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Inkontinenz

Gute Beratung schenkt Lebensqualität

27.08.2010  12:47 Uhr

Von Chantal Schlatter / Die Mehrzahl der Frauen und Männer wird im Lauf ihres Lebens von Harninkontinenz geplagt. Obwohl dieses Leiden weder gefährlich noch schmerzhaft ist, kann es die Lebensqualität massiv beeinträchtigen. Doch Inkontinenz kann behandelt werden. Welchen Beitrag kann die Apotheke leisten?

Inkontinenz, Blasenschwäche, unfreiwilliger Harnverlust – kein Begriff beschreibt das Ausmaß der Erkrankung. Menschen mit Inkontinenz leiden. Sie gehen nicht mehr ins Theater oder Kino, legen ihr Hobby nieder, geben den Arbeitsplatz auf, fahren nicht mehr in den Urlaub und treffen sich nicht mehr mit Freunden. Manche trauen sich nicht einmal mehr, ihre Kinder und Enkelkinder zu besuchen. Aus Scham vergehen oft Jahre, bis Betroffene Hilfe suchen. In der Zwischenzeit behelfen sie sich oft mit völlig unpassenden Mitteln, wie Männer zum Beispiel, die Damenbinden tragen.

 

Wenn Menschen mit Blasenschwäche Hilfe suchen, tun sie das oft zuerst in der Apotheke. Die meisten kostet dies große Überwindung. Die Beratung kann zum Wendepunkt werden, wenn es dem Apothekenteam gelingt, wichtige Botschaften zu vermitteln:

 

Inkontinenz ist ein weitverbreitetes Problem. Sie sind damit nicht allein!

Inkontinenz kann auf verschiedene Arten behandelt werden, und die Heilungschancen sind gut.

Eine große Palette an Hilfsmitteln erleichtert den Alltag und spezielle Situationen, zum Beispiel beim Sport, in Staus und auf Reisen.

 

Die normale Blasenfunktion

 

Das Fassungsvermögen der Blase beträgt 500 bis 1000 ml. Die Speicherung und Entleerung funktioniert dank des engen Zusammenspiels von Gehirn, Blasen- und Beckenbodenmuskula­tur. Die Wand der Blase besteht aus glatten Muskeln, die auf Dehnung eingerichtet sind. Während der Füllung bleibt die Blasenmuskulatur entspannt. Angespannt sind dagegen die Muskeln von Blasenausgang, Harnröhre und Beckenboden, um den Urin zu halten.

Dehnungsrezeptoren registrieren fortlaufend den Spannungszustand und damit die Füllmenge der Blase. Bei halber Füllung, also etwa ab 250 ml melden diese Rezeptoren »Füllung« ans Gehirn. Die Rückmeldung lautet »Harndrang«. Es bleibt aber genügend Zeit, um eine Toilette aufzusu­chen. Dort kann die Entleerung willentlich einge­leitet werden: Die Blasenmuskulatur zieht sich zusammen, während sich die Muskeln des Blasenausgangs, der Harnröhre und des Becken­bodens entspannen, damit der Harn frei fließen kann. Normalerweise entleert man die Blase etwa sechs- bis achtmal innerhalb von 24 Stunden.

 

Inkontinenz ist weitverbreitet

 

Unter Harninkontinenz versteht man den unfreiwilligen Abgang von Urin. Sie tritt in allen Altersstufen auf, nimmt jedoch im Alter stark zu: Ungefähr 15 Prozent der Frauen und 8 Prozent der Männer über 65 Jahre sind betroffen, bei den über 80-Jährigen sind es bereits 30 Prozent. An schweren Formen leiden 5 bis 10 Prozent der Menschen ab 50 (1).

 

In Anbetracht der hohen Prävalenz ist es schwer nachzuvollziehen, dass in der Öffentlichkeit kaum über das Leiden gesprochen wird. Jedoch wurden in den vergangenen Jahren große Fortschritte erzielt, um das gesellschaftliche Tabu zu brechen.

