Böser Bube Johanniskraut |
13.07.2016 09:02 Uhr |
Von Annette Mende / Johanniskraut-Extrakte können bekanntlich durch Enzyminduktion die Bioverfügbarkeit anderer Arzneistoffe herabsetzen. Wer daraus allerdings schließt, dass pflanzliche Arzneimittel generell interaktionsträchtig sind, liegt falsch. Abgesehen vom bösen Buben Johanniskraut sind gängige Phytopharmaka interaktionsmäßig Unschuldslämmer, auch wenn In-vitro-Daten mitunter anderes vermuten lassen.
Phytopharmaka sind Vielstoffgemische und unterscheiden sich damit grundsätzlich von Medikamenten, die lediglich einen chemisch definierten Arzneistoff enthalten. In-vitro-Untersuchungen etwa zum Metabolismus und zur Induktion beziehungsweise Hemmung von Enzymsystemen erlauben bei Letzteren eine relativ genaue Vorhersage des Interaktionspotenzials.
Hypericum perforatum
Foto: Fotolia/M. Schuppich
Bei pflanzlichen Arzneimitteln ist das dagegen nicht möglich, wie Dr. Matthias Unger, Referent am Institut für Lebensmittelchemie und Arzneimittelprüfung in Mainz, in der aktuellen Ausgabe der Fachzeitschrift »Pharmakon« ausführt.
In-vivo-Studien notwendig
Ob beziehungsweise wie stark Phytopharmaka die Bioverfügbarkeit anderer Arzneistoffe beeinflussen, muss in speziellen Studien untersucht werden. Dabei kann entweder das Phytopharmakon zusammen mit einem anderen Arzneistoff Probanden gegeben und nach einer gewissen Zeit dessen Plasmakonzentration ermittelt werden. Eine Alternative ist das sogenannte In-vivo-Phenotyping mittels prototypischer Substrate. Dabei wird das Phytopharmakon mehrere Tage lang zusammen mit einem Stoff gegeben, der für ein bestimmtes metabolisches Isoenzym beziehungsweise einen Arzneistofftransporter selektiv ist.
Crataegus monogyna
Foto: Imago/Imagebroker
Eine solche Substanz ist zum Beispiel das Benzodiazepin Midazolam, das von Cytochrom-P-450 (CYP)3A4 zu 1’-Hydroxymidazolam umgewandelt wird. Anhand des Verhältnisses der Muttersubstanz zu dem Metaboliten lässt sich dann die CYP3A4-Aktivität ableiten. Pharmakokinetische Interaktionen werden in Dünndarm und Leber vor allem über CYP-Enzyme, aber auch über die Transporter P-Glykoprotein (P-gp) und organische Anionentransport-Polypeptide (OATP) vermittelt (siehe Grafik).
Von den CYP-Isoenzymen am stärksten exprimiert wird das wenig substratspezifische CYP3A4. Zusammen mit P-gp, das als Effluxtransporter Arzneistoffe aktiv aus dem Inneren von Enterozyten ins Darmlumen zurückschleust, ist es für die geringe Bioverfügbarkeit vieler Arzneistoffe verantwortlich. OATP1A2 und OATP2B1 fungieren im Dünndarm als Schleusentore in die andere Richtung; sie transportieren Arzneistoffe aktiv in die Enterozyten hinein. Eine Hemmung von P-gp führt demnach zu einer Erhöhung der Bioverfügbarkeit von Substraten dieses Transporters; eine Hemmung von OATP1A2 beziehungsweise OATP2B1 im Dünndarm hat einen gegenteiligen Effekt.
Echinacea purpurea
Foto: Klosterfrau Gesundheitsservice
Zubereitungen aus dem Kraut von Hypericum perforatum sind von allen Phytopharmaka mit großem Abstand die stärksten CYP- und P-gp-Induktoren. Der Effekt tritt nach wenigen Tagen Einnahme auf und kommt durch Bindung von Hyperforin an den Pregnan-X-Rezeptor (PXR) zustande. Die Johanniskraut-Inhaltsstoffe Hyperforin, Hypericin und I3,II8-Biapigenin sind in vitro zwar ausgeprägte CYP-Hemmer, das spielt aber klinisch angesichts der sehr starken, über den PXR-Liganden Hyperforin vermittelten CYP- und P-gp-Induktion keine Rolle.
Hyperforin-Gehalt entscheidend
In diversen Studien konnte gezeigt werden, dass die gleichzeitige Einnahme von Johanniskraut-Präparaten die AUC von CYP- beziehungsweise P-gp-Substraten stark verringert. Betroffene Arzneistoffe sind etwa das Herzglykosid Digoxin, der Lipidsenker Simvastatin, der Protonenpumpenhemmer Omeprazol, die Immunsuppressiva Ciclosporin und Tacrolimus, das Antidiabetikum Gliclazid und SN-38, der aktive Metabolit des Zytostatikums Irinotecan.
