Neue Bilder braucht das Land |
14.09.2012 18:15 Uhr |
Von Christiane Berg / Nie zuvor wurden in Deutschland so viele Menschen so alt wie heute. Nach wie vor jedoch gilt Alter(n) als individuelle und gesellschaftliche Gratwanderung, ist der Umgang mit dem Alter ein Spagat für viele Menschen. Dies gilt insbesondere für helfende und pflegende Berufe, Angehörige, Ärzte und Apotheker.
Alt werden ist keine Krankheit. Nur zu oft jedoch wird das Alter als solche behandelt. Nur zu häufig werden die vielfältigen Herausforderungen im Umgang mit der späteren, späten und letzten Lebensphase des Menschen in den öffentlichen Debatten der westlichen, durch Jugendwahn geprägten Welt verdrängt, ausgegrenzt und tabuisiert. Dadurch werden große Chancen vertan.
»Die in der bisherigen Menschheitsgeschichte völlig neue demografische Situation verlangt Offenheit, Umdenken und neues Handeln«, schreibt die von der Deutschen Akademie der Naturforscher Leopoldina, Halle an der Saale, eingesetzte Akademiengruppe »Altern in Deutschland« in ihren Empfehlungen »Gewonnene Jahre« (1). Der Gewinn an Lebenszeit stelle ein unausgeschöpftes Fortschrittspotenzial dar. Dieses lasse sich nicht hinreichend nutzen, da sich die Gesellschaft in ihrem Denken und Handeln hinsichtlich des Alters von überholten institutionellen, sozialen und kulturellen Werten leiten lässt. Nach Ansicht der Wissenschaftler haben Altersansichten, die der heutigen Wirklichkeit nicht mehr gerecht werden, »als tief verwurzelte Gewohnheiten und Bilder in unseren Köpfen« überlebt.
Die markante Lebensverlängerung in Deutschland ist eine Herausforderung für die gesamte Gesellschaft.
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Die Akademiengruppe verlangt eine den neuen demografischen Gegebenheiten angepasste gedankliche und strukturelle Neuorientierung. Davon ist Deutschland meilenweit entfernt. Das Alter erfährt hier zumeist nicht nur wenig Würdigung. Es wird, im Gegenteil, sogar oft missachtet.
Häufiger Diskriminierungsgrund
Alter zählt zu den häufigsten Diskriminierungsgründen. Das geht aus einer Pressemitteilung der »Bundesarbeitsgemeinschaft der Senioren-Organisationen« (BAGSO), des »Kuratoriums Deutscher Altershilfe« (KDA) und der »Antidiskriminierungsstelle des Bundes« (ADS) vom März 2012 hervor (2).
In einer Befragung von Senioren-, Sozial-, Wohlfahrts-, Frauen- und Behindertenverbänden gaben viele ältere und hochbetagte Menschen an, sich nicht nur in ihrer Rolle als Verbraucher, sondern auch als Patienten benachteiligt zu fühlen. Sie hätten erhebliche Hemmungen, sich dagegen zu wehren. Auch die Diskriminierung selbst werde tabuisiert – nicht zuletzt aus Sorge, weitere Nachteile zu erleiden.
»Altersdiskriminierung ist ein ernsthaftes gesellschaftliches Problem mit hoher Dunkelziffer«, stellen BAGSO, KDA und ADS fest. Die Organisationen wollen das Selbstbewusstsein älterer und hochbetagter Menschen stärken und diese zur Wahrnehmung ihrer Rechte motivieren.
Das Anliegen ist nicht neu. Bereits 2010 hieß es im Sechsten Altenbericht des Bundesministeriums für Familie, Senioren, Frauen und Gesundheit: »Alle gesellschaftlichen Akteure – auch die älteren Menschen selbst – müssen für die schlechten Auswirkungen negativer Altersbilder sensibilisiert werden«. Die Autoren plädieren für eine »Neue Kultur des Alterns« (3). In der modernen »Gesellschaft des langen Lebens« hänge gelingendes Altern erheblich von positiven Altersbildern ab. Diese hätten einen großen Einfluss darauf, was ältere Menschen sich zutrauen und was jüngere Menschen im Alter erwartet.