 

Mit wenigen gezielten Fragen kann das Apothekenteam den Einstieg ins Gespräch vereinfachen (siehe Kasten). Bei Hinweisen auf eine Blasenschwäche sollte die Kundin oder der Kunde unbedingt ermutigt werden, zum Hausarzt zu gehen. Zur Vorbereitung des Arztbesuchs kann man dem Kunden ein Miktionstagebuch zum Ausfüllen mitgeben (herunterzuladen zum Beispiel von der Homepage der Kontinenz Gesellschaft e.V. auf www.kontinenz-gesellschaft.de ). Gemeinsam mit einem Spezialisten (Urologe, Gynäkologe) führt der Hausarzt die Diagnostik durch. Nur wenn die Harninkontinenz korrekt diagnostiziert wird, kann sie auch effektiv behandelt werden. In den meisten Fällen kann sie geheilt oder wesentlich gelindert werden.

Fünf Fragen für das Beratungsgespräch

Müssen Sie sehr häufig auf die Toilette gehen (tagsüber mehr als achtmal) und auch nachts einige Male aufstehen? Im Alter sind zweimalige nächtliche Toilettenbesuche normal.

Spüren Sie manchmal einen plötzlichen und unkontrollierbaren Harndrang?

Haben Sie schon einmal Urin verloren, weil Sie den Drang nicht beherrschen konnten?

Verlieren Sie Harn bei körperlicher Tätigkeit, etwa beim Husten, Niesen, Lachen oder Treppensteigen?

Verlieren Sie Harn bei körperlicher Tätigkeit, und leiden Sie gleichzeitig an starkem Dranggefühl?

 

Wenn eine der Fragen bejaht wird, könnte eine Blasenschwäche vorliegen, die behandelt werden sollte.

Harninkontinenz beruht entweder auf einer mangelhaften Funktion des Schließmuskelsystems, einer Fehlfunktion der Blasenmuskulatur oder einer Störung der Nervenversorgung. Man unterscheidet hauptsächlich vier Formen: Belastungs-, Drang-, Überlauf- und Reflex-Inkontinenz (Tabelle 1).

Tabelle 1: Die häufigsten Formen der Inkontinenz

Belastungs­inkontinenz Dranginkontinenz (Reizblase) Überlaufinkontinenz Reflexinkontinenz
Symptome Urinverlust bei körperlicher Belastung (Niesen, Husten, Lachen) ohne vorheriges Dranggefühl plötzlicher, starker Harndrang, den man bestenfalls kurzzeitig unterdrücken kann
geringe Urinmengen
unkontrollierter Urinverlust bei voller Blase, ohne dass diese richtig entleert werden kann Blase entleert sich selbstständig und ohne Harndrang, sobald sie einen bestimmten Füllungszustand erreicht hat
Betrifft vorwiegend Frauen nach Schwangerschaft und Geburt oder nach der Menopause. Selten Männer häufig bei Frauen und älteren Menschen, bei Männern etwas seltener vor allem Männer,
selten Frauen
Frauen und Männer mit Nervenschädigungen und hirnorganischen Störungen, z. B. bei Querschnittslähmung, Multipler Sklerose, Parkinson, Demenz, geistiger Behinderung
Problemzone Beckenboden, Schließmuskeln Blase, aber auch Nervensystem und Prostata Harnröhrenveren-
gung, z. B. bei Prostatahyper-
trophie, Blasensteinen oder Tumoren
Nervenbahnen und Gehirn
Behandlung Beckenbodentraining
Elektrostimulation
Biofeedback
Medikamente (lokale Estrogene, Duloxetin)
Pessare, Operation
Behandlung der Entzündung
Entfernung von Blasensteinen
Medikamente (Anticholinergika)
Elektrostimulation
Beckenboden-
training
Behandlung der Entzündung
Medikamente
zeitweilige Katheterisierung
Operation
Medikamente
Katheterisierung
Operation, z. B. Blasenschrittmacher
Verhalten und Prävention aufrechte Körperhaltung
Rückenschonung
Beckenbodentraining nach der Geburt
normales Körpergewicht
Bewegung
Blasen- oder Toilettentraining
Trinkverhalten anpassen
Blasentraining
Männer: Vorsorge-
untersuchung
Blase durch Klopfen absichtlich reizen und zum kontrollierten Urinabgang anregen
Toilettentraining
Selbstkatheterisierung

Besonders im höheren Alter treten auch Mischformen zwischen Belastungs- und Dranginkontinenz auf. Belastungs- und Dranginkontinenz sind am häufigsten. Bei Frauen machen diese Formen mehr als 90 Prozent aus (2).

