Wenn weniger mehr ist |
21.11.2017 15:11 Uhr |
Von Iris Hinneburg / Können ältere multimorbide Patienten verordnete Arzneimittel einfach weglassen? Die Kunst des »Deprescribing« soll sie von Mitteln befreien, die ihnen mehr schaden als nützen. Trotz einiger systematischer Untersuchungen bestehen noch viele Forschungslücken zum Patientennutzen und zur konkreten Umsetzung.
Wer unter mehreren chronischen Erkrankungen leidet, muss meist viele Arzneimittel einnehmen. Betroffen sind in der Regel ältere Patienten. Sie sind oft besonders empfänglich für Nebenwirkungen, etwa durch anticholinerge oder sedierende Effekte. Auch Gebrechlichkeit oder eine nachlassende Nierenfunktion gelten als Risikofaktoren für unerwünschte Arzneimittelwirkungen (UAW). Begünstigt werden diese durch Interaktionen der Medikamente sowie Wechselwirkungen mit Grunderkrankungen, die bei der Verordnung nicht immer ausreichend bedacht werden, vor allem wenn mehrere Ärzte beteiligt sind.
Sind das nicht zu viele Medikamente für die Patientin?
Foto: Fotolia/ Sandor Kacso
Hinzu kommt, dass sich der Nutzen von präventiven Medikamenten im Lauf des Lebens verändern kann. Unter Umständen tritt die vorbeugende Wirkung erst zu einem Zeitpunkt ein, den der Patient aus Altersgründen voraussichtlich nicht mehr erlebt.
In der Summe können Arzneimittel dann mehr Schaden als Nutzen anrichten und geriatrische Syndrome verstärken. Probleme wie Stürze, Verwirrtheit oder Inkontinenz beeinträchtigen die Lebensqualität der Patienten erheblich und können zu Knochenbrüchen, Krankenhausaufenthalten und Pflegebedürftigkeit führen (1).
In den letzten Jahren hat sich der Blick auf Verordnungen für Menschen mit mehreren Erkrankungen gewandelt. Ging es früher eher um die Frage, welches weitere Arzneimittel hilfreich sein könnte, steht inzwischen auch die Last im Fokus, die eine Arzneitherapie für die Betroffenen bedeuten kann. Steht dieser Belastung kein entsprechender Nutzen gegenüber, wird zunehmend häufiger das Schlagwort »Deprescribing«, das heißt die Zurücknahme einer oder mehrerer Verordnungen, ins Spiel gebracht.
Anlässe nicht verpassen
In der Literatur werden Situationen diskutiert, in denen Arzt und Patient gemeinsam die Medikation bewerten und bei Bedarf über ein Absetzen nachdenken sollten. Die hausärztliche Leitlinie Multimedikation empfiehlt, bei Patienten mit Multimedikation, das heißt etwa mit mindestens fünf Arzneimitteln und/oder mindestens drei chronischen Erkrankungen, grundsätzlich einmal im Jahr die medikamentöse Behandlung vollständig zu erfassen und zu bewerten (1). Das gilt besonders dann, wenn der Patient Arzneimittel mit hohem Interaktionspotenzial oder einer engen therapeutischen Breite erhält. Daneben kann es auch akute Anlässe zum Deprescribing geben (2, 3),
Grafik: Mögliche Schlüsselfragen und Vorgehen beim Deprescribing, nach (3)
Grafik: Stephan Spitzer
Schritt für Schritt vorgehen
Das Ziel des Deprescribing ist es, Multimedikation zu reduzieren und patientenrelevante Endpunkte zu verbessern. Der komplexe systematische Prozess verläuft in mehreren Schritten. Er beginnt mit einer Aufstellung der Medikation, danach folgt eine Bewertung des Gesamtrisikos und der einzelnen Arzneimittel. Dieses Vorgehen mündet in eine gemeinsame Entscheidung zum Beibehalten, Reduzieren oder Absetzen bestimmter Medikamente oder dem Ausweichen auf Alternativen sowie der weiteren Überwachung des Patienten (2, 3, 4).
Der erste Schritt sollte eine komplette Bestandsaufnahme sein: Welche Arzneimittel nimmt der Patient ein? Dazu gehören neben der verordneten Bedarfs- und Dauermedikation auch OTC-Arzneimittel und Nahrungsergänzungsmittel aus diversen Bezugsquellen. Sinnvoll ist zudem, die Therapietreue zu erfragen.
