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Passiflora incarnata

Von der Passion Christi zur modernen Arzneipflanze

25.10.2010  16:14 Uhr

Von Veronika Butterweck und Bettina Jung / Die Passionsblume hat eine alte Tradition als religiöses Symbol und als Heilpflanze. Heute wird sie in der Selbstmedikation bei Einschlafstörungen und nervösen Unruhezuständen eingesetzt. Neuere Forschungsergebnisse zeigen ein vielversprechendes anxiolytisches Potenzial.

Wer die Passionsblume (lateinisch Passiflora) vorwiegend auf kulinarischem Weg beispielsweise in Form von Maracujasaft kennengelernt hat, vergisst leicht, dass die dazugehörige Blüte in der Geschichte eine tiefgründige Symbolik besitzt: So deutete der Jesuit Ferrari von Siena (1653) die drei Blütennarben als die Nägel, mit denen Christus an das Kreuz genagelt wurde, und den Fadenkranz als die Dornenkrone. Diese Assoziationen führten zu der Namensgebung der Passionsblume von lateinisch passio = Leiden.

Interessanterweise wird die symbolträchtige Pflanze seit Jahrhunderten genutzt, um gesundheitliche Leiden verschiedenster Genese zu lindern (1). So verwendeten die Azteken die Passionsblume bei Harnverhalten, Knochenbrüchen und Prellungen, wie Aufzeichnungen aus dem Jahre 1552 belegen. Mediziner in Nordamerika schrieben der Passionsblume Ende des 19. Jahrhunderts unter anderem eine mildernde Wirkung bei Krämpfen und Epilepsie zu (1). Anfang des 20. Jahrhunderts hat die Passionsblume (Passiflora incarnata L) als Heilpflanze bei nervösen Unruhezuständen und Einschlafstörungen auch in Europa Einzug gehalten. Diese Indikationen finden sich auch in den dazugehörigen Monographien der ehemaligen Komission E sowie der ESCOP-Monographie wieder. Auf dem deutschen Markt stehen zur Selbstmedikation mehrere Fertigarzneimittel mit Trockenextrakt aus Passionsblumenkraut bei nervösen Unruhezuständen und bei Einschlafstörungen zur Verfügung.

 

Anxiolytische Wirkungen

 

Mehrere In-vivo-Studien weisen inzwischen darauf hin, dass Passionsblumenkraut angstlösende Eigenschaften besitzt. Ein valides Verhaltensmodell zur Evaluation der anxiolytischen Wirkung ist der Elevated Plus Maze mit Nagetieren (2).

Der Versuchsaufbau besteht aus zwei geschlossenen und zwei offenen Armen, die von einer zentral gelegenen Plattform abzweigen, die leicht vom Boden erhöht aufgestellt ist. Halten sich die Nager nach Gabe des Prüfpräparates in den offenen Armen öfter beziehungsweise länger auf als mit der Kontrollmedikation, ist dies ein Hinweis auf eine anxiolytische Wirkung. Denn um die offenen Arme zu betreten, müssen die Nager ihre natürliche Angst vor Neuem überwinden. In diesem Modell wurde der phytochemisch charakterisierte, ethanolische Extrakt KY705P aus Passiflora incarnata (Inhaltsstoff von Kytta Sedativum® für den Tag) in den Konzentrationen 150, 375 und 600 mg/kg sowohl gegen Placebo als auch gegen Diazepam 1,5 mg/kg getestet (3). Unter der mittleren Dosierung von 375 mg/kg Passionsblumenextrakt und unter Diazepam betraten die Nager signifikant häufiger und länger die offenen Arme als unter Placebo (Abbildungen 1A und 1B). Für die Dosis-Wirkungsbeziehung des Passionsblumenextrakts ergibt sich eine U-förmige Kurve. Auffällig ist, dass die von den Mäusen insgesamt zurückgelegte Wegstrecke unter Passionsblumenextrakt und Plazebo vergleichbar war. Dies deutet darauf hin, dass die anxiolytische Wirkung voraussichtlich weder mit einer Stimulation noch mit einer Sedierung verbunden ist. Eine weitere Studie (4) beleuchtet die aktive Dosierung von 375 mg/kg von der pharmakologischen Seite: Und zwar wurden die anxiolytischen Effekte durch den Benzodiazepinrezeptorantagonisten Flumazenil antagonisiert, nicht jedoch durch den Serotoninrezeptorantagonisten WAY-100 635. Dieser In-vivo-Befund weist darauf hin, dass die Passionsblume ihre anxiolytischen Wirkungen über das GABA-System entfaltet.

