Auf die Zunge, fertig, los |
21.09.2010 18:08 Uhr |
Von Sven Siebenand / Auf dem deutschen Arzneimittelmarkt kündigt sich eine Premiere an. Wenn ab Oktober das Mittel Risperidon Hexal SF verfügbar ist, wird es hierzulande erstmals sogenannte orale Filme geben. Über Vor- und Nachteile dieser Darreichungsform, das Herstellungsverfahren und mögliche Einsatzgebiete informiert der folgende Artikel.
Orale Filme sind dünne, flexible und schnell zerfallende Arzneiträger, die man auf oder unter die Zunge legt. In Kontakt mit Speichelflüssigkeit lösen sie sich auf und setzen so einen Wirkstoff frei. Dieser wirkt dann entweder lokal oder – nach Absorption – auch systemisch. Synonyme Bezeichnungen für orale Filme sind meistens Anglizismen, etwa »Thin Strips«, »Wafers« oder »Edible films«. Das erklärt sich dadurch, dass diese Darreichungsform in den USA weitaus geläufiger ist als in Europa. Am Kiosk bekommt man dort die dünnen Filme zum Beispiel als Atemerfrischer. Auch Strips zur Zahnaufhellung mit Wasserstoffperoxid sind sehr beliebt.
Die Herstellung oraler Filme orientiert sich an der Pflastertechnologie. Die einzeln verpackten Filme eignen sich auch für die Einnahme unterwegs. Wasser wird in der Regel nicht benötigt.
Fotos: Hexal
Ferner sind OTC-Arzneimittel, die zum Beispiel Diphenhydramin, Dextrometorphan, Simethicon oder Phenylephrin enthalten, in den USA freiverkäuflich als oraler Film zu erhalten und bei den Verbrauchern offenbar akzeptiert. Orale Filme als Kaugummiersatz und Medizinprodukte gab und gibt es auch schon in Deutschland. Mit dem Ondansetron Rapidfilm®, der zur Behandlung von Übelkeit und Erbrechen als Nebenwirkung einer Strahlen- beziehungsweise Chemotherapie indiziert ist, hat die Firma Labtec (tesa) im April 2010 die europaweite Zulassung für den ersten verschreibungspflichtigen oralen Film erhalten. Eingeführt ist dieses Präparat jedoch noch nicht, sodass Risperidon Hexal® SF das erste hierzulande verfügbare Arzneimittel in dieser Darreichungsform sein wird. Das Unternehmen vermarktet die neue Arzneiform in Anlehnung an die im Handel befindlichen Schmelztabletten als Schmelzfilm. Galenisch betrachtet ist das nicht ganz richtig, denn die Filme schmelzen nicht, sondern lösen sich auf.
Positive Effekte auf die Compliance
Was sind die Vorteile von oralen Filmen? Positiv auf die Compliance dürfte sich zum Beispiel auswirken, dass zur Einnahme in der Regel kein Wasser notwendig ist. Ein Vorteil, zum Beispiel bei schizophrenen Patienten und Kindern, ist, dass diese den Film nicht wieder ausspucken können. Eine präzise Dosierung lässt sich damit sicherstellen. In Abhängigkeit vom Wirkstoff ist mit dieser Darreichungsform auch eine beschleunigte Wirkstoffaufnahme beziehungsweise ein schnellerer Wirkungseintritt erreichbar. Auch eignet sie sich für die diskrete Einnahme unterwegs. Die Mitnehmbarkeit in einzelnen Sachets ist gewährleistet. Schnell lösliche orale Filme sind nur wenig mukoadhäsiv und ihre Zerfallszeit liegt in der Regel unter einer Minute. Sie können somit nicht wie herkömmliche Tabletten für Stunden im Mund verbleiben und bergen deshalb auch kein Entzündungsrisiko. Das könnte zum Beispiel bei Altenheimpatienten ein Vorteil sein, denen Medikamente vom Pflegepersonal verabreicht werden.
Ein Nachteil von oralen Filmen ist, dass der Wirkstoffbeladung Grenzen gesetzt sind. Filmfläche und -dicke können schließlich nicht beliebig erhöht werden. Typische Filmgrößen liegen der Firma Hexal zufolge zwischen 2 und 8 cm2, die typischen Filmgewichte zwischen 8 bis 12 mg/cm2. Pro Film können in der Regel maximal 30 Prozent der Filmmasse, etwa 15 bis 25 mg, als Wirkstoff enthalten sein.