Vielfalt und Heterogenität
Der Altenbericht macht deutlich, dass auf Einbußen, Verluste und Mängel fokussierte Altersbilder psychische und physische Entwicklungs-, Veränderungs- und Wachstumsprozesse mindern. Defizitorientierte, also am Verlust körperlicher Leistungskraft und Produktivität, Hinfälligkeit, Abhängigkeit und Hilfsbedürftigkeit orientierte Altersbilder könnten präventive und therapeutische Maßnahmen be- und verhindern.
»Die dominierenden Vorstellungen werden der Vielfalt des Alter(n)s nicht gerecht.« Dies sei besonders fatal, da die falschen Altersbilder nicht nur den Bruch zwischen den Generationen verstärken, sondern auch die (Selbst-)Wahrnehmung und somit Gesunderhaltungspotenziale älterer und hochbetagter Menschen negativ beeinflussen und minimieren.
Das Grundgesetz der Bundesrepublik Deutschland besagt, dass die Würde des Menschen unantastbar und die freie Entfaltung der Persönlichkeit nach eigenen Vorstellungen für jedermann Grundrecht ist. In die gleiche Richtung zielt der Altenbericht, der auf die Bedeutung eines auf Toleranz, Wertschätzung und Achtung basierenden Bild des Alters in seinen zahlreichen Erscheinungsformen hinweist. Die Vielfältigkeit und Heterogenität der Bevölkerungsgruppe jenseits der Lebensmitte ist zu schützen. Nur ein positives Altersbild werde es ermöglichen, die Fülle unentdeckter Potenziale, also altersbedingter Kompetenzen wie geschärftes Urteilsvermögen, geistige Innovationskraft, soziale Fähigkeiten und zusätzliche, auch berufliche Qualifikationen (3) zu nutzen. Die Aufhebung antiquierter Vorstellungen zähle zu den größten Herausforderungen der nächsten Jahrzehnte.
Besonders den an der gesundheitsbezogenen Versorgung älterer Menschen beteiligten Personen komme große Verantwortung zu. Deren Altersvorstellungen seien »handlungsleitend im Umgang mit älteren Menschen und bestimmen die Ausgestaltung der Versorgung und damit die Nutzung vorhandener Ressourcen« (3).
Unzureichend versorgt
Die Hauptlast der Versorgung älterer Menschen liegt bei den Hausärzten, doch sind deren gerontologische, geriatrische und gerontopsychiatrische Kenntnisse laut Altenbericht in der Regel noch unzureichend. Die Geriatrie mit ihren Teildisziplinen sei in der Aus-, Fort- und Weiterbildung und somit auch der täglichen medizinischen Versorgung unterrepräsentiert.
Ein positives Altersbild hat großen Einfluss darauf, was ältere Menschen sich zutrauen und was jüngere Menschen im Alter erwartet.
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Lehre hin, Praxisalltag her: Das Problem der unzureichenden Gesundheitsversorgung älterer Menschen wird verschärft durch den gravierenden Ärztemangel, der sich vor allem in ländlichen Gebieten abzeichnet. Die Entwicklung neuer regionaler Strukturen unter Einbindung der Apotheke ist unumgänglich. Dies bedeutet, dass auch Apotheker ihre gerontologischen, geriatrischen und gerontopsychiatrischen Kenntnisse stärken müssen. Die Institution Apotheke ist aufgefordert, sich im Zusammenspiel mit Altenhilfe, Pflege und Medizin zu positionieren.
Dabei ist in der täglichen Apothekenpraxis zu berücksichtigen, dass körperliche und psychische Symptome im höheren Lebensalter besonders eng miteinander verflochten sind (4). Seelische und körperliche Erkrankungen betagter Menschen sind keine isolierten Phänomene. Körperliche Erkrankungen im Alter gehen, da zunehmend irreversibel, verstärkt mit seelischen Problemen einher. Umgekehrt äußern sich seelische Erkrankungen häufiger durch körperliche Beschwerden. Verluste wie Weggang der Kinder, Ende der Berufstätigkeit oder der Tod von Angehörigen und Freunden nehmen naturgemäß zu. Der Mensch muss Abschied nehmen.