Die in den In-vivo-Studien demonstrierten anxiolytischen Wirkungen spiegeln sich auch in klinischen Studien wider. So vergleichen zwei Pilotstudien (5, 6) das anxiolytische Potenzial von Passionsblume anhand der Hamilton-Skala mit dem von Benzodiazepinen: Die Studie von Akhond­zadeh und Kollegen (5) umfasste 36 Patienten mit generalisierten Angststörungen, die entweder Passionsblumenextrakt oder Oxazepam erhielten und 28 Tage beobachtet wurden. Zwar war die Wirkung von Oxazepam in den ersten Tagen stärker ausgeprägt, ab dem siebten Tag bestanden jedoch keine signifikanten Unterschiede mehr (5). In der Untersuchung von Annseau und Kollegen (6) Studie zeigte Passionsblumenextrakt im Vergleich zu verschiedenen Benzodiazepinen eine gute anxiolytische Wirkung, wirkte dabei jedoch nicht muskelrelaxierend und wenig sedierend (6). Ein ähnliches Nutzen-Risiko-Profil zeigte eine placebokontrollierte Studie mit 60 Patienten mit präoperativer Angstsymptomatik. Hierbei reduzierte die Prämedikation mit Passionsblumenextrakt signifikant die Angstsymptomatik, ohne dabei zu sedieren oder die psychomotorischen Funktionen zu beeinträchtigen (7).

 

Wirksamkeitsbestimmendes Prinzip bisher unbekannt

 

Mit der Frage, welche Inhaltsstoffe von Passiflora für die Wirkungen verantwortlich sind, haben sich schon mehrere Forschungsgruppen beschäftigt. So galten vor einiger Zeit Beta-Carbolinderivate wie Harmalol, Harmol und Harman, die auch unter dem Begriff »Harmanalkoloide« zusammengefasst werden, als Wirkstoffe (8) von Passiflora. Wie phytochemische Untersuchungen zeigen, sind diese Alkaloide in Passiflora incarnata nicht oder nur in geringsten Mengen nachweisbar (9). Ähnlich verhält es sich mit dem Gamma-Pyron Maltol, dem eine zentral dämpfende Wirkung zugeschrieben wurde (10). Da Maltol in der Droge jedoch nur in Spuren enthalten ist, kommt es ebenfalls nicht als Wirkstoff für Passiflora incarnata infrage (11).

Eine indische Forschergruppe berichtete in mehreren Publikationen von einem trisubstituierten Benzoflavon, das sich nach Fraktionierung eines methanolischen Extraktes von Passiflora incarnata isolieren ließ und in vivo anxiolytische Effekte zeigte (12). Weitere Tierstudien berichteten von einer potenziellen Wirkung bei der Entwöhnung von Suchtmitteln wie Morphin, Nicotin, Cannabis, Alkohol und Benzodiazepinen (13-18). Die vollständige Struktur dieses Benzoflavonderivates ist jedoch noch nicht publiziert. Eine phytochemische Untersuchung der Universität Wien (19) analysierte den Passi­floraextrakt KY705P anhand des Fraktionierungsprotokolls der indischen Forschergruppe, um diese Substanz näher zu charakterisieren. Dabei stellte sich heraus, dass keine der dabei gewonnenen drei Fraktionen Butanol-, Petrolether- und Chloroformfraktion sowie die Restfraktion das beschriebene Benzoflavonderivat enthielt, weshalb das Benzoflavon als wirksamkeitsbestimmende Substanz von Passiflora incarnata ausgeschlossen werden kann. Um weitere Hinweise auf das wirksamkeitsbestimmende Prinzip zu erhalten, verglich eine aktuelle Studie (20) die anxiolytischen Wirkungen dieser drei Fraktionen im Elevated Plus Maze miteinander. Dabei wurden die drei Fraktionen in jeweils drei unterschiedlichen Dosierungen gegen die Vergleichssubstanz Diazepam 1,5 mg/kg sowie gegen Placebo getestet (Abbildungen 2 A-C und 3 A-C). Am aktivsten zeigte sich die Chloroformfraktion in der niedrigsten Dosierung von 0,15 mg/kg, was einer Gesamtextraktdosierung von 150 mg/kg entspricht (p<0,001). Ebenfalls signifikante Effekte waren bei der mittleren Dosierung der Chloroformfraktion sowie bei der niedrigen und mittleren Konzentration der Butanolfraktion zu verzeichnen. Die Petroletherfraktion dagegen war inaktiv. Diese Ergebnisse lassen darauf schließen, dass das wirksamkeitsbestimmende Prinzip in der Chloroformfraktion und in geringerem Ausmaß auch in der Butanolfraktion enthalten sein könnte. Weitere Untersuchungen auf diesem Gebiet sind erforderlich. Bislang bleibt die Frage nach den wirksamkeitsbestimmenden Substanzen immer noch ungelöst und wie bei vielen Arzneipflanzen gilt für Passiflora nach wie vor der Gesamtextrakt als Wirkstoff.

