrankheit (GERD) mit oder ohne leichte bis mittelschwere Ösophagitis, die nach mindestens vierwöchiger Einnahme von PPI beschwerdefrei sind; n

Vergleiche und Endpunkt Ergebnis Datenbasis Qualität der Evidenz
On-demand-Therapie versus kontinuierliche Therapie, Endpunkt fehlende Symptomkontrolle 15,7 versus 9,2 Prozent RR = 1,71 (95-%-KI: 1,31 bis 2,21) 5 RCT mit insgesamt 1653 Teilnehmern niedrig
Abruptes Absetzen versus kontinuierliche Therapie, Endpunkt fehlende Symptomkontrolle 67,8 versus 22,4 Prozent, RR = 3,02 (95-%-KI: 1,74 bis 5,24) 1 RCT mit 105 Teilnehmern sehr niedrig
PPI-Erhaltungsdosis versus Standarddosis, Endpunkt wiederkehrende Symptome 42,3 versus 42,6 Prozent, RR 1,16 (95-%-KI: 0,93 bis 1,44) 5 RCT mit insgesamt 1912 Teilnehmern niedrig
PPI-Erhaltungsdosis versus Standarddosis, Endpunkt wiederkehrende Ösophagitis 24,9 versus 15,6 Prozent, RR 1,54 (95-%-KI: 1,25 bis 1,89) 6 RCT mit insgesamt 2107 Teilnehmern moderat
H2-Rezeptorantagonisten versus kontinuierliche Gabe von PPI, Endpunkt wiederkehrende Symptome 39,2 versus 20,8 Prozent, RR 1,92 (95-%-KI: 1,44 bis 2,58) 3 RCT mit insgesamt 468 Teilnehmern moderat
H2-Rezeptorantagonisten versus kontinuierliche Gabe von PPI, Endpunkt wiederkehrende Ösophagitis 50 versus 14,9 Prozent, RR 3,52 (95-%-KI: 1,80 bis 6,87) 3 RCT mit insgesamt 484 Teilnehmern moderat

Verschiedene Strategien zum Absetzen

 

Eine Sorge beim Beenden der PPI-Thera­pie besteht in einem möglichen Rebound. Gerade nach längerer Einnahme kann die Säureproduktion des Magens abrupt ansteigen, wenn PPI abgesetzt werden. Dadurch können sich die Reflux-Symptome des Patienten verschlechtern.

 

Welchen Einfluss verschiedene Deprescribing-Strategien darauf haben, wurde in einem aktuellen Cochrane-Review untersucht (11). Eingeschlossen wurden Studien mit Patienten, die mindestens vier Wochen lang einen PPI eingenommen hatten, und die eine Deprescribing-Strategie mit fortgesetzter Einnahme verglichen. Die Review-Autoren konnten allerdings nur Studien mit zwei verschiedenen Deprescribing-Strategien identifizieren. Eine Studie untersuchte die Konsequenzen des abrup­ten Absetzens. In fünf weiteren Studien wurde die Dauermedikation abgesetzt, allerdings konnten die Patienten bei erneuten Symptomen nach Bedarf kurzfristig einen PPI einnehmen (on-demand-Behandlung). Studien zur schrittweisen Dosisreduktion fanden die Autoren nicht.

Die Patienten in den Studien zum Vergleich mit einer Bedarfstherapie waren zwischen 48 und 57 Jahren alt und litten unter leichter GERD mit oder ohne leichte Ösophagitis. Zwar klagten in der Gruppe mit kontinuierlicher Einnahme weniger Patienten über eine unzureichende Symptomkontrolle, jedoch erreichten auch mit Bedarfs­therapie mehr als 80 Prozent eine ausreichende Kontrolle der Symptome. Zudem konnten die Teilnehmer mit Bedarfs­therapie ihre wöchentliche Medikamenten­einnahme um rund vier Tabletten reduzieren. Wegen diverser methodischer Mängel in den Studien, die die Symptomkontrolle untersuchten, bewerteten die Review-Autoren dieses Ergebnis als Evidenz von niedriger Qualität.

