Es liegt was in der Luft |
12.07.2016 10:05 Uhr |
Von Cornelia Dölger / Der Mensch hat nie besser gerochen als heute – und dies im doppelten Sinn: In keinem anderen Stadium seiner Entwicklung besaß er eine feinere Nase als jetzt, und gleichzeitig unternahm er noch nie so viel dafür, möglichst frisch und angenehm zu duften. Dennoch genießt das Riechen im Reich der Sinne keinen besonders hohen Stellenwert – völlig zu Unrecht.
Süßer Kuchen, erdiges Laub, Sommerregen auf warmem Asphalt: Düfte und Gerüche begleiten uns in unserem Alltag praktisch ununterbrochen. Sie können betören, verstören und anregen, und fast immer verbinden wir sie mit Erinnerungen und Gefühlen. Dennoch landet unsere Geruchswahrnehmung in der Rangliste der menschlichen Sinne weit abgeschlagen hinter Hören und Sehen. Wir achten kaum auf das, was die Nase uns mitteilt.
Düfte und Gerüche helfen nicht nur dabei, sich in der Umwelt zurechtzufinden, sie könnten vielleicht sogar Krankheiten bekämpfen.
Foto: Photocase/rolleyes
Dabei weisen bereits die Gene darauf hin, welchen Wert der Körper dem Riechen beimisst: Etwa zwei Prozent des menschlichen Genoms sind für Riechrezeptoren reserviert. Sie bilden damit die größte Genfamilie. »Wenn wir uns vor Augen führen, wie hart umkämpft jeder Genplatz ist, können wir hieraus die Bedeutung erschließen, die das Riechen hat«, erklärt der Bochumer Zellphysiologe Hanns Hatt, der zu den bekanntesten Geruchsforschern in Deutschland zählt.
»Der Neandertaler hat bereits etwa genau so viele Gerüche und Düfte wahrgenommen wie wir«, sagt Hatt. Das Genom des Urmenschen unterscheide sich hierin von unserem nur unwesentlich. Zu dessen Lebzeiten hatte das Riechen lebenswichtige Funktionen: Es ging darum, Nahrung zu finden, frische von verfaulter zu unterscheiden, Gefahren durch Feuer oder Gase zu bemerken und zu erkennen, welcher Artgenosse als Sexualpartner am besten geeignet ist. Der individuelle Körperduft, basierend auf unseren Genen, wirkte dabei als Informationsquelle für das jeweils andere Geschlecht – ein Vorgang, der uns bis heute unbewusst in unserer Partnerwahl beeinflusst. Menschen, deren Gene sich möglichst stark von unseren eigenen unterscheiden – und damit deren Körperduft –, erscheinen uns besonders attraktiv. »In der Evolution ein bewährtes Prinzip, den passenden Partner zu finden, auch um Inzucht zu vermeiden«, erklärt Geruchsforscher Hatt.
Hochleistungsorgan
Wir schenken dem Riechen insgesamt kaum mehr Aufmerksamkeit. Dabei prägen die unterschiedlichen Geruchsvorlieben sogar unsere Persönlichkeit mit. »Diese Präferenzen sind nicht angeboren, sondern allesamt erlernt oder anerzogen«, erklärt Hatt. Gerüche zu registrieren und zu bewerten, ist also auch das Ergebnis sozialer Interaktion, eben weil es nichts anderes ist als die ungefilterte Wahrnehmung unserer Umwelt.
Nicht ohne Grund ist unsere Nase ein echtes Hochleistungsorgan: Vor wenigen Jahren stuften Forscher der Rockefeller University in New York ihre ohnehin hohe Potenz noch einmal deutlich höher ein. Bis dato war man davon ausgegangen, dass die Nase etwa 10 000 Gerüche unterscheiden kann. Tatsächlich seien es aber mindestens eine Billion, schrieben die Wissenschaftler 2014 im Fachjournal »Science«. Stimmen ihre Hochrechnungen, würde dies bedeuten, dass unsere Nase um ein Vielfaches mehr Sinneseindrücke wahrnehmen kann als Augen und Ohren zusammen.