In einer hoch technisierten, schnellen Gesellschaft, die verlernt hat zu trauern, ist das besonders schwer. Doch kann nicht geleistete oder nicht gelungene Trauer zu (Selbst-)Verleugnung, Verdrängung, Angst, Rückzug beziehungsweise Flucht in Aktivitäten oder Depressionen führen. Es kann zur Reaktivierung auch kriegsbedingter Traumata kommen, die wiederum die Trauerarbeit erschweren. Psychopharmaka können hier nur »Notbehelf sein – dann aber mit Trauer darüber, dass solche Notbehelfe überhaupt notwendig sind«, so führende Geriater (4).
Alterspharmazie stärken
Ob seelische oder körperliche Erkrankungen: Mit dem demografischen Wandel wächst die Bedeutung der Alterspharmazie. Senioren gelten schon heute als wichtigste Zielgruppe in Apotheken. Künftig wird es noch wichtiger, dass Apotheker nicht nur über Fachwissen zur alterstypischen (Multi-)Morbidität und zur geriatrischen Pharmakotherapie, sondern auch über kommunikative und gerontopsychologische Fähigkeiten verfügen.
Das Beratungsgespräch in der Apotheke erfordert fundierte kommunikationspsychologische Kenntnisse.
Foto: ABDA
»Mehr und mehr müssen wir alle den verstehenden Umgang mit uns selbst und anderen erlernen«, sagte Professor Dr. Ursula Lehr, Vorsitzende des BAGSO und Autorin des Buchs »Psychologie des Alterns« (5), im Gespräch mit der PZ. Die ehemalige Bundesgesundheitsministerin hob die Rolle der verstärkten Schulung von Aspekten der Selbst- und Fremdwahrnehmung in einer ergrauenden Gesellschaft hervor.
Lehr unterstrich die Bedeutung einer starken Alterspharmazie, zumal die Apotheke in einer zunehmend singularisierten Gesellschaft soziale und niedrigschwellige Anlaufstelle für ältere und hochbetagte Menschen ist. Angesichts des großen Vertrauens, das viele Menschen über Jahre hinweg zu »ihrer« Apotheke entwickelt haben, komme dem Altersbild der Apotheker besondere Bedeutung zu.
Zuwendung und Beratung in der Apotheke, so Lehr, suchen nicht nur alte Patienten, sondern auch ihre Angehörigen. Es seien nicht nur (Schwieger-)Töchter und Söhne, sondern in der Mehrzahl ältere Menschen, die ihren Lebensgefährten pflegen und großen Anforderungen gerecht werden müssen.
»Während professionelle Pflegekräfte gelernt haben, eine schützende emotionale Distanz zu ihren Patienten zu wahren, und Pflege für sie ein Beruf mit festen Arbeits- und Erholungszeiten ist, kann der pflegende Angehörige unter vielfältigen Belastungen leiden, die oft in den seelischen und körperlichen Burn-out als Basis manifester Erkrankungen führen«, konstatierte Lehr. »So selbstverständlich und erfüllend es sein kann, füreinander da zu sein und einander zu helfen, so schnell kann sich der/die Pflegende in einer Lage wiederfinden, in der Herausforderung zu Überforderung wird. Der Übergang ist meist fließend und vollzieht sich oft unbemerkt.«
Viele Betroffene versuchen, der Erschöpfung durch den vermehrten Konsum von Zigaretten und Alkohol oder durch Einnahme von Schmerz-, Schlaf-, Beruhigungs- oder Aufputschmitteln zu begegnen. Kennzeichnend für den großen Hilfsbedarf pflegender Angehöriger ist unter anderem die Tatsache, dass der BAGSO-Ratgeber »Entlastung für die Seele« (6) bereits nach drei Monaten in 3. Auflage erschienen ist.