 

Belastungsinkontinenz

 

Bei der Belastungsinkontinenz kann der erhöhte Blasendruck, der beim Husten, Niesen und Lachen, beim Heben von schweren Lasten, Treppensteigen und Laufen entsteht, von einer zu schwachen Schließ- und Beckenbodenmuskulatur nicht aufgefangen werden. Dadurch geht Urin ab, auch wenn kein Harndrang besteht.

 

Die Schlüsselfrage zur Identifizierung dieser Inkontinenzform lautet: »Verlieren Sie Urin bei körperlicher Betätigung ohne Harndrang?« Die Ursachen sind vielfältig. Schwangerschaft und Geburt belasten den Beckenboden stark. Aber auch hormonelle Veränderungen in der Menopause können eine Rolle spielen. Mit dem Alter verliert der Beckenboden an Festigkeit und Elastizität. Übergewicht, intraabdominale Drucksteigerung bei chronischem Husten oder chronische Obstipation sind weitere Risikofaktoren. Die Belastungsinkontinenz ist hauptsächlich ein Frauenleiden. Wenn Männer betroffen sind, dann meist als Folge einer Prostataentfernung, bei der das Gewebe am Schließmuskel verletzt wurde (3).

Die Behandlung (und Prävention) bestehen in der Stärkung und Schonung des Beckenbodens. Das beginnt bei der Reduktion von Übergewicht sowie der Behandlung von chronischem Husten oder Verstopfung. Frauen sollten keine Lasten mit einem Gewicht über 10 kg heben. Zur gezielten Stärkung des Beckenbodens dient das Beckenbodentraining. Häufig bieten Krankenkassen zusammen mit Physiotherapeuten, Hebammen, Kliniken oder Volkshochschulen Kurse zum Erlernen der Gymnastik an. Es ist empfehlenswert, das Training unter Anleitung zu beginnen. Biofeedback und Elektrostimulation helfen, die Übungen zu erlernen. Das Biofeedback macht die Aktivitäten der Beckenbodenmuskulatur hör- und sichtbar. So lernen die Patienten, ein Gefühl für den Beckenboden zu entwickeln und diese Muskeln gezielt einzusetzen. Mithilfe der Elektrostimulierung wird ebenfalls die Wahrnehmung geschult, außerdem kräftigt die Methode die Muskeln.

 

Für manche Frauen ist das Training mit Vaginalkonen interessant. Die Gewichte werden für eine gewisse Zeit in die Scheide eingeführt, wo sie während den üblichen Aktivitäten vom Beckenboden aktiv gehalten werden müssen.

 

Eine weitere Option besteht darin, Pessare und Vaginaltampons in die Scheide einzuführen. Dadurch entsteht eine Raumforderung, die die durch den schwachen Beckenboden nach unten gerutschten Organe (Prolaps) wieder nach oben schiebt. Dies unterstützt die Blase und den Verschluss der Harnröhre.

 

Zur medikamentösen Unterstützung bei mittleren bis schweren Formen steht nur Duloxetin zur Verfügung, ein Medikament, das zur Therapie der Depression entwickelt wurde. Der Serotonin- und Noradrenalin-Wiederaufnahmehemmer erhöht die Konzentration dieser Transmitter im Rückenmark und verstärkt auf diese Weise den Tonus der quer gestreiften Muskulatur des Harnröhrenschließmuskels. Die häufigsten unerwünschten Wirkungen sind Übelkeit, vor allem zu Beginn der Therapie, Obstipation, Mundtrockenheit und Durst, aber auch Müdigkeit oder Schlaflosigkeit. Die Behandlung mit Duloxetin sollte ein- und ausgeschlichen werden. Bei Respondern sollte die Wirkung innerhalb der ersten zwei Wochen eintreten (4). Tabelle 2 enthält Empfehlungen für die Dosisanpassung bei Nieren- oder Leberinsuffizienz sowie Hinweise auf mögliche Interaktionen.

 

Versagen diese Therapien, ist eine Operation möglich. Heute werden diese Eingriffe in der Regel minimalinvasiv durchgeführt (3).