Das Gesamtrisiko lässt sich sowohl an den Eigenschaften der Arzneimittel als auch an denen des Patienten festmachen. Nimmt er eine Vielzahl an Arzneimitteln ein und sind darunter Medikamente mit besonderem Risikoprofil? Ist der Patient hochbetagt, kognitiv eingeschränkt und/oder leidet an mehreren chronischen Erkrankungen? Stammen die verordneten Arzneimittel von verschiedenen Ärzten?
Unspezifische Symptome können mögliche Hinweise auf unerwünschte Arzneimittelwirkungen sein (1). Dazu gehören:
Individuelle Betrachtungen
Bei der Bewertung der Arzneimitteltherapie steht die Situation des Patienten an erster Stelle (Grafik). Welche Therapieziele sind sinnvoll? Sind präventive Maßnahmen in Anbetracht der voraussichtlichen Lebenserwartung wünschenswert oder steht die Linderung von Symptomen im Mittelpunkt? Belasten ein komplexes Medikationsregime oder unerwünschte Arzneimittelwirkungen die Lebensqualität des Patienten?
Ein Gespräch über diese Fragen stellt die Weichen für das weitere Vorgehen. Dabei ist es wichtig, dass der Patient seine individuellen Wünsche, Bedürfnisse und Präferenzen in den Prozess einbringen kann.
Für jedes Medikament sollte der Arzt Nutzen und Risiken für den Patienten kritisch hinterfragen (Tabelle 1):
Hilfsmittel für die Evaluierung können etwa der Medication Appropriateness Index (MAI) sein oder Listen zur Identifizierung potenziell ungeeigneter Medikamente wie die PRISCUS- oder FORTA-Liste, die Beers- oder START/STOPP-Kriterien, die im Titelbeitrag der Pharmazeutischen Zeitung, Ausgabe 31/2017, vorgestellt wurden (1, 3, 4).
Kriterium | Beispiel |
---|---|
fehlende Wirksamkeit | Nicht-Ansprechen auf Antidepressiva |
fehlende Indikation | Protonenpumpenhemmer, der während eines Krankenhausaufenthalts prophylaktisch verordnet und nach der Entlassung weitergeführt wurde |
unwahrscheinlicher Nutzen | Statine in der Primärprävention für Patienten mit einer Lebenserwartung unter fünf Jahren |
Prioritäten setzen
Auf dieser Basis können Arzt und Patient gemeinsam entscheiden, welche Medikamente reduziert oder komplett abgesetzt werden sollen. Für jedes Arzneimittel sollte der Arzt einen Plan erstellen, wie das Absetzen konkret ablaufen sollte: Ist ein Ausschleichen der Dosis ratsam oder kann das Mittel abrupt abgesetzt werden?
Je nach Medikation und Erkrankung ist zu bedenken, dass möglicherweise Entzugssymptome, Rebound-Effekte oder die ursprünglich kontrollierten Beschwerden (wieder) auftreten können. Im Zweifelsfall ist bei längerfristiger Einnahme eine schrittweise Senkung der Dosis zu bevorzugen. Konkret gilt das beispielsweise für psychotrope Substanzen wie Benzodiazepine sowie für Antihypertonika, Glucocorticoide, Levodopa und Opioide (1).
Zu bedenken sind auch mögliche pharmakokinetische Auswirkungen der veränderten Medikation. So kann das Absetzen eines Enzyminduktors dazu führen, dass die Wirkspiegel anderer Arzneistoffe steigen, wenn diese über das gleiche Enzym abgebaut werden. Auch können sich beispielsweise Elektrolytstörungen entwickeln, wenn kaliumsenkende und -erhöhende Arzneistoffe gleichzeitig verordnet waren und einer davon plötzlich abgesetzt wird (5).
Sinnvoll ist in der Regel, ein Medikament nach dem anderen abzusetzen und nicht mehrere gleichzeitig, damit sich mögliche unerwünschte Effekte leichter zuordnen und überwachen lassen. Sollen mehrere Arzneimittel abgesetzt werden, ist zu klären, mit welchem Mittel man beginnt. Infrage kommen etwa Medikamente mit dem größten Risiko und geringsten Nutzen, Mittel, die vermutlich ohne schwerwiegende Nebenwirkungen leicht abzusetzen sind, sowie diejenigen, auf die der Patient am ehesten verzichten würde (3).