 

In der Studie mit abruptem Absetzen der PPI waren die Patienten mit durchschnittlich 73 Jahren deutlich ­älter und litten unter leichter bis mittlerer Ösophagitis. Unzureichende Symptomkontrolle beklagten 22 Prozent der Patienten mit fortgesetzter Einnahme und 68 Prozent der Patienten nach abruptem Absetzen. Allerdings heißt das auch: Rund ein Drittel der Patienten vertrug das abrupte Absetzen gut. Die Review-Autoren bewerteten diese Ergebnisse wegen methodischer Mängel und der relativ geringen Teilnehmerzahl als Evidenz von sehr niedriger Qualität. Eingeschränkt wird die Aussagekraft aller Studien durch die relativ ­kurze Nachbeobachtungszeit von drei bis sechs Monaten.

 

Empfehlungen für PPI

 

Auf der Basis dieses Reviews und weiterer Studiendaten zur Erhaltungstherapie bei Refluxösophagitis (Tabelle 2) wurde eine kanadische Leitlinie zum Deprescribing von PPI entwickelt. Wenn Erwachsene mit säurebedingten Oberbauchbeschwerden nach vierwöchiger Behandlung symptomfrei sind und keine Faktoren vorliegen, die eine fortgesetzte Behandlung notwendig machen, empfehlen die Leitlinien-Auto­ren bevorzugt eine Reduktion der täglichen Dosis oder Absetzen des PPI und kurzfristige Behandlung mit PPI im Bedarfsfall. Nachgeordnet kann auch die Gabe von H2-Rezeptorantagonisten als Alternative erwogen werden.

Verhaltensmaßnahmen

… zur Reduktion von Schlaflosigkeit beim Deprescribing von Benzodiazepinen, nach (14):

 

  • nur ins Bett gehen, wenn man sich schläfrig fühlt
  • Schlafzimmer nur zum Schlafen oder Sex, aber nicht als Aufenthaltsort während des Tages nutzen
  • Schlafzimmer verlassen, wenn man eine halbe Stunde nach dem Zubett­gehen (oder nächtlichen Aufwachen) nicht wieder eingeschlafen ist. Bei Bedarf wiederholen
  • Wecker für eine regelmäßige Aufsteh­zeit am Morgen nutzen
  • keine Schlafpausen tagsüber einlegen
  • Koffein nach Mittag vermeiden
  • innerhalb von zwei Stunden vor der geplanten Schlafenszeit Sport, Nikotin, Alkohol und schwere Mahlzeiten vermeiden

Zur Empfehlung gehört auch die Überwachung der Patienten über drei Monate. Treten in diesem Zeitraum wieder Beschwerden auf, können die Symptome mit OTC-Mitteln, zum Beispiel PPI, H2-Antagonisten oder Alginaten, behandelt werden. Auch nicht-medikamen­töse Maßnahmen werden empfohlen, etwa das Höherstellen des Betts, zeitlicher Abstand von zwei bis drei Stunden zwischen Abendmahlzeit und Zubettgehen sowie bei Bedarf Senkung von Übergewicht und Ver­meiden von bestimmten Lebensmitteln, die die Patienten als Auslöser von Beschwerden erkannt haben.

 

Falls die Beschwerden dennoch dauerhaft weiterbestehen, empfiehlt die Leitlinie eine weiterführende Diagnostik, etwa auf Helicobacter-pylori-Befall. Arzt und Patient sollten dann gemeinsam überlegen, die ursprüngliche Therapie wieder aufzunehmen (12).

 

Benzodiazepine absetzen

 

Benzodiazepine und Z-Substanzen werden hauptsächlich bei Schlafstörungen und Angsterkrankungen eingesetzt. Sie können jedoch besonders bei längerer Anwendung zu Toleranzentwicklung und/oder Abhängigkeit führen und gerade bei älteren Patienten das Risiko für Stürze und Knochenbrüche erhöhen. Beobachtungsstudien deuten auch auf einen möglichen statistischen Zusammenhang zwischen der Einnahme von Benzodiazepinen und der Entwicklung einer Demenz hin. Allerdings ist nicht zweifelsfrei geklärt, ob es sich dabei tatsächlich um einen kausalen Zusammenhang handelt oder die Sedativa nicht vielmehr für Schlafstörungen verordnet werden, die im Prodromalstadium einer bisher nicht diagnostizierten Demenz auftreten.