 

Medikamente bei Dranginkontinenz

 

Patienten mit Dranginkontinenz spüren schon bei geringer Füllung der Blase einen heftigen Harndrang, der durch zu starke Erregung der Blasenmuskulatur ausgelöst wird. Die Dehnungsfühler der Blasenwand melden viel zu früh, dass die Blase voll ist. Die Muskulatur in der Blasenwand kontrahiert, womit der Druck im Inneren des Organs ansteigt. Trotz größter Anstrengung kann der Patient den Harndrang nicht mehr beherrschen.

 

Die Schlüsselfrage zur Identifizierung dieser Inkontinenzform lautet: »Haben Sie ein Harndranggefühl, das Sie nicht unterdrücken können, und verlieren Sie dabei Urin?« Die Ursachen sind auch hier vielfältig: Irritationen der Blasenschleimhaut durch Infektionen, Reizungen durch Blasensteine oder Tumore. Auch neurodegenerative Erkrankungen wie Multiple Sklerose, Morbus Parkinson und Alzheimer, Hirnschlag sowie eine diabetische Neuropathie können zu Dranginkontinenz führen.

 

Wird der Harndrang durch eine Zystitis oder Harnsteine ausgelöst, kann er kausal behandelt werden. Ansonsten bleibt die symptomatische Behandlung mit Anticholinergika. Es gibt mehrere Wirkstoffe auf dem Markt: Darifenacin, Fesoterodin, Oxybutynin, Propiverin, Solifenacin, Tolterodin und Trospiumchlorid (Tabelle 2). Die Wirksamkeit der Präparate ist vergleichbar und für den Einzelpatienten nicht sicher vorherzusagen. Der einzige gut gesicherte Unterschied ist eine schlechtere Verträglichkeit von unretardiertem Oxybutynin gegenüber fast allen anderen Präparaten (5-7). Unter den neueren Stoffen scheinen Solifenacin 5 bis 10 mg und Fesoterodin 8 mg gegenüber Tolterodin retard 4 mg besser zu wirken, allerdings auf Kosten einer schlechteren Verträglichkeit (7). Retardierte Präparate sind besser verträglich als die nicht retardierten, weil Wirkstoffspitzen vermieden werden (8).

Tabelle 2: Medikamente zur Therapie der überaktiven Blase

Wirkstoff
(empfohlene
Tagesdosis)
Dosierung bei
Niereninsuffizienz
Dosierung bei Leberinsuffizienz
(Child Pugh A bis C*)
Begleitmedikation
Darifenacin
(7,5/15,0 mg)
Vorsicht A: keine, aber Risiko der Akkumulation
B: maximal 7,5 mg, falls der Erfolg das Risiko rechtfertigt
C: nicht empfohlen
CYP2D6-Inhibitoren: Anfangsdosis 7,5 mg, Steigerung auf 15,0 mg, falls gut toleriert
mäßige CYP3A4-Inhibitoren: Anfangsdosis 7,5 mg
starke CYP3A4-Inhibitoren: nicht empfohlen
Duloxetin
(40-80 mg)
leicht/mäßig:
keine Dosisanpassung
Schwer: nicht empfohlen
Leberfunktionsstörung: nicht empfohlen MAO-Hemmer: nicht gleichzeitig oder
innerhalb von 14 Tagen nach
Beendigung der MAO-Hemmer-Therapie
starker CYP1A2-Hemmer: nicht empfohlen
Fesoterodin
(4/8 mg)
leicht/mäßig: Anfangsdosis
4 mg, dann vorsichtig
steigern auf 8 mg
Schwer: 4 mg
A: Anfangsdosis 4 mg, dann vorsichtig steigern auf 8 mg
B: maximal 4 mg
C: nicht empfohlen
CYP2D6-Inhibitoren: Anfangsdosis 4 mg
starke CYP3A4-Inhibitoren: maximal 4 mg
Oxybutynin
(oral: 5-30 mg;
TTS 3,9 mg/24 h)
Vorsicht Vorsicht starke und mäßige CYP3A4-Inhibitoren: Vorsicht
Propiverin
(5/15 IR/30 mg ER)
maximal 30 mg A und B: keine Dosierungsempfehlung
C: nicht untersucht
starke CYP3A4-Inhibitoren: keine Studiendaten verfügbar, aber In-vitro-Daten
deuten auf mögliche Interaktionen hin
Solifenacin
(5/10 mg)
leicht/mäßig:
keine Dosisanpassung
Schwer: maximal 5 mg
A: Vorsicht
B: maximal 5 mg
C: nicht empfohlen
starke CYP3A4-Inhibitoren:
maximal 5 mg
Tolterodin
(1/2/4 mg)
leicht/mäßig: keine Daten
schwer: maximal 2 x 1 mg IR oder 2 mg ER
maximal 2 x 1 mg IR oder 2 mg ER CYP2D6-Inhibitoren: keine
starke CYP3A4-Inhibitoren: maximal
2 x 1 mg IR oder 2 mg ER
Trospiumchlorid
(40 mg)
leicht/mäßig: Vorsicht.
schwer: maximal 20 mg.
A, B und C: Vorsicht
--