»Deutschland – Land der Ideen« heißt eine von Politik und Wirtschaft unter der Schirmherrschaft von Bundespräsident Horst Köhler 2004 ins Leben gerufene Standortinitiative, die Mut machen soll, Neuland zu betreten. Seit 2006 zeichnet die Initiative im Rahmen des Wettbewerbs »365 Orte im Land der Ideen« jährlich Aktivitäten aus, die einen Beitrag zur Zukunftsfähigkeit Deutschlands leisten. Andere Menschen sollen motiviert werden, eigene Ideen in die Tat umzusetzen.
Zu den Preisträgern 2012 der Kategorie »Gesellschaft« zählt die vom Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend initiierte Internetplattform »Pflegen und leben« (www.pflegen-und-leben.de). Pflegende Angehörige werden hier persönlich beraten und erhalten Tipps zur Selbstfürsorge. Gemeinsam mit geschulten Psychologinnen und Psychologen wird nach individuellen Wegen gesucht, den seelischen Druck im Pflegealltag zu lindern.
Vielen Angehörigen fehlt die Kraft, sich durch den Dschungel der Möglichkeiten zu kämpfen. Hier kann die Apotheke Unterstützung bieten, betont Lehr. Der Apotheker sollte die Angebote des regionalen Pflege- und Altenhilfesystems kennen und Möglichkeiten der Sozialstationen, Tagesstätten, Selbsthilfegruppen, Pflege- und Krisendienste sowie des betreuten, altengerechten oder barrierefreien Wohnens erklären. Er sollte nicht nur über Diagnose und Therapie von Erkrankungen und medikamentöse Besonderheiten im Alter (7), sondern auch über lokale Hilfsangebote informieren.
Altersgerechte Prävention
Da immer mehr Menschen ein höheres Lebensalter erreichen, komme auch der altersgerechten Prävention mehr und mehr Bedeutung zu. Ziel müsse es sein, das körperliche Wohlbefinden zu erhalten und der Multimorbidität vorzubeugen.
Generell, so Lehr, sollten Apotheker ältere und hochbetagte Menschen ermuntern, zum Erhalt ihrer Unabhängigkeit so lange wie möglich keine oder möglichst wenige Alltagskompetenzen abzugeben. Sie sollten Senioren nicht nur auf Gesundheitsgefahren durch übermäßigen Nicotin- und Alkoholkonsum, Hypertonie, Hyperlipidämie, Über- und Untergewicht oder Sturzrisiken verweisen, sondern auch Tipps zur altersgerechten Ernährung und Bewegung geben.
Allein das Wissen um die Bedeutung von Kalorien, Vitaminen und Mineralien sei jedoch unzureichend, meint Lehr. Wollen Ärzte und Apotheker das Ernährungsverhalten älterer Menschen effektiv beeinflussen, müssten sie bedenken, welche persönliche Bedeutung oder welchen Symbolcharakter die Nahrungsaufnahme für die jeweilige Person in ihrer spezifischen Situation hat. Dort gelte es anzusetzen.
Das Ernährungsverhalten im Alter sei nicht nur durch individuelle Hungergefühle, sondern auch von kulturellen und/oder familiären Essgewohnheiten, Gruppeneinflüssen und individuellen Lebenssituationen geprägt. So könnten Menschen, die nach dem Tod des Partners allein zurückbleiben, mitunter Depressionen entwickeln. Jede Mahlzeit, die sie allein einnehmen müssen, könne den Verlust des Partners erneut in Erinnerung rufen. Manche würden dann lieber aufs Essen verzichten. Deutliche Einflüsse auf Essgewohnheiten hätten auch Langeweile und Unausgeglichenheit beziehungsweise negative Selbstbilder.
Inspiration und Motivation
Psychosoziale Aspekte und biografische Wurzeln kämen auch bei der Umsetzung sportlicher Betätigung in höheren und hohen Lebensjahren ins Spiel und seien gegebenenfalls eine große Barriere. Insbesondere hochbetagte Seniorinnen, so Lehr, hätten in ihrer Schul- und Jugendzeit kaum Gelegenheit zu sportlicher Betätigung gehabt, sodass sie im Alter kein Interesse an Sport verspüren. Auch Misserfolge, vermeintlicher Verlust der Attraktivität und mangelndes Selbstvertrauen ließen sie vor sportlicher Betätigung zurückschrecken, ohne dass die wahren Gründe erkannt oder thematisiert werden.