Orientierung an Pflasterherstellung
Die Entwicklung der oralen Filme orientiert sich an der Pflastertechnologie. So kann bei ihrer Herstellung eine Ausrüstung zum Einsatz kommen, die derjenigen für die Fertigung von transdermalen Systemen ähnelt. Im Zuge der Herstellung wird eine visköse Suspension auf einer Folie verteilt und anschließend getrocknet. Die Folie wird später entfernt. Das so entstehende »Laminat« wird im Anschluss in kleine Stücke zerschnitten und diese dann verpackt. Die Beschichtungsmasse enthält neben dem Wirkstoff einen Filmbildner (Stärke oder ein Zellulosederivat), einen Weichmacher wie Glycerol oder Propylenglykol, ein Feuchthaltemittel wie Sorbitol, Xylitol oder Maltodextrin, Füllstoffe wie mikrokristalline Cellulose und Lösungsmittel (zum Beispiel Wasser, Ethanol, Aceton). Da einige Wirkstoffe bitter schmecken, ist auch ein Stoff zur Geschmacksmaskierung (zum Beispiel Ionenaustauschharze) als Inhaltsstoff wichtig. Auch Süßstoffe wie Aspartam und Saccharin sowie Aromastoffe können in der Beschichtungsmasse enthalten sein.
Professor Dr. Jörg Breitkreutz vom Institut für Pharmazeutische Technologie und Biopharmazie der Universität Düsseldorf ist der Überzeugung, dass sich die oralen Filme in einigen Nischen auf dem Markt etablieren werden. Es ist fraglich, ob die Filme eine Konkurrenz zu orodispersiblen Tabletten (ODT) werden, so der Apotheker. Bei einigen Indikationen und Patientengruppen gebe es aber einen tatsächlichen Bedarf.
Potenzielle Arzneistoffkandidaten
Diese Einschätzung deckt sich mit dem Vorhaben der Firma Hexal, die noch weitere Marktzulassungen von Schmelzfilmen in der Pipeline hat. So sollen Anfang 2012 auch das Neuroleptikum Olanzapin und der bei Morbus Alzheimer eingesetzte Wirkstoff Donepezil in dieser Darreichungsform auf den Markt kommen. Potenzielle weitere Indikationsgebiete sowie Arzneistoffe gibt es viele. Dazu zählen das Neuroleptikum Aripiprazol, die Antiallergika Desloratadin und Cetirizin, das Durchfallmittel Loperamid, die Phosphodiesterase-Hemmer Sildenafil, Tadalafil und Vardenafil, die starken Analgetika Oxycodon und Fentanyl, das Parkinsonmittel Pramipexol, bestimmte Setrone und Triptane sowie der Schleimlöser Ambroxol und Efeu-Extrakt.
Klein, aber wirksam: Größenvergleich eines Filmpräparates mit einer Ein-Euro-Münze.
Foto: Hexal
Auf Nachfrage der PZ teilt Dr. Christoph Steinschulte von Hexal mit, dass die neue Darreichungsform nicht austauschbar sei. Solange es noch keine anderen Anbieter von Risperidon-Schmelzfilmen auf dem Markt gibt, gelte: »Ist das Mittel verordnet, wird es von der Gesetzlichen Krankenversicherung (GKV) erstattet und kann vom Apothekenpersonal abgegeben werden. Auf die Patienten kommen, abgesehen von der gesetzlichen Zuzahlung, keine weiteren Kosten zu.«
Wohin geht die Reise? Breitkreutz ist sich sicher, dass bei der Entwicklung oraler Darreichungsformen das Ende der Fahnenstange noch lange nicht erreicht ist. So arbeite man zum Beispiel an oralen Filmen, die sich nur sehr langsam im Mund auflösen (mögliches Indikationsgebiet: Entzündungen und Läsionen im Mundraum) sowie an mehrschichtigen Filmen, die einen Teil der Dosis schnell, den anderen Teil langsam freisetzen. Auch an orodispersiblen Minitabletten werde derzeit intensiv geforscht. /