adaptiert nach (17); IR: immediate release; ER: extended release; * Child-Pugh A: leichte, B: mittlere, C: schwere Leberinsuffizienz; Dosierungsempfehlungen in Europa und den USA gemäß Fachinformationen. Bei verschiedenen Empfehlungen ist die jeweils niedrigste Dosierung angegeben.

Oxybutynin gibt es als transdermales System. Durch Umgehung des First-Pass-Effekts wird die Bildung eines Metaboliten verhindert, der vermutlich maßgeblich für die Nebenwirkung Mundtrockenheit verantwortlich ist. Tatsächlich scheint diese unerwünschte Wirkung beim Oxybutynin-Pflaster mit knapp 10 Prozent nicht häufiger aufzutreten als unter Placebo. Allerdings treten bei ungefähr 14 Prozent der Behandelten Hautreizungen an der Pflasterklebestelle auf (9).

 

Die typischen anticholinergen Nebenwirkungen der Medikamente sind Mundtrockenheit, Hemmung der Schweißsekretion, Hautrötung und Wärmestau, gastrointestinale Störungen durch Beeinflussung der intestinalen Drüsensekretion, Mydriasis, Lichtscheu und zentralnervöse Störungen. Zu den gefürchtetsten zentralnervösen Störungen gehört die kognitive Beeinträchtigung, die sich vor allem bei vorbelasteten Patienten als problematisch erweist. Bei älteren Menschen und solchen mit Polypharmazie ist die Verordnung von Anticholinergika sehr sorgfältig abzuwägen (siehe später).

 

Die Mundtrockenheit betrifft ein Drittel aller Patienten und tritt damit dreimal häufiger auf als unter Placebo. Für die meisten Patienten ist das die störendste Nebenwirkung. Dagegen helfen Kaugummis und Bonbons mit Xylit, einem nicht kariogenen Zuckeraustauschstoff mit Feuchthalteeffekt. Da der verminderte Speichelfluss zudem das Risiko für Karieserkrankungen erhöht, sollte eine regelmäßige Zahnpflege mit Fluorid empfohlen werden.

 

Kontraindikationen für die Anwendung von Anticholinergika sind Miktionsstörungen, Engwinkelglaukom, Störungen der Motilität des Magen-Darm-Trakts, schwere Leberfunktionsstörungen und Myasthenia gravis. Bei therapieresistenter hyperaktiver Blase kann die Infiltration des Harnblasenmuskels mit Botulinumtoxin (Botox®) die Symptomatik schlagartig verbessern (10).

 

Bei Dranginkontinenz wird ebenfalls Beckenbodentraining empfohlen. Auch wenn der Beckenboden hier nicht das primäre Problem darstellt, so hilft ein starker Beckenboden auf jeden Fall, bei starkem Harndrang den Urin zurückzuhalten. Parallel zur medikamentösen und physikalischen Therapie nützt ein Blasentraining. Ziel ist es, das Harnvolumen, das gehalten werden kann, und damit die Zeitabstände zwischen den Toilettengängen wieder schrittweise zu vergrößern. Dazu kann die Apotheke dem Kunden wichtige Tipps geben:

 

die Blase zu festgelegten Zeiten entleeren, unabhängig vom Dranggefühl, zum Beispiel zunächst jede Stunde;

allmählich den Abstand zwischen zwei Blasenentleerungen vergrößern, bis das Dranggefühl nur noch alle zwei bis drei Stunden auftritt;

den Toilettengang bei Drangbeschwerden hinauszögern, zum Beispiel um eine Minute in der ersten Trainingswoche, dann um zwei Minuten in der zweiten Woche, und so weiter;

den Erfolg mit dem Miktionstagebuch kontrollieren, mindestens an einem Tag pro Monat, bis das Trainingsziel erreicht ist.