 

Eine systematische Übersichtsarbeit identifizierte fünf randomisierte kon­trollierte Studien zum Deprescribing von Benzodiazepinen und Z-Substanzen, in denen verschiedene Strategien bei Patienten ab 65 Jahren nach mindestens vierwöchiger Therapie untersucht wurden. Zu den untersuchten Strategien gehörten Dosisreduktion, Ersatz der Benzodiazepine durch Melatonin, Medikationsanalyse und Patientenedukation, teilweise auch in Kombination. In vielen Studien gelang der Benzodiazepin-Entzug ohne schwerwiegende Nebenwirkungen. Allerdings ließ sich kein eindeutiger Effekt auf patienten­relevante Endpunkte zeigen, da entsprechende Zielgrößen nicht ­immer untersucht wurden und/oder die Teilnehmerzahlen in den meisten Studien für einen Nachweis zu gering waren. Auch lassen sich keine verläss­lichen Aussagen ableiten, welche ­Strategie am erfolgversprechendsten erscheint. Hier besteht also weiterer Forschungsbedarf (13).

Die Autorin

Iris Hinneburgstudierte Pharmazie an der Philipps-Universität in Marburg und wurde an der Martin-Luther-Universität Halle-Witten­berg promoviert. Nach Tätigkeiten in Forschung und Lehre in Halle und Helsinki (Finnland) arbeitet sie heute frei­beruflich als Medizinjournalistin. Ihr Schwerpunkt ist die pharmazeutische Fortbildung. Sie ist Fachbuchautorin und produziert einen Podcast mit Themen aus Medizin und Pharma­zie für die Fortbildung in der Apotheke.

 

Dr. Iris Hinneburg

Wegscheiderstraße 12

06110 Halle (Saale)

www. medizinjournalistin.blogspot.com

Weg von Sedativa

 

Derzeit wird in Kanada eine Leitlinie zum Deprescribing von Sedativa wie Benzodiazepinen und Z-Substanzen entwickelt. Ein entsprechender Algorithmus ist bereits veröffentlicht. Danach wird eine Reduktion beziehungsweise Absetzen nur dann empfohlen, wenn die Sedativa zur Behandlung von Schlaflosigkeit verordnet wurden. Zur Behandlung von Angststörungen und anderen psychischen Erkrankungen wird in der Regel eine Weiterbehandlung nötig sein.

 

Der Arzt sollte bei Menschen mit Schlafproblemen immer dann über ein Deprescribing sprechen, wenn diese 65 Jahre oder älter sind oder wenn jünge­re Patienten seit mehr als vier Wochen mit Benzodiazepinen behandelt werden. Konkret sieht die Leitlinie eine schrittweise Dosisreduktion vor. Möglich ist beispielsweise, die Dosis alle zwei Wochen um ein Viertel zu reduzieren. Gegen Ende dieses Prozesses können auch kleinere Schritte oder eine alternierende Einnahme mit Benzodiazepin-freien Tagen sinnvoll sein.

 

Während des Absetzens können Schlaflosigkeit, Ängstlichkeit, Reizbarkeit, Schwitzen oder gastrointestinale Symptome auftreten. Deshalb wird eine ärztliche Überwachung im Abstand von etwa zwei Wochen empfohlen. Zusätzlich können Verhaltensmaßnahmen (Kasten) oder eine kognitive Verhaltenstherapie bei erneuten Schlafproblemen hilfreich sein. Wenn diese Strategien nicht ausreichen, empfiehlt die Leitlinie, zur kleinsten vorher wirksamen Benzodiazepin-Dosis zurückzukehren und das Ausschleichen nach einer bis zwei Wochen erneut, aber in noch kleineren Schritten zu probie­ren (14).

 

Was nützt das Deprescribing?

 

Es gibt Hinweise aus randomisierten kontrollierten Studien, dass Maßnahmen zum Deprescribing möglicher­weise die Anzahl der verschriebenen Arzneimittel reduzieren und die Angemessenheit der Medikation verbessern (15–17). Allerdings ist die Datenlage sehr heterogen. Bisher ist nicht ausreichend belegt, dass Deprescribing sich positiv auf die Sterblichkeit oder die Lebensqualität auswirkt. Auch für andere patienten­relevante Endpunkte, etwa Stürze oder Krankenhauseinweisungen, ist die Studienlage nicht eindeutig (18, 19).