Kein Entkommen
Dem Riechen zu entkommen, ist also unmöglich, denn so lange wir atmen, riechen wir. »Mit jedem Atemzug nehmen wir Gerüche auf, die Nase schläft nie«, sagt Hatt. Und die Luft können wir nicht allzu lange anhalten. »Zudem gibt es auf der Welt schlichtweg keinen duftfreien Raum«, sagt Hatt.
Das Problem ist allerdings: Viele Gerüche wollen wir gar nicht aufnehmen. Stinken und müffeln – das ist vielen ein Graus. Entsprechend wenig wollen wir von unserem eigenen – angeborenen – Körpergeruch preisgeben und gehen mit Parfum, Deo oder Rasierwasser dagegen vor. »Indem wir unseren eigenen Geruch überdecken, wollen wir uns attraktiver machen und uns vom Tierreich abgrenzen«, sagt Hatt.
Mit dieser geradezu ignoranten Haltung gegenüber unserem unmittelbarsten Sinn (siehe Kasten) beabsichtigen wir die größtmögliche Distanz zu jenen Lebewesen zu schaffen, die sich durch ständiges Schnüffeln und ausgeprägtes Instinktverhalten auszeichnen. Bei Tieren dominieren die Triebe, bei Menschen der Verstand, erklärt Hatt. »Unbewusst stellen Düfte für uns eine Gefahr dar, denn sie werden mit Kontrollverlust assoziiert.« Eigentlich bedauerlich, denn: »Würden wir uns beschnüffeln lassen, könnten wir uns deutlich leichter im sozialen Umfeld zurechtfinden.«
Wenn wir riechen, nehmen wir unsere Umwelt ungefiltert wahr. Duftmoleküle erreichen die Riechschleimhaut in unserer Nase, wo bis zu 30 Millionen Riechzellen mit etwa 400 verschiedenen Rezeptoren sitzen, die jeweils auf bestimmte Duftstoffe spezialisiert sind. Die Riechzellen leiten nach Erregung durch einen Duft über feine Fortsätze Stromimpulse in den Riechkolben (Bulbus olfactorius) und von dort weiter ins Gehirn. Zwei Nerven, der Olfaktorius und der schmerzempfindliche Trigeminus, sind dafür zuständig, das Riechen zu steuern und Gerüche zu unterscheiden. Anders als beim Sehen oder Tasten passieren die Geruchsinformationen im Gehirn nicht erst den Thalamus, also die Schaltzentrale, sondern landen unzensiert im limbischen System. Hier, im ältesten und primitivsten Gehirnareal, werden auch Emotionen und Erinnerungen gespeichert und verarbeitet. Die Kopplung von Gefühlen und Geruchssignalen ist der Grund, weshalb die menschliche Erinnerung eng mit Düften und Gerüchen verknüpft ist. Nicht ohne Grund spricht man häufig von einem »Geruchsgedächtnis«.
Bücher von Duftforscher Hanns Hatt:
Orientierungssinn
Sich zurechtfinden heißt Veränderungen wahrnehmen zu können. Der Geruchssinn hilft dabei. Beispiel Parfümerie: Dort ist die Luft geschwängert vom Duft tausender Wässerchen, Öle und Lotionen. Unsere Geruchsumwelt verändert sich also, sobald wir das Geschäft betreten. Die Nase signalisiert dies sehr deutlich. Sobald wir beginnen, an Parfumpröbchen zu schnuppern, übersättigen wir die Nase nach und nach, sodass spätestens aus dem dritten Flakon nur noch ein Duftbrei zu strömen scheint. Die Nase gewöhnt sich an die immer neuen Düfte und hat damit ihre Aufgabe erfüllt: Sie hat die Veränderung wahrgenommen, zum neuen Normalzustand erklärt und schaltet sich ab. Um diesen Effekt zu neutralisieren, hilft dann nur noch, am bereitgestellten Glas mit Kaffeebohnen zu schnüffeln.