 

Auch zum Verhalten bei akutem Harndrang kann das Apothekenteam dem Kunden nützliche Hinweise geben (siehe Kasten). Oft sind es die kleinen Dinge, die einen großen Unterschied bewirken.

Akuten Harndrang hinauszögern

Es gibt einige praktische Aufschubstrategien bei akutem Harndrang. Gute Tipps aus der Apotheke:

 

Stehen oder sitzen bleiben und mit der Blase reden: »Du hast noch Platz! Ich habe Zeit und schaffe es bis zur nächsten Toilette«.

Ruhig und tief in den Bauch einatmen. Dann mehrmals kurz den Beckenboden beziehungsweise den Harnröhrenschließmuskel anspannen.

Die Beine überkreuzen und eng zusammennehmen. Dabei die Muskulatur von Beckenboden, Oberschenkeln und Gesäß gleichzeitig anspannen.

Sich auf eine Stuhl- oder Tischkante setzen oder sich nach vorne neigen, als wolle man die Schuhe zubinden und den Beckenboden anspannen.

Sich ablenken, zum Beispiel durch Telefonieren, Fernsehprogramm wechseln, im Internet surfen, Lesen, Kreuzworträtsel lösen.

Wenn der Drang nicht mehr beherrschbar ist, langsam zur Toilette gehen. Eile, Angst und Bewegung fördern den Drang. Schnelles Gehen kann Urinabgang auslösen und erhöht die Sturzgefahr.

»Toilettenpraktisch« anziehen. Gummizüge und Reißverschlüsse sind rascher geöffnet als Knöpfe.

Diese Strategien anfangs zu Hause üben und versuchen, jedes Mal ein wenig mehr Zeit zu gewinnen.

Hilfsmittel für unterwegs, beispielsweise faltbare Reise-Urinflaschen, für den Notfall besorgen.

 

Achtung, Interaktion!

 

Wichtig ist es, medikamenteninduzierte Blasenfunktionsstörungen zu erkennen (11). Alle Medikamente, die die Blasenaktivität erhöhen, wie ACE-Hemmer, Calciumantagonisten, GABA-Analoga, Lithium, MAO-Hemmer, Cholinesterasehemmer und andere, die den Sphinkterapparat relaxieren (Benzodiazepine, α-Blocker) oder indirekt eine Inkontinenz fördern (Diuretika, ACE-Hemmer), können die Wirkung von Anticholinergika abschwächen oder sogar aufheben (Tabelle 3).

Tabelle 3: Häufig verordnete Medikamente mit Einfluss auf die Kontinenz

Arzneistoffgruppe Einfluss auf die Kontinenz
ACE-Hemmer Begünstigen Stressinkontinenz
Anticholinergika Harnverhalt, Überlaufinkontinenz, Verwirrtheit, Verstopfung
Antidepressiva Anticholinerge Wirkung, Sedierung
Antiparkinsonmittel Anticholinerge Wirkung, Sedierung
Betablocker Erhöhung der Detrusorkontraktilität
Digitalis Steigerung der Blasenkontraktilität
Diuretika Polyurie, Harndrang
Neuroleptika Anticholinerge Wirkung, Verminderung der Detrusorkontraktilität
Opioide Dämpfung der Dehnungsrezeptoren und des zentralen Miktionsreflexes
Psychopharmaka Muskelrelaxation des Beckenbodens
Skelettmuskelrelaxanzien Verminderung des Auslasswiderstands

adaptiert nach (11, 18)

Die tertiären Amine, zu denen alle Anticholinergika mit Ausnahme des quartären Amins Trospiumchlorid gehören, werden über das hepatische Cytochrom-System abgebaut. Daher kann ihr Metabolismus durch Cytochrom-Induktoren beschleunigt und durch -Inhibitoren gehemmt werden. Bei einer Co-Medikation mit potenten Induktoren kann die Anticholinergika-Medikation scheinbar unwirksam sein. Wird jedoch der Metabolismus der Anticholinergika gebremst, können deren Blutspiegel und damit auch die anticholinergen Nebenwirkungen steigen. Dasselbe gilt, wenn Anticholinergika mit Medikamenten kombiniert werden, die ebenfalls anticholinerge Nebenwirkungen verursachen, beispielsweise Antihistaminika, gewisse Antiarrhythmika, Muskelrelaxanzien, Antidepressiva und Antipsychotika.