Auf dieses Medikament würde die Patientin vermutlich gerne verzichten.
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Absetzen überwachen
Daher ist beim Absetzen von Medikamenten immer die gleiche Aufmerksamkeit geboten wie bei Beginn einer Pharmakotherapie. Der Patient sollte während des Absetzens und danach langfristig überwacht werden, um mögliche Nebenwirkungen oder wiederauftretende Symptome schnell erfassen zu können.
Für diese Kontrollen sollte der Arzt Zeitabstände und Zeiträume festlegen. Je nach Medikament kann das von einigen Tagen bis hin zu mehreren Monaten reichen. Der Patient muss auch wissen, welche Symptome durch das Absetzen entstehen können und wie er sich dann verhalten soll. Dazu können Selbsthilfemaßnahmen gehören, aber auch umgehende Arztbesuche.
Inzwischen gibt es einige Studien zu verschiedenen Arzneistoffen oder Arzneistoffgruppen, die das konkrete Vorgehen und die Konsequenzen beim Deprescribing erforscht haben. Dazu gehören etwa Statine, Benzodiazepine und Protonenpumpenhemmer (PPI).
Statine bis zum Lebensende?
Bei gastroösophagealer Refluxkrankheit und peptischen Ulzera gelten PPI als Mittel der Wahl.
Foto: Fotolia/9nong
Statine gehören zu den wichtigsten Arzneimitteln zur Prävention von kardiovaskulären Ereignissen und Todesfällen und werden entsprechend häufig verordnet. Während der Stellenwert in der Sekundärprävention nach Herzinfarkt und Schlaganfall relativ eindeutig ist, wird die Größenordnung des Nutzens in der Primärprävention – also ohne vorhergehendes kardiovaskuläres Ereignis – kontrovers diskutiert (6). Das gilt besonders bei älteren Patienten (7). Deshalb kann ein Verzicht auf Statine sinnvoll sein, wenn die verbleibende Lebenserwartung eher gering eingeschätzt wird.
Eine randomisierte kontrollierte Studie untersuchte das Absetzen von Statinen bei rund 380 Patienten mit einer begrenzten Lebenserwartung zwischen einem Monat und einem Jahr, die den Lipidsenker zuvor mindestens drei Monate lang zur primären oder sekundären Prävention eingenommen hatten (8). Die Patienten wurden nach dem Zufallsprinzip einer von zwei Gruppen zugeteilt: Eine Gruppe setzte das Statin ohne Dosisreduktion ab, die andere nahm es wie bisher weiter. Nach einem Jahr verglichen die Forscher unter anderem die Auswirkungen auf Sterblichkeit, kardiovaskuläre Ereignisse und Lebensqualität. Dabei konnten sie keine wesentlichen Unterschiede zwischen den Gruppen feststellen. Allerdings gab es relativ große Unterschiede in den Gruppen, sodass der Effekt nur unpräzise geschätzt werden konnte. Außerdem waren weder Patienten noch Ärzte verblindet. Eingeschlossen wurden nur Patienten, bei denen die Ärzte das Risiko für ein kardiovaskuläres Ereignis in naher Zukunft für unwahrscheinlich hielten.
Diese Aspekte schränken die Aussagekraft und die Übertragbarkeit der Studie ein (9). Weitere Untersuchungen mit guter Methodik sind notwendig.
Säureblocker wieder loswerden
PPI gelten als Mittel der ersten Wahl bei der gastroösophagealen Refluxkrankheit (GERD) und bei peptischen Ulzera. Für diese Indikationen beträgt die initiale Behandlungsdauer in der Regel wenige Wochen bis Monate. Eine Dauermedikation ist meist nur bei Patienten mit hohem Risiko für gastrointestinale Blutungen, schwerer Ösophagitis oder speziellen Erkrankungen wie Barrett-Ösophagus oder Zollinger-Ellison-Syndrom vorgesehen. In der Praxis werden PPI jedoch häufig langfristig verordnet, ohne die weitere Notwendigkeit regelmäßig zu überprüfen (1, 10).