Zu beachten ist, dass das Johanniskraut-Präparat Esbericum® in Studien die Bioverfügbarkeit unter anderem von Digoxin nicht beeinflusste, was vermutlich am sehr niedrigen Hyperforin-Gehalt dieses Phytopharmakons liegt.
Valeriana officinalis
Foto: Imago/Christian Ohde
Daneben wurden von den in Europa zugelassenen Phytopharmaka vor allem Zubereitungen aus Weißdornblättern und -blüten (Crataegus monogyna beziehungsweise oxyacantha), Sonnenhut (Echinacea purpurea), Baldrianwurzel (Valeriana officinalis), Mariendistelfrüchten (Silybum marianum) und Ginkgoblättern (Ginkgo biloba) auf ihr Interaktionspotenzial untersucht.
Im Fall des Weißdorns konnte anhand des P-gp-Substrats Digoxin gezeigt werden, dass Crataegus-Präparate höchstwahrscheinlich keine P-gp-vermittelte Interaktion verursachen. Beim Sonnenhut bedienten sich Forscher des In-vivo-Phenotypings etwa mittels Midazolam und konnten so nachweisen, dass das untersuchte Echinacea-Präparat die Aktivität der CYP-Enzyme nicht relevant beeinflusste. Baldrian erhöhte in einer Studie die AUC des CYP3A4-Substrats Alprazolam, nicht jedoch die des CYP3A4- und CYP2D6-Substrats Dextromethorphan.
Silybum marianum
Foto: Fotolia/M. Schuppich
Da die AUC-Erhöhung von Alprazolam statistisch nicht signifikant war und zudem in einer weiteren Studie keine signifikante Veränderung der Aktivität von CYP1A2, CYP2D6 und CYP3A4 durch Baldrian gezeigt werden konnte, geht Unger davon aus, dass dieser Effekt klinisch keine Relevanz hat.
Silybin, der Hauptinhaltsstoff von Mariendistelfrüchten, ist in vitro ein starker und irreversibler Hemmer von CYP2C9 und CYP3A4. In vivo führte das jedoch in einer Studie nur zu einem vernachlässigbaren Anstieg der Bioverfügbarkeit des CYP3A4-Substrats Nifedipin.
Auch beim Irinotecan und dessen wirksamem Metaboliten SN-38 zeigte sich in einer Studie mit sechs Krebspatienten keine klinisch relevante Beeinflussung der Pharmakokinetik, obwohl das aufgrund der in vitro beobachteten Hemmung der Glucuronosyltransferase UGT1A1 zu erwarten gewesen wäre.
Ginkgo biloba
Foto: Fotolia/Profotokris
Allerdings stieg in einer weiteren Studie die AUC des AT2-Antagonisten Losartan, während die des stärker blutdrucksenkenden Metaboliten E-3174 sank. Eine abschließende Bewertung des CYP-vermittelten Interaktionspotenzials von Mariendistel-Präparaten ist daher laut Unger noch nicht möglich.
Wie bei der Mariendistel lässt sich auch beim Ginkgo eine in vitro beobachtete CYP-Hemmung nicht ohne Weiteres auf die In-vivo-Situation übertragen. Die in Ginkgoblättern enthaltenen Flavonoide reduzieren in vitro die Aktivität von CYP1A2, CYP2C9 und CYP3A4. In den im Handel befindlichen Ginkgo-Spezialextrakten sind diese jedoch größtenteils abgereichert.
Ginkgo-Präparate seien deshalb hinsichtlich ihrer hemmenden Aktivität gegenüber CYP-Enzymen nicht mit alkoholischen Ginkgoblatt-Extrakten vergleichbar, so Unger. In vivo habe noch in keiner Studie eine klinisch signifikante CYP-vermittelte Interaktion mit Ginkgo-Präparaten gezeigt werden können. /
Evidenzbasierte Phytotherapie ist der Themenschwerpunkt der aktuellen Ausgabe von »Pharmakon«, der Zeitschrift für Mitglieder der Deutschen Pharmazeutischen Gesellschaft (DPhG). Sie enthält neben dem hier vorgestellten Beitrag von Dr. Matthias Unger unter anderem Artikel über die Geschichte der Heilpflanzen, Extrakte und gesetzliche Grundlagen. »Pharmakon« erscheint sechsmal jährlich. Jede Ausgabe hat einen inhaltlichen Schwerpunkt, der in mehreren Beiträgen aus unterschiedlichen Perspektiven aufbereitet wird. Ein kostenloses Abonnement ist in der DPhG-Mitgliedschaft inbegriffen. Die Zeitschrift ist auch als Einzelbezug erhältlich. Weitere Informationen finden Interessierte auf www.pharmakon.info.