Ebenfalls Preisträger im Wettbewerb »365 Orte im Land der Ideen« 2012 ist das Partnerschaftsprojekt »Wohnen für Hilfe« in Köln (www.wfh-koeln.de) als Kooperation zwischen dem Amt für Wohnungswesen, der Universität und der Seniorenvertretung der Stadt Köln. »Wohnen für Hilfe« gibt es in mehreren Städten Deutschlands. Grundidee ist es, Menschen mit unterschiedlichen Bedürfnissen aus verschiedenen Generationen zusammenzuführen (www.wohnenfuerhilfe.info). Das Prinzip: Senioren, Familien, Alleinerziehende oder Menschen mit Behinderung, die einen eigenen Haushalt führen und sich Gesellschaft und Unterstützung wünschen, stellen Wohnraum zur Verfügung. Im Gegenzug unterstützt der Student (»Mieter«) den Wohnraumanbieter bei der Verrichtung alltäglicher Dinge und hilft zum Beispiel im Haushalt und Garten, beim Einkaufen oder der Tierpflege. Beide Seiten profitieren vom Geben und Nehmen. Pflegeleistungen jeglicher Art sind ausgeschlossen. Die Wohnpartner vereinbaren vertraglich die jeweiligen Unterstützungsleistungen sowie die Höhe der Nebenkosten, die von den Studenten selbst getragen werden. Es gilt die Faustregel: Pro Quadratmeter bezogenem Wohnraum leisten die Studenten eine Stunde Hilfe im Monat.
Die BAGSO-Vorsitzende verwies auf weitere wichtige Aspekte im Beratungsgespräch, die Patienten motivieren und inspirieren. Stets hilfreich sei es, wenn der Apotheker auf die generelle Bedeutung positiver Bezugsrahmen, zum Beispiel Arbeit, Lernen, Freizeit, Freunde, Bildungsmaßnahmen und Kultur, verweist, in denen Menschen sich bewegen.
Tücken der Kommunikation
Gelingendes Miteinander als wichtiger Aspekt des neuen Altersbilds beruht auf Verständnis und Gegenseitigkeit. So wie ältere Menschen durch andere gestärkt werden können, können diese anderen »unter die Arme greifen« und sie fördern. Für manche Menschen, die sich einsam fühlen oder an depressiven Verstimmungen leiden, kann ehrenamtliches Engagement zum Beispiel in Initiativen wie »Aktive Seniorinnen und Senioren betreuen Kinder« oder »Senioren helfen Firmengründern« sinnvoll sein.
Auf der Homepage www-senioren- initiativen.de der vom Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend geförderten »Bundesarbeitsgemeinschaft Seniorenbüros« (BaS) sind mehr als 1200 Initiativen geordnet nach Tätigkeitsfeldern, Einsatzorten, Zielgruppen oder Bundesländern aufgezeigt. Sie präsentieren ein breites Spektrum an inspirierenden Ideen.
Gesundheitsbewusste Ernährung, körperliche Aktivität, Annahme und Bewältigung neuer körperlicher, seelischer und geistiger Herausforderungen und auch Meditation fördern die Gehirnplastizität in der Jugend und im Alter. Die erfolgreiche Begegnung von Jung und Alt im Allgemeinen sowie von Ärzten, Apothekern und Patienten im Besonderen setzt Wissen um die Vielschichtigkeit von Beziehungen voraus. Diese sind nicht nur von situations-, charakter- und persönlichkeits-, sondern auch von rollenspezifischen Reaktionsmöglichkeiten geprägt. In jedem Gespräch, bei jedem zwischenmenschlichen Kontakt kommen Mechanismen der Übertragung und Gegenübertragung zur Geltung.