Obwohl Patienten eine kurzfristige PPI-Gabe meist gut vertragen, deuten Beobachtungsstudien bei Dauertherapie auf mögliche Probleme hin. So fanden Forscher in Studien statistische Zusammenhänge zwischen einer langfristigen Behandlung mit PPI und einem erhöhten Risiko für Frakturen, Infektionen mit Clostridium difficile oder Hypomagnesiämie (1). PPI gelten deshalb als mögliche Kandidaten, wenn die Medikamentenlast älterer Patienten reduziert werden soll. Allerdings fehlen qualitativ hochwertige Studien, die einen Effekt des Deprescribing auf patientenrelevante Endpunkte zeigen (10).
Vergleiche und Endpunkt | Ergebnis | Datenbasis | Qualität der Evidenz |
---|---|---|---|
On-demand-Therapie versus kontinuierliche Therapie, Endpunkt fehlende Symptomkontrolle | 15,7 versus 9,2 Prozent RR = 1,71 (95-%-KI: 1,31 bis 2,21) | 5 RCT mit insgesamt 1653 Teilnehmern | niedrig |
Abruptes Absetzen versus kontinuierliche Therapie, Endpunkt fehlende Symptomkontrolle | 67,8 versus 22,4 Prozent, RR = 3,02 (95-%-KI: 1,74 bis 5,24) | 1 RCT mit 105 Teilnehmern | sehr niedrig |
PPI-Erhaltungsdosis versus Standarddosis, Endpunkt wiederkehrende Symptome | 42,3 versus 42,6 Prozent, RR 1,16 (95-%-KI: 0,93 bis 1,44) | 5 RCT mit insgesamt 1912 Teilnehmern | niedrig |
PPI-Erhaltungsdosis versus Standarddosis, Endpunkt wiederkehrende Ösophagitis | 24,9 versus 15,6 Prozent, RR 1,54 (95-%-KI: 1,25 bis 1,89) | 6 RCT mit insgesamt 2107 Teilnehmern | moderat |
H2-Rezeptorantagonisten versus kontinuierliche Gabe von PPI, Endpunkt wiederkehrende Symptome | 39,2 versus 20,8 Prozent, RR 1,92 (95-%-KI: 1,44 bis 2,58) | 3 RCT mit insgesamt 468 Teilnehmern | moderat |
H2-Rezeptorantagonisten versus kontinuierliche Gabe von PPI, Endpunkt wiederkehrende Ösophagitis | 50 versus 14,9 Prozent, RR 3,52 (95-%-KI: 1,80 bis 6,87) | 3 RCT mit insgesamt 484 Teilnehmern | moderat |
Verschiedene Strategien zum Absetzen
Eine Sorge beim Beenden der PPI-Therapie besteht in einem möglichen Rebound. Gerade nach längerer Einnahme kann die Säureproduktion des Magens abrupt ansteigen, wenn PPI abgesetzt werden. Dadurch können sich die Reflux-Symptome des Patienten verschlechtern.
Welchen Einfluss verschiedene Deprescribing-Strategien darauf haben, wurde in einem aktuellen Cochrane-Review untersucht (11). Eingeschlossen wurden Studien mit Patienten, die mindestens vier Wochen lang einen PPI eingenommen hatten, und die eine Deprescribing-Strategie mit fortgesetzter Einnahme verglichen. Die Review-Autoren konnten allerdings nur Studien mit zwei verschiedenen Deprescribing-Strategien identifizieren. Eine Studie untersuchte die Konsequenzen des abrupten Absetzens. In fünf weiteren Studien wurde die Dauermedikation abgesetzt, allerdings konnten die Patienten bei erneuten Symptomen nach Bedarf kurzfristig einen PPI einnehmen (on-demand-Behandlung). Studien zur schrittweisen Dosisreduktion fanden die Autoren nicht.
Benzodiazepine sollten am besten in kleinen Schritten abgesetzt werden.
Foto: Fotolia/Nico Jende
Die Patienten in den Studien zum Vergleich mit einer Bedarfstherapie waren zwischen 48 und 57 Jahren alt und litten unter leichter GERD mit oder ohne leichte Ösophagitis. Zwar klagten in der Gruppe mit kontinuierlicher Einnahme weniger Patienten über eine unzureichende Symptomkontrolle, jedoch erreichten auch mit Bedarfstherapie mehr als 80 Prozent eine ausreichende Kontrolle der Symptome. Zudem konnten die Teilnehmer mit Bedarfstherapie ihre wöchentliche Medikamenteneinnahme um rund vier Tabletten reduzieren. Wegen diverser methodischer Mängel in den Studien, die die Symptomkontrolle untersuchten, bewerteten die Review-Autoren dieses Ergebnis als Evidenz von niedriger Qualität.