 

Vorsichtig einsetzen bei Demenz

 

Menschen mit Demenz leiden häufig an einer hyperaktiven Blase. Unglücklicherweise können Anticholinergika die Kognition verschlechtern (12, 13). Ferner gibt es Hinweise, dass Anticholinergika bei Alzheimer-Patienten Psychosen auslösen können (14).

 

Das Gehirn ist das einzige Organ, in dem alle bekannten fünf muscarinischen Acetylcholinrezeptoren, die sogenannten Muscarinrezeptoren M1 bis M5, vorkommen. Es ist daher grundsätzlich für alle Anticholinergika empfindlich, selektiv wie unselektiv wirksame. Im Zusammenhang mit der Kognition sind vor allem die M1-Rezeptoren von Bedeutung, für die Wirkung bei Dranginkontinenz ist es vor allem der M3-Rezeptor. Darifenacin und Trospiumchlorid wirken am stärksten auf den für die Blasenkontraktion verantwortlichen M3-Rezeptor. Bezüglich der Selektivität erfüllen nur Darifenacin und Solifenacin die Anforderungen. Sie gelten als »blasenselektiv« und verursachen praktisch keine zen­tralnervösen Nebenwirkungen (13).

 

Oxybutynin bindet ebenfalls stärker an M3- als an M1-Rezeptoren, überwindet aber die Blut-Hirn-Schranke. Eine Studie mit gesunden Probanden zur Messung der Hirnleistung unter Anticholinergika fand keinen Unterschied zwischen Darifenacin und Placebo, während die Kognition in der Gruppe mit unretardiertem Oxybutynin signifikant beeinträchtigt war (5, 15). Auch Propiverin beeinträchtigt die kognitive Funktion, allerdings deutlich weniger ausgeprägt als Oxybutynin (13).

 

Trospiumchlorid und Tolterodin sind zwar weniger blasenselektiv als Darifenacin, penetrieren aber die Blut-Hirn-Schranke kaum. Daher lösen auch diese Wirkstoffe praktisch keine zentralen Nebenwirkungen aus (13, 16). Der neueste Wirkstoff Fesoterodin gilt ebenfalls als ZNS-neutral.

 

Den richtigen Wirkstoff finden

 

Für alle Anticholinergika ist die Wirksamkeit belegt (6, 16). Die Auswahl richtet sich vor allem nach der Verträglichkeit und der Gefahr von Interaktionen, hängt also von der individuellen Situation des Patienten ab. Anticholinergika können die Hirnleistung beeinträchtigen und die Wirkung von cholinergen Parkinson-Medikamenten reduzieren. Bei gefährdeten Patienten sind daher Substanzen vorteilhaft, die eine geringe Affinität zu M1-Rezeptoren im Gehirn haben (Beispiel Darifenacin) oder die die Blut-Hirn-Schranke schlecht passieren (Beispiel Darifenacin, Fesoterodin, Solifenacin, Trospiumchlorid) (5).

 

Trospiumchlorid hat außerdem den Vorteil, dass es als einzige Substanz nicht metabolisiert, sondern unverändert renal ausgeschieden wird. Dadurch ist sein Interaktionspotenzial auch bei Polymedikation klein. Alle Medikamente zur Therapie der Blasenschwäche sind mit beachtlichen unerwünschten Wirkungen verbunden. Ihr Einsatz erfordert daher eine gründliche Nutzen-Risiko-Abwägung.

 

Im Alltag gut versorgt

 

Inkontinenzprodukte werden begleitend eingesetzt, um den Betroffenen Sicherheit vor unangenehmen Zwischenfällen zu geben. Aufsaugende Produkte schützen vor Nässe und Geruchsbildung und sind in der Regel für vier Stunden konzipiert. Im Idealfall sollte man sie nach vier Stunden wechseln, um ein Durchweichen zu vermeiden. Damit Patienten nachts nicht aufstehen oder geweckt werden müssen, sollte für die Nacht ein saugstärkeres Produkt gewählt werden (mehr zu aufsaugenden Inkontinenzprodukten lesen Sie im Titelbeitrag Inkontinenz: Passende Versorgung erleichtert das Leben, PZ 20/2010).