Unter Übertragung verstehen Psychologen Gefühlseinstellungen zu anderen Menschen, die nicht allein aus der aktuellen Situation, sondern aus Erinnerungen und Gefühlen zu früheren primären Bezugspersonen, zum Beispiel Vater und Mutter, gespeist werden. Gegenübertragung ist die spezielle Reaktion des Gesprächspartners, in diesem Fall des Arztes oder Apothekers, die charakterisiert ist durch eigene prägende Erfahrungen mit frühen Bezugspersonen oder Eltern.
Die Erfahrungen können positiv oder negativ sein. Selbst wenn sie als »normal« bewertet werden, kann es passieren, dass ältere Patienten den (jüngeren) Arzt/Apotheker wie einst dessen Eltern behandeln, Ärzte/Apotheker sich also in der oft unangenehmen Kindesposition fühlen. Aufgrund ihrer Funktion und Position werden Mediziner und Pharmazeuten jedoch auch in der Autoritäts- und somit oftmals Elternposition angesprochen.
Es kann zu einem ständigen Wechsel der Gefühlspositionen und so auch Missverständnissen kommen (4). »Selbst scheinbar einfache Gesprächskonstellationen bergen Tücken«, sagen Kommunikationspsychologen. Die aufgezeigte Situation ist nur ein kleines Mosaikteilchen der Klippen, die es in zwischenmenschlichen Begegnungen zu umschiffen gilt (8).
Die speziellen Schwierigkeiten, die sich aus der Beziehung mit älteren Patienten ergeben, sind für jüngere Psychotherapeuten oftmals so groß, dass sie seltener Patienten betreuen, die älter sind als sie selbst (4). Diesen Fluchtweg kann der Apotheker nicht wählen. Er muss die verschiedenen Beziehungsebenen durchschauen, um die oft verschlüsselten Mitteilungen des Patienten zu verstehen. Er muss Rollenzuweisungen erkennen, um dem Beratungsgespräch und somit dem Patienten zu dienen.
Flexible Balance
Ob 50, 60, 70 oder 80: Das spätere und späte Erwachsenalter geht mit vielen Herausforderungen für die Gesellschaft einher. Die Bedeutung positiver Überzeugungen für ein gelingendes Altern ist nicht zu unterschätzen. Neue (Leit-)Bilder braucht das Land. Die dazu notwendige Offenheit erfordert Authentizität, die wiederum den Blick auf die tieferen Ursachen eigener Tabugefühle wie Angst, Wut, Schuld, Trauer oder Ohnmacht notwendig macht.
Zu den 365 wegweisenden Ideen zur Stärkung der Zukunftsfähigkeit Deutschlands zählt auch das Projekt »Ausbildungspatenschaften in Essen« (www.paten-fuer-arbeit-in-essen.de). Engagierte Bürger begleiten Haupt- und Gesamtschüler von der Berufswahl über den Bewerbungsprozess bis zum Ende ihrer Ausbildung. Die jüngsten Paten sind unter 30, die ältesten über 70. Alle Berufe sind vertreten. Sie motivieren die Schüler, zeigen ihnen ihre Stärken auf und helfen ihnen beim Ausbau wichtiger Fähigkeiten. Zudem unterstützen die Paten die Schüler bei der Suche nach einem Ausbildungsplatz. Der Verein hat im Wettbewerb »365 Orte im Land der Ideen« den 13. Platz belegt.
Es braucht Mut, Entschlossenheit, Willenskraft und Kreativität, um – wie es der 2011 mit dem T. S. Eliot Prize ausgezeichnete Dichter, Schriftsteller und Nobelpreisträger Derek Walcott in einem seiner Gedichte formuliert – »lächelnd an der eigenen Tür anzukommen«. Mut, Entschlossenheit, Willenskraft und Kreativität sind auch zur Bewältigung der neuen demografischen Situation notwendig. Für den Einzelnen bedeutet dies, an der Veränderung seiner gewachsenen Vorurteile zum Verlauf des Lebens und Alters zu arbeiten sowie Bereitschaft zum ständigen Lernen zu zeigen.