In der Studie mit abruptem Absetzen der PPI waren die Patienten mit durchschnittlich 73 Jahren deutlich älter und litten unter leichter bis mittlerer Ösophagitis. Unzureichende Symptomkontrolle beklagten 22 Prozent der Patienten mit fortgesetzter Einnahme und 68 Prozent der Patienten nach abruptem Absetzen. Allerdings heißt das auch: Rund ein Drittel der Patienten vertrug das abrupte Absetzen gut. Die Review-Autoren bewerteten diese Ergebnisse wegen methodischer Mängel und der relativ geringen Teilnehmerzahl als Evidenz von sehr niedriger Qualität. Eingeschränkt wird die Aussagekraft aller Studien durch die relativ kurze Nachbeobachtungszeit von drei bis sechs Monaten.
Empfehlungen für PPI
Auf der Basis dieses Reviews und weiterer Studiendaten zur Erhaltungstherapie bei Refluxösophagitis (Tabelle 2) wurde eine kanadische Leitlinie zum Deprescribing von PPI entwickelt. Wenn Erwachsene mit säurebedingten Oberbauchbeschwerden nach vierwöchiger Behandlung symptomfrei sind und keine Faktoren vorliegen, die eine fortgesetzte Behandlung notwendig machen, empfehlen die Leitlinien-Autoren bevorzugt eine Reduktion der täglichen Dosis oder Absetzen des PPI und kurzfristige Behandlung mit PPI im Bedarfsfall. Nachgeordnet kann auch die Gabe von H2-Rezeptorantagonisten als Alternative erwogen werden.
… zur Reduktion von Schlaflosigkeit beim Deprescribing von Benzodiazepinen, nach (14):
Zur Empfehlung gehört auch die Überwachung der Patienten über drei Monate. Treten in diesem Zeitraum wieder Beschwerden auf, können die Symptome mit OTC-Mitteln, zum Beispiel PPI, H2-Antagonisten oder Alginaten, behandelt werden. Auch nicht-medikamentöse Maßnahmen werden empfohlen, etwa das Höherstellen des Betts, zeitlicher Abstand von zwei bis drei Stunden zwischen Abendmahlzeit und Zubettgehen sowie bei Bedarf Senkung von Übergewicht und Vermeiden von bestimmten Lebensmitteln, die die Patienten als Auslöser von Beschwerden erkannt haben.
Falls die Beschwerden dennoch dauerhaft weiterbestehen, empfiehlt die Leitlinie eine weiterführende Diagnostik, etwa auf Helicobacter-pylori-Befall. Arzt und Patient sollten dann gemeinsam überlegen, die ursprüngliche Therapie wieder aufzunehmen (12).
Benzodiazepine absetzen
Benzodiazepine und Z-Substanzen werden hauptsächlich bei Schlafstörungen und Angsterkrankungen eingesetzt. Sie können jedoch besonders bei längerer Anwendung zu Toleranzentwicklung und/oder Abhängigkeit führen und gerade bei älteren Patienten das Risiko für Stürze und Knochenbrüche erhöhen. Beobachtungsstudien deuten auch auf einen möglichen statistischen Zusammenhang zwischen der Einnahme von Benzodiazepinen und der Entwicklung einer Demenz hin. Allerdings ist nicht zweifelsfrei geklärt, ob es sich dabei tatsächlich um einen kausalen Zusammenhang handelt oder die Sedativa nicht vielmehr für Schlafstörungen verordnet werden, die im Prodromalstadium einer bisher nicht diagnostizierten Demenz auftreten.