Für Männer mit starker Inkontinenz gibt es Kondomurinale. Diese Einwegsysteme umschließen das Glied wie ein Kondom wasserdicht und leiten den Urin mit einem kleinen Schlauch in einen Sammelbeutel, der am Bein befestigt ist. Auch für Frauen gibt es externe Urinableitungssysteme. Für beide Geschlechter sind Urinflaschen erhältlich; spezielle Flaschen wurden für die Anwendung unterwegs entwickelt.

 

Pessare kann die Frau in die Vagina einführen. Durch die Raumforderung verändern sie die Anatomie im Unterleib, was den Harnröhrenverschluss verstärkt und zur Abnahme der Belastungsinkontinenz führt. Speziell Frauen, bei denen eine Operation kontraindiziert ist oder die nur beim Sport Beschwerden haben, erzielen mit diesen Hilfsmitteln mit wenig Aufwand gute Ergebnisse (2).

 

Viel trinken – der Blase zuliebe

 

Patienten mit Blasenschwäche schränken ihre Trinkmenge oft automatisch ein. Das bewirkt aber gerade das Gegenteil. Durch die geringe Trinkmenge wird der Urin konzentrierter, reizt die Blasenschleimhaut und kann zu Harnwegsinfekten und Haut­irritationen führen und die Problematik verschlimmern. Diese Zusammenhänge kann die Apotheke erklären und über »blasenfreundliche« Trinkgewohnheiten informieren.

 

Mindestens einen bis zwei Liter Flüssigkeit täglich trinken. Es hilft, die Tagestrinkmenge schon am Morgen bereitzustellen.

Bevorzugt stilles Wasser, Kräutertees und Preiselbeersaft trinken. Alkohol, Kaffee, Schwarztee, Eistee, Coca-Cola und Kohlensäure wirken harntreibend. Davon nur zwei bis drei Gläser oder Tassen pro Tag trinken.

Vor allem morgens und nachmittags trinken, nach 16 Uhr wenig, nach 18 Uhr nur noch bei Durst.

 

Belastete Haut gut pflegen

 

Menschen mit Inkontinenz leiden häufig an Hautproblemen im Intimbereich. Konzentrierter Harn reizt stärker – auch aus diesem Grund sollte man das Trinken nicht einschränken. Häufiges Waschen belastet die Haut zusätzlich, und das warm-feuchte Klima begünstigt das Wachstum von Bakterien und Pilzen. Um den Säure- und Fettschutzmantel zu erhalten, sollte man zur Reinigung nur klares Wasser oder pH-neutrale Waschlotionen mit Rückfetter verwenden. Keine Desinfektionsseifen, denn sie zerstören die natürliche Bakterienflora.

 

Zur Hautpflege eigenen sich vor allem W/O-Emulsionen. Nicht empfehlenswert sind Präparate, die die Haut abdecken. Dazu gehören Salben auf Mineralöl- und Zinkpastebasis sowie reine Ölpräparate (Baby-Schutz-Crème, Vaseline, Puder). Bei Inkontinenzvorlagen sollte man auf einen Rücknässeschutz achten.

 

Menschen mit Blasenschwäche leiden in der Regel lange, bevor sie sich jemandem anvertrauen. Nicht selten ist die Apotheke ihre erste Anlaufstelle; eine individuelle einfühlsame Beratung trägt in dieser Situation, aber auch später wesentlich zum Therapieerfolg bei. So kann die Apotheke Menschen mit Blasenschwäche maßgeblich dabei helfen, neue Lebensfreude zu gewinnen. /

Literatur

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Chantal Schlatter studierte von 1997 bis 2002 Pharmazie an der Universität Basel. Nach praktischer Tätigkeit in der Apotheke fertigte sie von 2004 bis 2008 am Institut für Pharmakologie und Toxikologie des Universitätsspitals Basel unter Professor Dr. Stephan Krähenbühl ihre Dissertation an. Seitdem ist sie Mitglied der Pharmaceutical Care Research Group im Department Pharmazie der Universität und als Fachjournalistin tätig.

 

Dr. pharm. Chantal Schlatter

Juchstraße 3

CH-4324 Obermumpf

chantal.schlatter@unibas.ch

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