 

Festzuhalten ist: Auch wenn Deprescribing der Theorie nach sinnvoll bei älteren multimorbiden Patienten sein könnte, ist die Datenlage noch rela­tiv dünn. Das gilt sowohl für die Auswirkungen auf patientenrelevante Endpunkte als auch für vergleichende Untersuchungen zu Deprescribing-Strategien für verschiedene Wirkstoffe. Es bleibt zu hoffen, dass sich die Studien­lage zukünftig deutlich verbessern wird. /

 

Literatur

 

  1. Hausärztliche Leitlinie: Multimedikation. 2014. Verfügbar unter: www.awmf.org/leitlinien/detail/ll/053-043.html; zugegriffen am 12. Okt.2017.
  2. Jansen, J., et al., Too much medicine in older people? Deprescribing through shared decision making. BMJ, 353 (2016) i2893.
  3. Scott, I. A., et al., Reducing inappropriate polypharmacy: the process of deprescrib­ing. JAMA Intern Med 175 (2015) 827-834.
  4. Reeve, E., et al., Deprescribing: A narrative review of the evidence and practical recommendations for recognizing opportunities and taking action. Eur. J. Intern. Med. 38 (2017) 3–11.
  5. Reeve, E., et al., The benefits and harms of deprescribing. Med J Aust 201 (2014) 386–389.
  6. Otto, C. M., Statins for primary prevention of cardiovascular disease. BMJ 355 (2016) i6334.
  7. Han, B. H., et al., Effect of Statin Treatment vs Usual Care on Primary Cardiovascular Prevention Among Older Adults: The ALLHAT-LLT Randomized Clinical Trial. JAMA Intern Med 177 (2017) 955–965.
  8. Kutner, J. S., et al., Safety and Benefit of Discontinuing Statin Therapy in the Setting of Advanced, Life-Limiting Illness: A Randomized Clinical Trial. JAMA Internal Medicine 175 (2015) 691.
  9. National Guideline Centre (UK), Multimorbidity: Assessment, Prioritisation and Management of Care for People with Commonly Occurring Multimorbidity. National Institute for Health and Care Excellence (UK), London 2016. Verfügbar unter: www.ncbi.nlm.nih.gov/books/NBK385543/; zugegriffen am 12. Okt. 2017.
  10. Wilsdon, T. D., et al., Effectiveness of Interventions to Deprescribe Inappropriate Proton Pump Inhibitors in Older Adults. Drugs Aging 34 (2017) 265-287.
  11. Boghossian, T. A., et al., Deprescribing versus continuation of chronic proton pump inhibitor use in adults. Cochrane Database Syst Rev 3 (2017) CD011969.
  12. Farrell, B., et al., Deprescribing proton pump inhibitors: Evidence-based clinical practice guideline. Canadian Family Physician 63 (2017) 354–364.
  13. Reeve, E., et al., A systematic review of interventions to deprescribe benzodiazepines and other hypnotics among older people. Eur J Clin Pharmacol 73 (2017) 927-935.
  14. Benzodiazepine and Z-drug deprescribing algorithm, (2016). Verfügbar unter: www.open-pharmacy-research.ca/wordpress/wp-content/uploads/deprescribing-algorithm-benzodiazepines.pdf.
  15. Hill-Taylor, B., et al., Effectiveness of the STOPP/START (Screening Tool of Older Persons’ potentially inappropriate Prescriptions/Screening Tool to Alert doctors to the Right Treatment) criteria: systematic review and meta-analysis of randomized controlled studies. J Clin Pharm Ther 41 (2016) 158–169.
  16. Wehling, M., et al., VALFORTA: a randomised trial to validate the FORTA (Fit fOR The Aged) classification. Age Ageing 45 (2016) 262-267.
  17. Patterson, S. M., et al., Interventions to improve the appropriate use of polypharmacy for older people. Cochrane Database Syst Rev (2014) CD008165.
  18. Johansson, T., et al., Impact of strategies to reduce polypharmacy on clinically relevant endpoints: a systematic review and meta-analysis. Br J Clin Pharmacol 82 (2016) 532-548.
  19. Alldred, D. P., et al., Interventions to optimise prescribing for older people in care homes. Cochrane Database Syst Rev 2 (2016) CD009095.
  20. McGrath, K., et al., Deprescribing: A simple method for reducing polypharmacy. J Fam Pract 66 (2017) 436-445.

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