Eine systematische Übersichtsarbeit identifizierte fünf randomisierte kontrollierte Studien zum Deprescribing von Benzodiazepinen und Z-Substanzen, in denen verschiedene Strategien bei Patienten ab 65 Jahren nach mindestens vierwöchiger Therapie untersucht wurden. Zu den untersuchten Strategien gehörten Dosisreduktion, Ersatz der Benzodiazepine durch Melatonin, Medikationsanalyse und Patientenedukation, teilweise auch in Kombination. In vielen Studien gelang der Benzodiazepin-Entzug ohne schwerwiegende Nebenwirkungen. Allerdings ließ sich kein eindeutiger Effekt auf patientenrelevante Endpunkte zeigen, da entsprechende Zielgrößen nicht immer untersucht wurden und/oder die Teilnehmerzahlen in den meisten Studien für einen Nachweis zu gering waren. Auch lassen sich keine verlässlichen Aussagen ableiten, welche Strategie am erfolgversprechendsten erscheint. Hier besteht also weiterer Forschungsbedarf (13).
Iris Hinneburgstudierte Pharmazie an der Philipps-Universität in Marburg und wurde an der Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg promoviert. Nach Tätigkeiten in Forschung und Lehre in Halle und Helsinki (Finnland) arbeitet sie heute freiberuflich als Medizinjournalistin. Ihr Schwerpunkt ist die pharmazeutische Fortbildung. Sie ist Fachbuchautorin und produziert einen Podcast mit Themen aus Medizin und Pharmazie für die Fortbildung in der Apotheke.
Dr. Iris Hinneburg
Wegscheiderstraße 12
06110 Halle (Saale)
www. medizinjournalistin.blogspot.com
Weg von Sedativa
Derzeit wird in Kanada eine Leitlinie zum Deprescribing von Sedativa wie Benzodiazepinen und Z-Substanzen entwickelt. Ein entsprechender Algorithmus ist bereits veröffentlicht. Danach wird eine Reduktion beziehungsweise Absetzen nur dann empfohlen, wenn die Sedativa zur Behandlung von Schlaflosigkeit verordnet wurden. Zur Behandlung von Angststörungen und anderen psychischen Erkrankungen wird in der Regel eine Weiterbehandlung nötig sein.
Der Arzt sollte bei Menschen mit Schlafproblemen immer dann über ein Deprescribing sprechen, wenn diese 65 Jahre oder älter sind oder wenn jüngere Patienten seit mehr als vier Wochen mit Benzodiazepinen behandelt werden. Konkret sieht die Leitlinie eine schrittweise Dosisreduktion vor. Möglich ist beispielsweise, die Dosis alle zwei Wochen um ein Viertel zu reduzieren. Gegen Ende dieses Prozesses können auch kleinere Schritte oder eine alternierende Einnahme mit Benzodiazepin-freien Tagen sinnvoll sein.
Während des Absetzens können Schlaflosigkeit, Ängstlichkeit, Reizbarkeit, Schwitzen oder gastrointestinale Symptome auftreten. Deshalb wird eine ärztliche Überwachung im Abstand von etwa zwei Wochen empfohlen. Zusätzlich können Verhaltensmaßnahmen (Kasten) oder eine kognitive Verhaltenstherapie bei erneuten Schlafproblemen hilfreich sein. Wenn diese Strategien nicht ausreichen, empfiehlt die Leitlinie, zur kleinsten vorher wirksamen Benzodiazepin-Dosis zurückzukehren und das Ausschleichen nach einer bis zwei Wochen erneut, aber in noch kleineren Schritten zu probieren (14).
Was nützt das Deprescribing?
Es gibt Hinweise aus randomisierten kontrollierten Studien, dass Maßnahmen zum Deprescribing möglicherweise die Anzahl der verschriebenen Arzneimittel reduzieren und die Angemessenheit der Medikation verbessern (15–17). Allerdings ist die Datenlage sehr heterogen. Bisher ist nicht ausreichend belegt, dass Deprescribing sich positiv auf die Sterblichkeit oder die Lebensqualität auswirkt. Auch für andere patientenrelevante Endpunkte, etwa Stürze oder Krankenhauseinweisungen, ist die Studienlage nicht eindeutig (18, 19).
Festzuhalten ist: Auch wenn Deprescribing der Theorie nach sinnvoll bei älteren multimorbiden Patienten sein könnte, ist die Datenlage noch relativ dünn. Das gilt sowohl für die Auswirkungen auf patientenrelevante Endpunkte als auch für vergleichende Untersuchungen zu Deprescribing-Strategien für verschiedene Wirkstoffe. Es bleibt zu hoffen, dass sich die Studienlage zukünftig deutlich verbessern wird. /
Literatur