Etwa fünf Prozent der Menschen in Deutschland können überhaupt nicht (mehr) riechen. Sie leiden – aufgrund eines Unfalls, einer Krankheit oder aus genetischen Gründen – an der sogenannten Anosmie. Der Zustand kann vorübergehend sein oder dauerhaft – in jedem Fall schränkt er stark ein. »Vor allem die Tatsache, dass der eigene Körpergeruch nicht wahrgenommen werden kann, verunsichert die Betroffenen«, sagt Hatt. Die Folge könne etwa sein, dass Menschen ohne Geruchssinn Waschzwänge entwickeln oder sich in Gesellschaft unwohl fühlen, weil sie nicht beurteilen können, ob und wie stark sie riechen. Laut Sozialgesetzbuch gilt Anosmie ab einem gewissen Grad als Behinderung – allerdings auf derselben Ebene wie zum Beispiel der Verlust des kleinen Fingers.
Geschmackssache
In unserer alternden Gesellschaft wächst eine weitere Gruppe heran, deren Riechfähigkeit im Schwinden begriffen ist: die der Über-70-Jährigen. »Bei einem Drittel der Senioren geht der Geruchssinn nach und nach gegen null«, erklärt Mediziner und Biologe Hatt. Wie Sehen und Hören lasse der Geruchssinn mit zunehmendem Alter nach – allerdings meist unbemerkt. Die eigene Riechfähigkeit einzuschätzen sei schwer, da es dafür weder Test- noch Hilfsmittel gibt. »So ist vielen nicht bewusst, dass ihnen schleichend ein Sinn abhandenkommt.«
Wenn sich etwa ein älterer Mann darüber beschwere, das von seiner Frau zubereitete Essen sei nicht mehr so schmackhaft wie früher, liege dies nur in den seltensten Fällen tatsächlich an mangelnder Kochkunst: »Er kann nicht mehr gut riechen und also nicht mehr gut schmecken, denn Schmecken ist eigentlich Riechen«. Beim Zerkauen der Nahrung wird Luft nach oben in die Nase gedrückt und man riecht die Aromen des Essens im Mund. Ohne Geruchssinn also kein Appetit.
Zellforscher Hatt weiß auch um die Bedeutung der Düfte für die Medizin. »Sie haben zweifelsohne viele pharmakologische Effekte«, erklärt er. Über die Nahrung oder die Haut aufgenommen, könnten sie die Eigenschaften der Zelle verändern. Nicht nur in der Nasenschleimhaut, sondern im gesamten Körper finden sich demnach Riechrezeptoren, selbst in Krebszellen sind sie nachweisbar, wie Hatt und sein Bochumer Team zu Beginn dieses Jahres im Journal »Archives of Biochemistry and Biophysics« schrieben. Die Wissenschaftler entschlüsselten, wie Zitrusduft in ätherischen Ölen die Physiologie von Leberkrebszellen beeinflusst. »Er kann die Riechrezeptoren dazu bringen, das Wachstum der Zelle zu hemmen«, erklärt Hatt. Diese bildeten in dem molekularen Mechanismus entscheidende Schaltstellen. Ähnliche Effekte seien auch bei Veilchenduft gegen Prostatakrebs oder Sandelholz gegen Blutkrebs nachweisbar. Auch Herzaktivität und Wundheilung ließen sich durch Düfte beeinflussen.
Gesellschaftliches Tabu
Gut zu riechen, spielt eine große gesellschaftliche Rolle. So gehört nicht nur regelmäßige Körperhygiene zum guten Ton, sondern auch, sich mit künstlichem Duft zu bestäuben. Wer es anders macht, läuft Gefahr, für seltsam gehalten zu werden. Es sei denn, er geht in die Offensive wie vor einigen Jahren die Autorin Charlotte Roche. Ihr erster Roman »Feuchtgebiete« platzte vor stinkender Körperlichkeit – und führte über Wochen die deutschen Literatur-Charts an. Dreck, Gestank, Sex, Schmerz in allen Ausprägungen: Was sonst oft ein Tabu ist, entwickelte sich bei Roche zum Faszinosum. Das Buch wurde zum Bestseller des Jahres 2008. /