Unternehmen, so der Altenbericht, müssen »Age-Management« betreiben, das heißt in die Qualifikation und Kompetenzentwicklung der Betriebsangehörigen aller Altersgruppen bei Berücksichtigung ihrer Stärken und Schwächen investieren und demografiefeste, also älteren und jungen Mitarbeitern gerecht werdende Personalentscheidungen fällen. Gesellschaft und Politik wiederum müssten tradierte und konditionierte Verhaltensweisen auf den Prüfstand stellen.
Der demografische Wandel bietet bislang nicht genutzte Chancen.
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Fragwürdig sei unter anderem die erst im 20. Jahrhundert entstandene Norm der strikten Trennung zwischen Erwerbsphase und Ruhestand. Die tradierte Zuordnung von Lernen zur Kindheit, Ausbildung/Studium zur Jugendphase, Arbeit zum Erwachsenenalter und Muße zum Alter sei sowohl für das Individuum als auch für die Gesellschaft wenig förderlich. »Flexible Balance« von Arbeit und Besinnung in allen Phasen des Erwachsenenlebens sei angezeigt.
Ob jung, ob alt: Raum und Zeit für Be»sinn«ung sind unumgänglich, damit Erfahrenes betrachtet, neues Bewusstsein entstehen und auch der demografische Wandel als Folge medizinischen Fortschritts zum Motor gesellschaftlichen Fortschritts werden kann. Die markante Verlängerung der Lebenserwartung bietet Chancen zur Geistesschulung im Sinne des »großen Ganzen« und somit zum wirklichen Wandel. Gilt erfolgreiches Altern derzeit eher als Frage der Per»form«ance, also der körperlichen Fitness und jugendlichen Optik, wird es gesellschaftliche Zukunftsaufgabe sein, die menschlichen, seelischen und spirituellen Erkenntnisse des Alters zu würdigen und zu nutzen, sodass gewonnenes zum gelingenden Leben wird. /
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Deutsche Akademie der Naturforscher Leopoldina, Halle (Saale), Gewonnene Jahre. Empfehlungen der Akademiengruppe »Altern in Deutschland«, Nova Acta Leopoldina, Neue Folge, Nr. 371, Bd. 107, Wiss. Verlagsges., Stuttgart, 2009.
BAGSO-Pressemitteilung 7/2012, Verbände und Nichtregierungsorganisationen stellen fest: Hohe Dunkelziffer bei Altersdiskriminierung Bonn. 5. März 2012.
Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend, Sechster Bericht zur Lage der älteren Generation in der Bundesrepublik Deutschland. Altersbilder in der Gesellschaft. Berlin, Juni 2010.
Kipp, J., Jüngling, G., Einführung in die praktische Gerontopsychiatrie. Zum verstehenden Umgang mit alten Menschen. Reinhardts Gerontologische Reihe, Band 19. Ernst Reinhard Verlag, München, Basel, 4. Aufl., 2007.
Lehr, U., Psychologie des Alterns. 11. Aufl., Meyer Verlag GmbH & Co. Wiebelsheim, 2007.
Entlastung für die Seele. Ratgeber für pflegende Angehörige. Bundesarbeitsgemeinschaft der Senioren-Organisationen (BAGSo), 3. Aufl., Bonn 2012.
Böhmer, F., Füsgen, I. (Hrsg.), Geriatrie – Der ältere Mensch mit seinen Besonderheiten. Böhlau Verlag, Wien, Köln, Weimar 2008.
Schulz von Thun, F., Miteinander reden. rororo, April 2011.
Christiane Berg studierte Pharmazie an der Christian-Albrechts-Universität in Kiel und wurde 1984 in der Abteilung Toxikologie des Zentrums Klinisch-Theoretische Medizin II (Leitung: Professor Dr. Otmar Wassermann) promoviert. Im selben Jahr ging sie als Redakteurin der Pharmazeutischen Zeitung nach Frankfurt am Main. Es folgte eine zweijährige Tätigkeit in einer Frankfurter PR-Agentur. Seit Gründung des norddeutschen Redaktionsbüros der Pharmazeutischen Zeitung 1989 lebt und arbeitet Berg in Hamburg.
Dr. Christiane Berg, Alte Rabenstraße 8, 20148 Hamburg, chris-berg(at)t-online.de