Pharmazeutische Zeitung online
Stau

Warten macht Stress

29.07.2013  12:43 Uhr

Von Sven Siebenand / Ob zu Ferienbeginn, vor Brückentagen oder einfach in der täglichen Rushhour wer hat sich noch nie Stoßstange an Stoßstange durch kilometerlange Autoschlangen gequält? Eines ist sicher: Staus setzen Grenzen, erzeugen Stress und erhöhen gesundheitliche Risiken.

Der bisher längste registrierte Stau ereignete sich im Jahr 2010 in China auf der Autobahn zwischen Peking und Lhasa. Über einen Zeitraum von sage und schreibe zehn Tagen ging auf mehr als 100 Kilometern Länge entweder nichts mehr oder das viel zitierte Schneckentempo war gleichzeitig auch die Höchstgeschwindigkeit. Ganz so schlimm ist es hierzulande nicht. Aber pro Jahr steht auch ein Bundesbürger durchschnittlich 58 Stunden im Stau, und alle Deutschen zusammen verbringen binnen eines Jahres rund 535 000 Jahre im Stau.

Experimente zeigen, dass bereits einige kurze Bremsvorgänge, die sich nach hinten addieren, genügen, um einen Stau auszulösen. Häufig reagieren Fahrer zu langsam und oft auch zu stark. Ursache des Staus aus dem Nichts ist also die Psyche des gewöhnlichen Autofahrers, so Dr. Maria Bellinger, Leiterin der psychosozialen Beratungsstelle beim Gesundheitsdienst des Auswärtigen Amts, auf einem Symposium für Reise- und Impfmedizin in Berlin.

 

Bei der Warterei im Stau wird eine klassische Stressreaktion angestoßen, teilt die Medizinerin gegenüber der Pharmazeutischen Zeitung mit. »Adrenalinausschüttung und dann das volle Programm«, so Bellinger. Die unfreiwillige Blockade werde vom menschlichen Gehirn als Bedrohungssituation interpretiert. So werde ein Kampf- und Fluchtverhalten aktiviert, das in der Enge des Fahrzeugs und der bestehenden Bewegungseinschränkung aber nicht umgesetzt werden kann. Vor allem Männer – unabhängig vom Alter – sind Bellinger zufolge betroffen. Speichel-Cortisol-Messungen im dichten Verkehr und im Stau haben bei ihnen einen etwa siebenfach höheren Anstieg als bei Frauen ergeben (60 Prozent Erhöhung versus 9 Prozent).

 

Für den Körper hat der Stress im Stau psychische und physische Konsequenzen. So reagiert der Mensch im Stau nicht nur mit Gereiztheit, Panik oder Angst, sondern auch mit Blutdruck- und Herzfrequenz-Anstieg, Muskelverspannung und Schwitzen. Im Vergleich zum fließenden Verkehr verdreifacht sich im Stau das Risiko, einen Herzinfarkt zu erleiden, so Bellinger. Die Medizinerin betont zudem typische Folgen auf der Verhaltensebene, wie vermehrtes Rauchen, Streit mit den Beifahrern, waghalsige Ausweichmanöver oder aggressiven Fahrstil nach Stauende.

 

Mitrollen oder umfahren

 

Nach ADAC-Untersuchungen kostet die Umfahrung eines Staus meist genauso viel Zeit wie das Stehen im Stau, so Bellinger. Das Hilflosigkeitsgefühl sei aber geringer, da sich das Fahrzeug wieder bewegt. Umfahren oder nicht? Oft stellt sich einem die Frage nicht. Ob man will oder nicht, es gibt oft keine Möglichkeit mehr, dem Stau zu entkommen. Wie sollte man sich dann verhalten oder wie kann man sich auf potenzielle Staus vorbereiten?

 

Bellinger rät dazu, im Auto stets Essen und Getränke, warme Kleidung, Hygieneartikel und insbesondere für Kinder Unterhaltungsstoff dabei zu haben. Ferner empfiehlt sie, ruhige Musik zu hören oder zu singen und auf den Verkehrsfunk zu achten, da Information die Unsicherheit verringert. Zudem sollten sich im Stau Stehende den Termindruck nehmen, indem sie entweder Reserven einplanen oder frühzeitig Termine absagen.

 

Bellinger verweist auch auf die Existenz von Stauberatern, die mit Motorrädern und Sonderrechten ausgestattet, im Stau durch die Mittelgasse fahren dürfen, um Wartenden gut zuzureden, Trinken und Spielsachen verteilen oder zum Beispiel über die Staulänge oder Ausweichempfehlungen zu informieren. Allein die Information über die Staulänge hat schon eine beruhigende Wirkung. /

Quelle

Vortrag »Hilfe, ich steh im Stau – wenn Reisen zur Qual wird« von Dr. Maria Bellinger, Gesundheitsdienst Auswärtiges Amt, beim 17. Symposium Reise- und Impfmedizin des Auswärtigen Amts, Berlin

Mehr von Avoxa