 

Passionsblume in der Selbstmedikation

 

In Deutschland ist Passionsblumenkraut sowohl als Monopräparat bei nervösen Unruhezuständen als auch in Kombination mit anderen Arzneipflanzen bei nervös bedingten Einschlafstörungen erhältlich. Monopräparate mit Passionsblume besitzen als Tagessedativum einen wesentlichen Vorteil: Sie entspannen, ohne zu ermüden, wodurch die Leistungsfähigkeit am Tage voll erhalten bleibt.

In pflanzlichen Einschlafhilfen ist Passiflora ein bewährter Kombinationspartner. Gut untersucht ist beispielsweise die Kombination von Passionsblumenkraut mit Baldrianwurzel und Hopfenzapfen (Kytta Sedativum® Dragees), deren positives Nutzen-Risiko-Profil bei nervös bedingten Einschlafstörungen durch mehrere Studien belegt ist (21-23). Aufgrund der guten Datenlage (22) ist die Dreierkombination auch für Kinder ab drei Jahren zugelassen. Eine aktuelle Beobachtungsstudie (23) zeigt, dass die Kombination aus Baldrian, Hopfen und Passionsblume bei der Therapieumstellung von Benzodiazepinen bei Patienten mit nicht organisch bedingten Schlafstörungen eine wertvolle Hilfe sein kann. Bei dieser Untersuchung profitierten die Studienteilnehmer dank der pflanzlichen Einschlafhilfe maßgeblich von einer verbesserten Schlafqualität und Tagesbefindlichkeit.

 

Schlafstörungen, Unruhezustände und Angstgefühle sind häufig eine Folge von beruflicher oder persönlicher Überforderung und heutzutage weit verbreitet. Sowohl die Erfahrungen in der Selbstmedikation als auch moderne Forschungsergebnisse weisen darauf hin, dass Passionsblume ein vielversprechender Therapieansatz bei diesen »modernen Leiden« ist, was die Bedeutung ihres Namens (lat: passio = Leiden) in einem ganz neuen Licht erscheinen lässt. /

Literatur

  1. Anagnostou S, Staiger C. Passiflora – Jahrhundertealte Tradition und moderne Pharmazie. Zeitschrift für Phytotherapie 2006; 27:6-11
  2. Dawson GR, Tricklebank MD. Use of the elevated plus maze in the search for novel anxiolytic agents. Trends Pharmacol Sci 1995; 16:33-36
  3. Grundmann O, Waehling C, Staiger C, Butterweck V. Anxiolytic effects of a passion flower (Passiflora incarnata L.) extract in the elevated plus maze in mice. Pharmazie 2009; 64: 63-64
  4. Grundmann O, Wang J, McGregor GP, Butterweck V. Anxiolytic activity of a phytochemically characterized Passiflora incarnata extract is mediated via the GABAergic system. Planta Med 2008; 74(15):1769-73
  5. Akhondzadeh S, Naghavi HR, Vazirian M, Shayeganpour A, Rashidi H, Khani M. Passionflower in the treatment of generalized anxiety: a pilot double-blind randomized controlled trial with oxazepam. J Clin Pharm Ther 2001; 26(5):363-7
  6. Annseau M. Evaluation des parameters d`activite de gelules d`extrait sec de Passiflore selon un modele »en etolies«. J Pharm Belg 2004; 59:97-99
  7. Movafegh A, Alizadeh R, Hajimohamadi F, Esfehani F, Nejatfar M. Preoperative oral Passiflora incarnata reduces anxiety in ambulatory surgery patients: a double-blind, placebo-controlled study. Anesth Analg 2008; 106(6):1728-32
  8. Lutomski J, Seglet E, Szpunar K, Grisse K. Die Bedeutung der Passionsblume in der Heilkunde. Pharmazie in unserer Zeit 1981; 10:45-49
  9. Rehwald A, Meier B, Sticher O. Harmanalkaloide in Passiflorae herba. Zeitschrift für Phytotherapie 1995; 16:4-5
  10. Aoyagi N, Kimura R, Murata T. Studies on Passiflora dry extractl.l. Isolation of maltol and pharmacological action of maltol and ethyl maltol. Chem Pharm Bull 1974; 22:1008-1013
  11. Buchbauer G, Jirovetz L. Volatile consituents of the essential oil of Passiflora incarnata L. J Essent Oil Res 1992; 4:329-334
  12. Dhawan K, Kumar S, Sharma A. Anti-anxiety studies on extracts of Passiflora incarnata Linneaus. J Ethnopharmacol 2001; 78:165-170.
  13. Dhawan K, Dhawan S, Chhabra S. Attenuation of benzodiazepine dependence in mice by a trisubstituted benzoflavone moiety of Passiflora incarnata Linneaus: A nonhabit forming anxiolytic. J Pharm Pharmceut Sci 2003; 6:215-222
  14. Dhawan K, Kumar S, Sharma A. Nicotine reversal effects of the benzoflavone moiety from Passiflora incarnata L. in mice. Addiction Biology 2002; 7:435- 441
  15. Dhawan K, Kumar S, Sharma A. Reversal of cannabinoids (delta9-THC) by the benzoflavone moiety from methanol extract of Passiflora incarnata L. in mice: a possible therapy for cannabinoid addiction. J Pharm Pharmacol 2002; 54: 875-881
  16. Dhawan K, Kumar S, Sharma A. Suppression of alcohol-cessation-oriented hyperanxiety by the benzoflavone moiety from Passiflora incarnata L. in mice. J Ethnopharmacol 2002; 81: 239-244
  17. Dhawan K, Kumar S, Sharma A. Restoration of chronic delta9-THC-induced decline in sexuality in male rats by a novel benzoflavone moiety from Passiflora incarnata L. Brit J Pharmacol 2002; 138: 117-120
  18. Dhawan K, Sharma A. Prevention of chronic alcohol and nicotine-induced azospermia, sterility and decreased libido, by a novel tri-substituted benzoflavone moiety from Passiflora incarnata L. in healthy male rats. Life Sciences 2002; 71: 3059-3069
  19. Holbik M, Krasteva S, Mayer N, Kahlig H, Krenn L. 2010. Apparently no sedative benzoflavone moiety in passiflorae herba. Planta Med 76: 662-664
  20. Sampath C, Holbik M, Krenn L, Butterweck V. 2010. Anxiolytic effects of fractions obtained from passiflora incarnata L in elevated plus maze in mice. Poster vorgestellt auf dem GA-Kongress September 2010 in Berlin.
  21. Staiger C, Wegener T. Pflanzliche Dreierkombination bei Schlafstörungen und Unruhezuständen. Eine Anwendungsbeobachtung. Zeitschrift für Phytotherapie 27 (2006): 12-15.
  22. Gräfe K. Phytosedativum bei Kindern effektiv. Pharmazeutische Zeitung 2006; 151(33):31
  23. Wähling C, Wegener T, Tschaikin M. Pflanzliche 3er-Kombination: Wirksame Alternative zu Benzodiazepinen. Zeitschrift für Phytotherapie 2009; 30: 69-72

Für die Verfasserinnen

Dr. Bettina Jung

Merck Selbstmedikation GmbH

Rößlerstraße 96

64293 Darmstadt

E-Mail: bettina.jung(at)merck.de

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